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Meine 27 Tattoos helfen mir, mit meinen chronischen Schmerzen zu leben

Foto: Maryam Wahid.
In meinem Leben gibt es zwei Arten von Nadeln. Die erste begegnet mir in Krankenhäusern oder Arztpraxen – in Form einer Spritze, die gebraucht wird, um mein Blut zu testen. Um herauszufinden, wieso meine Knochen immer so wehtun und wieso mein Körper mitten am Tag einfach einschläft.
Laut der Mediziner:innen, die mir genau deswegen monatlich neues Blut abnehmen, sind meine Venen wirklich schwer zu finden. Mein Körper hat offenbar keine Lust auf die Spritzen, und während mir die Nadel wieder und wieder in die Ellenbeuge gesteckt wird, breiten sich dort blaue Flecken aus. Wenn ich mal wieder spätnachts in der Notaufnahme lande – meistens mehrmals pro Jahr –, beschweren sich die Angestellten beim vergeblichen Versuch, mir eine Kanüle in den Handrücken zu piksen. Hör auf, so zu zucken, sagen sie. Stillhalten, bitte, sagen sie. Wenn diese Art von Nadeln in meine Haut eindringen, schaue ich meistens weg. All das macht mich zu einer ziemlich schwierigen Patientin.
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Dann gibt es da aber auch noch die andere Art von Nadel – und die tue ich mir absichtlich an. Sobald das Geräusch der Tätowiermaschine erklingt, konzentriere ich mich auf den Gesang der Nadeln, während sie mir Tinte in die Haut stechen. Ich atme erleichtert auf, sobald es beginnt zu brennen. Die Tattoo Artists sagen mir, ich sei sehr gut darin, selbst an den schmerzhaftesten Stellen stillzuhalten. Tattoos sind meine Therapie, mein Schmerzmittel, meine Form von Selbstbestimmung.
In den letzten fünf Jahren habe ich unzählige Stunden in Krankenhäusern verbracht, auf der Suche nach Hilfe für meine diversen chronischen Krankheiten. Mir wurde schon erklärt, was mit mir nicht stimmt, was in mir nicht funktioniert, und wie wenig Hoffnung ich mir auf eine Lösung oder ein Heilmittel machen sollte. So lange komme ich mir genau deswegen schon wie eine völlig dysfunktionale Ansammlung von Knochen vor. In den Krankenhäusern fühlt sich mein Körper wie der Feind an, den ich bekämpfen muss.
Wenn du mit kontinuierlichen Schmerzen lebst, würde dir vielleicht erstmal nicht einfallen, dir gezielt weitere Schmerzen zufügen zu lassen. Tatsächlich investiere ich aber genau darin viel Zeit und Geld. Mein neuestes Tattoo – zwei Mädchengesichter auf meiner Oberschenkelrückseite – ließ ich mir am Tag nach einem weiteren Ausflug in die Notaufnahme stechen. Diesen Schmerz hatte ich mir selbst ausgesucht; ich ließ ihn freiwillig in mein Leben. Ich wollte ihn, und genau das machte ihn so besonders.
Meinen Körper zieren aktuell 27 Tattoos. Sie bedecken meine Füße, meine Kniebeugen, und die Vorderseiten meiner Oberschenkel. Sie erstrecken sich über meine Rippen, meine Hand- und Fußgelenke. Es sind Blumen, Tiere, alberne Comics, sowie Insiderwitze mit meinem Freund, Versprechen mit meiner besten Freundin, ein Mumin für meine Mutter und eine Blumenvase für meine Großeltern. Ich sammle Tattoos, als seien es Postkarten voller Erinnerungen und Erlebnisse. Größtenteils sind die Tattoos aber meine Art, mir meinen Körper zurückzuholen – und Beweise dafür, dass er mir gehört.
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Ich verbringe vermutlich genauso viel Zeit in Wartezimmern wie mit dem Scrollen am Handy im Bett, und bei beidem fiel mir irgendwann auf, dass viele andere kranke Leute ebenfalls tätowiert sind. Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr Sinn ergab das für mich.
Die 28-jährige Augustine zum Beispiel lebt mit Endometriose. Die Krankheit verursacht ihr jeden Tag lähmende Schmerzen, und auch sie empfindet den Schmerz beim Tätowieren als dringend nötige Ablenkung. Noch dazu ist es für sie ein befriedigendes Gefühl, dass zumindest dieser Schmerz ein Ende hat. „Freiwillig gewählter Schmerz ist immer schön“, sagt sie. „Tattoos tun nicht ansatzweise so weh wie eine chronische Krankheit. Dieser sanftere, konzentriertere, konstante Schmerz ist also eine gute Ablenkung.“
Das Leben mit einer chronischen Erkrankung bedeutet oft regelmäßige Untersuchungen, Behandlungen und Operationen, die meist außerhalb deiner Kontrolle liegen. Das kennt auch Alice Wong, Aktivistin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. In ihrem Buch Year of the Tiger: An Activist’s Life von 2022 schreibt sie über die Medikalisierung von behinderten Körpern: Um am Leben zu bleiben, sind wir von diversen Medikamenten, Maschinen und/oder medizinischen Einrichtungen abhängig – doch bekommen wir in den verletzlichen Momenten, die ein solches Leben mit sich bringt, nur selten Mitgefühl. Andere betrachten uns stattdessen als Krankheiten, die es zu heilen gilt. Als gesichtslose Probleme, die gelöst werden müssen.
Das empfinde auch ich in meinem Körper so. Wenn ich mich von einer Operation erhole, fällt es mir sehr schwer, mich überhaupt wie die „Besitzerin“ dieses Körpers zu fühlen. „Besitzerin“ impliziert nämlich, ich hätte die Macht darüber, selbst zu entscheiden, was mir passiert – und was nicht. In Krankenhäusern und im Gesundheitssystem generell ist das aber oft nicht so. Anstatt den Eindruck zu haben, ich und die Ärzt:innen seien ein Team, das gemeinsam gegen meine Schmerzen vorgeht, fühle ich mich von ihren Empfehlungen und Behandlungen oft gegaslightet, weil mir nur so selten zugehört wird. Stattdessen höre ich oft ihre rücksichtslosen Kommentare – von denen ich mir manchmal nicht sicher bin, ob sie überhaupt mitbekommen, dass sie sie von sich geben.
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Der 30-jährigen Lauren geht es genauso. „Meine chronische Krankheit hängt untrennbar mit sexuellen Traumata zusammen“, erzählt sie. „Mehrere traumatische Erlebnisse haben in mir eine posttraumatische Belastungsstörung ausgelöst. Deswegen ist es unheimlich schwer, mit den medizinischen Untersuchungen an denselben Körperstellen klarzukommen – sowie damit, wie mein Körper auf Schmerzen reagiert.“
Es dauerte über ein Jahrzehnt, bis sie ihre Endometriose-Diagnose bekam, und die Erfahrungen, die sie während dieser Zeit mit ihren Ärzt:innen machte, waren teilweise furchtbar, erzählt sie. „Letztes Jahr wurde meine Mutter nur ein paar Minuten vor meiner Endometriose-OP gefragt, ob sie denn meinte, dass das wirklich eine gute Idee sei. Da wurde mir klar: Meine Ärztin glaubte nicht, dass es mir wirklich so schlecht ging, wie ich behauptete“, erinnert sie sich. „Es ist ein ziemlich bizarres Gefühl, in dem Wissen unter Narkose gesetzt zu werden, dass jemand, die weder dich, noch deine Ansichten oder Gefühle respektiert, gleich deine inneren Organe berührt.“
Ich selbst empfinde die Erfahrung einer chronischen Krankheit oft als doppelten Schmerz: Da sind einerseits die chronischen Schmerzen, mit denen du leben musst, andererseits aber auch die emotionalen Schmerzen, die dir dort begegnen, wo man dir eigentlich helfen sollte. Die Tattoos können dabei helfen, diese emotionalen Narben zu heilen.
Lauren erklärt das so: „Es fühlt sich für mich fast so an wie etwas, was ich tun muss, um meine Selbstbestimmung wiederzugewinnen, nachdem ich eine Weile in einem Körper gelebt habe, der ohne meine völlige Zustimmung immer wieder medizinisch behandelt wird.“
Die Tattoo Artist Georgina Langford ist Mitbegründerin des feministischen Tattoo-Studios The Dollhouse im englischen Brighton und weiß, dass diese Zustimmung zu den Schmerzen auch beim Tätowieren unheimlich wichtig ist. „Ich und die Künstler:innen, mit denen ich arbeite, praktizieren hier ganz bewusst informierte Zustimmung. Das fängt schon mit dem ersten Treffen der Kund:innen an und zieht sich durch die gesamte Session“, sagt sie. „Im Laufe des Termins frage ich immer wieder nach, wie es meinen Kund:innen geht: Wie sind die Schmerzen, wie viel Energie haben sie noch? Ich ermutige sie auch dazu, Pausen zu machen. Insbesondere bei Kund:innen, die sich ihr erstes Tattoo stechen lassen, spreche ich gerne jeden Schritt einzeln durch, erkläre jede Chemikalie, die an ihre Haut kommt, und beschreibe, was genau ich wann mache.“
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Diese Art der offenen Kommunikation steht im starken Kontrast dazu, was im medizinischen Kontext oft passiert. Vor Kurzem hatte ich eine nervenblockierende Behandlung, die gegen meine endometriosebedingten Beckenschmerzen helfen sollten. Eine solche bilaterale ilioinguinale Nervenblockade ist ein relativ unkomplizierter Eingriff, der meist nicht länger dauert als 15 Minuten; wenn du aber in einem medizinischen Umfeld bereits traumatische Erlebnisse hattest, kann sich jeder Besuch im Krankenhaus wie ein unüberwindbarer Berg anfühlen. Ich war kaum im Behandlungszimmer angekommen, als mich der Arzt fragte, worauf ich denn wartete, und mich aufforderte, mir die Hose auszuziehen – in einem offenen Raum, in dem drei andere Angestellte herumstanden. Daraufhin erklärte er mir keinen einzigen Schritt des Eingriffs und warnte mich nicht vor, bevor eine zehn Zentimeter lange Nadel in meine Leiste eindrang. Ich verließ das Krankenhaus mit Symptomen, von denen mir vorher niemand etwas gesagt hatte, und erlebte daraufhin eine Panikattacke.
Genau deswegen ist es Langford in ihrem Studio so wichtig, ihre Kund:innen über alles aufzuklären, was mit ihnen passiert, und immer wieder nachzufragen, ob alles okay ist. „Dieses Verhalten hängt leider damit zusammen, wie ich selbst schon in Tattoo-Studios als Kundin behandelt wurde“, erzählt sie. „Dabei sollte sich natürlich jeder Mensch im eigenen Körper jederzeit sicher und respektiert fühlen. Das gilt vor allem für Situationen, in denen man nackt ist und Schmerzen hat.“ Ich würde mir Wünschen, dass meine Ärzt:innen diese Einstellung teilen würden.
Aber wieso hat körperliche Dekoration denn überhaupt die Fähigkeit, chronisch kranken Menschen wieder ein besseres Selbstgefühl zu verleihen? In ihrem Buch Health Communism beschreibt die Behinderungsaktivistin Beatrice Adler-Bolton den behinderten Körper als einen, der im Vergleich zu nicht behinderten Körpern als „weniger wert“ betrachtet wird. „Weil Produktivität in unserer kapitalistischen Gesellschaft als wertvollste menschliche Ressource gilt, werden kranke Menschen als überflüssig erachtet, weil sie ihren Wert nicht auf dieselbe Art unter Beweis stellen können.“ Dieser Ableismus zieht sich durch alle Bereiche unserer Gesellschaft. Den Körper mit Mustern zu verzieren, ihn einzigartig zu gestalten und damit auffälliger zu machen, ist daher eine Möglichkeit, sich gegen diese Rhetorik aufzulehnen, die von uns erwartet, wir sollten möglichst unauffällig bleiben und uns mit weniger zufrieden geben.
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Nach diesem Mindset lebt auch die 29-jährige Samneet, die unter Long COVID leidet. „In den letzten Jahren habe ich meinen Körper immer mehr mit Schmerzen verbunden“, erzählt sie. „Meine Tattoos sind da eine wichtige Erinnerung daran, dass mein Körper auch dazu imstande ist, mir große Freude zu machen.“ Augustine, die mit chronischen Schmerzen lebt, hält Tattoos ebenso für eine Möglichkeit des Selbstausdrucks und der Akzeptanz. „Tattoos helfen mir dabei, mich eher so zu fühlen, als würde dieser Körper tatsächlich mir gehören“, erklärt sie. „Sie verbinden die Teile von mir, die sich wirklich anfühlen wie meine – meine Vorlieben, meine Gedanken, meine Wünsche –, mit einem Körper, der oft nicht wirkt, als gehöre er mir.“
Weil es immer noch viele Krankheiten gibt, für die bisher kein Heilmittel erfunden wurde, und uns das medizinische System in vielen Fällen enttäuscht oder sogar schadet, ist der Wunsch nach alternativen Optionen der emotionalen Heilung wohl verständlich. Lauren erklärt das so: „In vielerlei Hinsicht ist es manchmal sogar effektiver als Behandlungen oder Medikamente, mich tätowieren zu lassen, meinen Körper zu dekorieren und die Schmerzen kontrollieren zu können, die er dabei erlebt.“ Und ich weiß genau: So lange, wie ich noch mit meinen chronischen Schmerzen leben muss, werde auch ich weiterhin nach Möglichkeiten suchen, in diesem Körper Freude, Selbstbestimmung und Frieden erleben zu können.
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