Mollig, 25, leidet an Herzrasen, Herzklopfen, starker Müdigkeit, Ohnmacht und Brain Fog. Dadurch ist sie nicht mehr in der Lage, über einen längeren Zeitraum zu stehen oder zu gehen, und sie kann weder Sport treiben noch anderen normalen Alltagsaktivitäten nachgehen. Erst nachdem sie ein Jahrzehnt lang mit diesen Symptomen gelebt hatte, nahmen die Ärzte sie ernst und diagnostizierten ihren Zustand. Mollie leidet an PoTS, dem posturalen Tachykardiesyndrom. Nach Angaben von Dr. Lesley Kavi, einer pensionierten Allgemeinmedizinerin, Treuhänderin und Vorsitzenden von PoTS UK, vergehen zwischen dem Auftreten der Symptome und der Diagnose von PoTS durchschnittlich sieben Jahre.
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PoTS ist eine Störung der Funktion des autonomen Nervensystems. Es kann eine Vielzahl von Symptomen verursachen, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Und es kann das Leben einer Person grundlegend beeinträchtigen.
Allie, 19, erzählt, dass ihr ständig schwindelig ist und sie sich atemlos fühlt, selbst bei einfachen Aktivitäten wie Treppensteigen. Sie findet es schwierig, ihr Arbeitspensum an der Universität zu bewältigen. Ihre Freund:innen verstehen das oft nicht. „Sie halten es für eine Kopfsache“, sagt sie. Tash, 19, ist ebenfalls Studentin und leidet seit sechs Jahren unter den Symptomen. „Es hat einen so großen Einfluss auf das Leben der Menschen“, sagt sie. Heute verbringt sie viel Zeit damit, „medizinische Dinge“ zu erledigen und „mit Leuten zu telefonieren“. „Ich glaube, niemand kann sich vorstellen, wie viel Verwaltungsarbeit mit einer chronischen Krankheit verbunden ist“, sagt sie.
Mollie arbeitet in Teilzeit als Influencerin und hörte zum ersten Mal von PoTS auf TikTok. „Ich hatte keine Ahnung, was das ist“, sagt sie, „und meine Freundin schickte mir ein Video von diesem Mädchen und schrieb: ‚Oh mein Gott, das bist du!‘“ Das Mädchen in dem Video war Kirby, eine 26-jährige Schauspielerin und Social-Media-Influencerin aus Kalifornien. Sie hatte TikTok genutzt, um ihre Symptome zu teilen: „Meine Herzfrequenz war die meiste Zeit über erhöht, ich fühlte mich so träge, ich fühlte mich so krank.“ PoTS wird diagnostiziert, wenn die Herzfrequenz eines Erwachsenen innerhalb von zehn Minuten im Stehen um mehr als 30 Schläge pro Minute ansteigt. Als Reaktion auf ihre Videos meldeten sich Hunderte von Frauen bei Kirby, die alle das Gleiche sagten: „Wurdest du auf PoTS getestet?“ Sie hatte noch nie von dieser Krankheit gehört, aber sie begann, selbst zu recherchieren: „Alle Symptome und alle Kriterien stimmten mit meinen Beschwerden überein.“
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Mollie und Kirby haben beide davon profitiert, dass PoTS auf TikTok viral ging, wo es Millionen von Videos junger Frauen gibt, die über ihre Symptome und Erfahrungen sprechen. Dr. Gregory Plotnikoff ist Mitglied des medizinischen Beirats der amerikanischen Organisation Standing Up To POTS und hat sich auf „komplexe, chronische, mysteriöse Krankheiten“ spezialisiert. Er sagt, dass soziale Medien mächtig sein können und bezeichnet die Verbreitung von PoTS-Informationen im Internet als eine Art „Bürger:innenwissenschaft“, eine „sehr mächtige neue Sache“.
Aber die sozialen Medien sind nicht nur für diejenigen hilfreich, die eine Diagnose benötigen, sondern bieten Menschen mit chronischen Krankheiten auch ein Gefühl der Gemeinschaft. „Ich will ja nicht dramatisch sein“, sagt Kirby, „aber TikTok hat mein Leben verändert. Wenn man etwas Medizinisches durchmacht, ist es so schön, das Gefühl zu haben, dass man ein Supportsystem hat.“ Diese Online-Gemeinschaft ist besonders wichtig, weil sie in traditionellen medizinischen Kreisen oft fehlt. Die Präsidentin und Gründerin von Standing Up To POTS, Cathy L. Pederson, sagt: „Diese Gemeinschaft hat jahrzehntelang darum gekämpft, dass jemand anerkennt, dass es uns überhaupt gibt.“
Zehn Jahre lang hörte Mollie von ihren Ärzt:innen, „es ist alles in Ordnung“. Immer wieder wurde ihr gesagt, sie sei „wahrscheinlich nur gestresst“ oder „Sie sind Vegetarierin, Sie müssen nur mehr Fleisch essen“. „Es war ein so langer Weg“, sagt sie. „Es fühlt sich an, als müssten Frauen einfach alles hinnehmen und die Klappe halten.“ Ihre Situation ist kein Einzelfall. Wie Mollie ging auch Tash wiederholt zu ihrem Hausarzt, nur um dort mit anderen Dingen abgespeist zu werden. Ärzt:innen meinten, sie könnte unter Eisenmangel oder Angstzuständen leiden: „Einer wollte mich zu einer Therapie schicken, und ich sagte nur: ‚Nein danke‘.“
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Wenn ich über etwas sprechen kann und es nur einer Person hilft, dann kann ich das Leben von jemandem verändern. Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden, aber durch TikTok kann ich jemand anderem das Gefühl geben, nicht verrückt zu werden.
KIRBY
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PoTS kann zwar Menschen jeden Alters und Geschlechts betreffen, aber Frauen sind bis zu viermal häufiger betroffen. Die Gründe dafür sind noch nicht ganz klar, aber laut Dr. Kavi könnte es entweder an Hormonen wie Östrogen liegen oder daran, dass viele Fälle von PoTS auf Probleme mit dem Immunsystem der Patient:innen zurückzuführen sind. Autoimmunerkrankungen sind aus verschiedenen hormonellen und chromosomalen Gründen ebenfalls häufiger bei Frauen anzutreffen.
Der systemische Sexismus in der Medizin ist hinreichend dokumentiert und wirkt sich auf alle Arten von Langzeiterkrankungen aus, von denen überwiegend Frauen betroffen sind, darunter Endometriose und chronische Harnwegsinfektionen. Bei PoTS verbindet sich dieser Sexismus mit einem weit verbreiteten Mangel an Verständnis für die Erkrankung unter Ärzt:innen. Im Jahr 2015 führte Dr. Kavi eine Umfrage unter britischen Hausärzt:innen durch und stellte fest, dass nur zehn Prozent von PoTS gehört hatten. Nach Angaben von PoTS UK wird 85 Prozent der Patient:innen gesagt, es sei „alles nur Einbildung“.
Es ist durchaus problematisch, aus einem Krankheitsbild einen Trend zu machen. Im Fall von PoTS könnten die Symptome Anzeichen für viele verschiedene Krankheiten sein, was Fehldiagnosen möglich macht. Wenn PoTS zum viralen Trend wird, könnte dies auch kontraproduktiv für Menschen sein, die tatsächlich mit dieser lebensverändernden Krankheit leben. In den sozialen Medien sind Ansichten und Kommentare eine Währung und, wie Allie es ausdrückt: „Manchmal hat man das Gefühl, dass die Leute darum wetteifern müssen, wer am kränksten ist.“ Auch Tash ist skeptisch. „Je extremer der Inhalt ist, desto mehr Aufrufe erhält man“, sagt sie, „und wenn meine Symptome nicht so schwerwiegend sind, habe ich das Gefühl, dass es nicht echt ist, dass ich es mir nur einbilde, dass es anderen schlechter geht und ich glücklich sein sollte.“ Auch wenn soziale Medien eine positive Rolle bei der Diagnose von PoTS spielen können, betonen alle in diesem Artikel genannten Personen, dass sie keine Selbstdiagnose gestellt haben – ihr Zustand wurde schließlich von einer medizinischen Fachkraft bestätigt. Selbstdiagnosen haben einen schlechten Ruf, und die Häufigkeit, mit der sich PoTS-Patient:innen in den sozialen Medien selbst identifizieren, birgt das Risiko, die Krankheit insgesamt zu delegitimieren.
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Diese Bedenken sind berechtigt, aber auch die Erfahrungen von Frauen, die im Internet wichtige Unterstützung, Gemeinschaft und Informationen über ihre Krankheit gefunden haben. Kirby sagt: „Wenn ich über etwas sprechen kann und es nur einer Person hilft, dann kann ich das Leben von jemandem verändern. Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden, aber durch TikTok kann ich jemand anderem das Gefühl geben, nicht verrückt zu werden.“
Social Media Creators ziehen Ärzt:innen zur Rechenschaft, demokratisieren medizinische Informationen, entstigmatisieren Krankheiten, setzen sich für eine bessere Unterstützung von Menschen mit chronischen Krankheiten ein. Sie könnten – auch, weil so viele Ärzt:innen inzwischen selbst in sozialen Medien aktiv sind – medizinisches Fachpersonal über unzureichend untersuchte Krankheiten unterrichten und der Stimme der Patient:innen Gehör verschaffen.
Für manche Menschen mit chronischen Krankheiten mag es hilfreich sein, endlich einen Namen für ihre Krankheit zu finden, aber eine wirksame Behandlung kann weiterhin schwer zu erreichen sein. Die Situation bei PoTS ist etwas anders. Zwar gibt es derzeit keine Heilung für PoTS, aber es stehen gute Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Einer der frustrierendsten Aspekte bei einer PoTS-Diagnose ist die Tatsache, dass die Krankheit, wenn sie einmal diagnostiziert ist, relativ gut behandelt werden kann. Seit ihrer Diagnose haben Medikamente Mollies Lebensqualität enorm verbessert, und Kirby konnte ihre Symptome durch eine veränderte Ernährung und Lebensweise wirksam in den Griff bekommen.
Mollies Medikamente haben zwar einen großen Unterschied gemacht, es ginge ihr wirklich gut und „sie haben wirklich sehr geholfen“, aber sie ist frustriert, dass es so lange gedauert hat, bis sie die nötige Unterstützung von den Ärzt:innen bekam. „Es ärgert mich“, sagt sie, „denn ich denke, wenn ich den Termin vor fünf Jahren bekommen hätte, hätte man mir die Medikamente schon vor fünf Jahren geben können, und ich hätte mich schon vor langer, langer Zeit besser fühlen können.“
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