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„Ich habe Mädchen beschnitten & heute schäme ich mich dafür“

Foto: Edith Lu00f6hle.
Ich kann mich noch genau an die Gefühle erinnern, die ich hatte, als ich das Buch „Wüstenblume” von Waris Dirie las. Ich war wütend, traurig, fassungslos, sogar Tränen sind an manchen Stellen geflossen. Auch die Verfilmung tat weh und verdeutlichte noch einmal, wie grausam die Tradition der Genitalverstümmelung ist. Fünfzehn Jahre später schießen mir diese Bilder wieder durch den Kopf, als ich auf Katima Muleta im äthiopischen Yanfa warte. Eine Frau, die mit einer schmutzigen Rasierklinge die Klitoris von zahlreichen jungen Mädchen abschnitt. Und ihnen damit nicht nur ein Stück Haut nahm, sondern auch die sexuelle Unbeschwertheit.
Wie kann eine Frau einem Kind solche Schmerzen zufügen? Wie kann sie es so misshandeln und seine Sexualität und Körperlichkeit für immer zerstören? Ich habe so viele Frage, doch versuche ich mich auf die journalistischen Grundsätze zu konzentrieren und meiner Gesprächspartnerin mit Offenheit zu begegnen. Die Organisation „Menschen für Menschen” hat mir das Treffen mit der ehemaligen Beschneiderin des Dorfes ermöglicht. Eine ziemlich besondere Sache, denn das ostafrikanische Gebiet ist streng muslimisch – und für eine religiöse Frau gehört es sich natürlich nicht, über Genitalien oder Sexualität zu sprechen.
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Eingehakt im Arm des religiösen Anführers ihres Dorfes betritt sie den Raum. Zwei Dorfberühmtheiten schütteln mir die Hand. Katima Muleta sieht nicht aus wie eine böse Frau, die den Körper von Kindern verletzt. Sie lächelt schüchtern und ihre Augen strahlen Wärme aus. Sie begrüßt mich auf amharisch. Da wir nicht dieselbe Sprache sprechen, kann ich mich komplett einlassen auf das, was sie ausstrahlt. Auf das, was ich fühle, als sie mir die Hand gibt. Sie hat ihr schönstes Kleid für das Treffen mit der weißen Journalistin aus Deutschland angezogen. Es ist dunkelgrün und hochgeschlossen, umwickelt von hellen Tüchern. Auch ihr Kopf ist bedeckt.
Als ich frage, wie alt sie sei, zuckt sie mit den Schultern. „Vielleicht 80", übersetzt die Dolmetscherin. „Oder 60". Ein bezeichnender Moment. Wer versucht, Afrika mit unserem Wertesystem zu verstehen, der wird kläglich scheitern. Woher soll eine Frau, die weder lesen noch schreiben gelernt hat, wissen wie alt sie ist? Warum sollte das für sie auch wichtig sein? Und woher soll sie wissen, dass es ein Gesetz in ihrem Land gibt, das Genitalverstümmelung verbietet?
Seit 2004 steht die Durchführung in Äthiopien unter Strafe. Zwischen drei Monaten und drei Jahren Haft und/oder ein Bußgeld in Höhe von 500 bis 1000 Birr (ca. 20 bis 40 €) sind aktuell Strafmaß. Doch zum einen wissen die Bewohner der Dörfer davon nichts, zum anderen sind viele nach wie vor der Überzeugung, sie handeln im Sinne der Religion, der Reinheit und der Moral.
Foto: Edith Lu00f6hle.
In Äthiopien gibt es über 70 ethnische Gruppen und je nach Glaube und Zugehörigkeit werden Mädchen im Alter zwischen zwei Tagen und 14 Jahren beschnitten. Es gibt die Klitoridektomie oder Sunna, die teilweise oder komplette Beschneidung der Klitoris. Bei der Exzision werden auch die kleinen Schamlippen abgeschnitten. Bei der pharaonischen Beschneidung oder Infibulation wird alles entfernt, oft auch noch die Scheide ausgeschabt und anschließend das Geschlecht bis auf ein streichholzgroßes Loch zugenäht.
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Als der Dorfälteste Katima vor Jahren als Beschneiderin des Dorfes auserwählte, hatte sie keine andere Wahl. Auch wenn der Beruf in der Dorfgemeinschaft hochangesehen war und sie dadurch ihr eigenes Geld verdiente, nämlich umgerechnet 20 Cent pro Beschneidung, habe sie es niemals gern gemacht. Jedes einzelne Mal habe sie sich dabei an die Qualen ihrer eigenen Beschneidung erinnert. Ein traumatisches Erlebnis: Niemand hielt sie fest, also versuchte sie, sich zu wehren, doch ihre heftigen Bewegungen machten am Ende alles noch schlimmer. Die Beschneiderin rutschte mit der Rasierklinge ab und verletzte sie stark. Weiter ins Detail könne sie nicht gehen, das verbiete ihre Religion, sagt die Übersetzerin. Die Vermutung liegt nahe, dass sie deshalb kinderlos blieb.
Laut Unicef stirbt weltweit jedes vierte Mädchen bei der Beschneidung, das sind 500 Kinder am Tag. Wer überlebt kann sich nach der Prozedur tagelang nicht bewegen, nicht einmal sitzen. Die Schmerzen begleiten eine Frau ihr Leben lang: beim Wasserlassen, beim Sex oder beim Gebären eines Kindes.

Ich habe es nicht gern gemacht, aber die Tradition und die Gemeinschaft verlangten es von mir

Katima Muleta
Katima sagt, dass ihr niemals ein Mädchen verblutet sei. Dennoch fühle sie sich schuldig. Immer wieder blickt sie beim Erzählen auf den Boden, schüttelt den Kopf oder ballt die Fäuste. Immer wieder beteuert sie, dass es ihr leid täte und sie den Mädchen nicht habe weh tun wollen, aber es die „Tradition verlangte." Ich frage sie, ob die Mädchen im Dorf Angst vor ihr hatten und wie sich das anfühlte? „Sie warfen mir böse Blicke zu und viele versteckten sich, wenn ich kam."
Als die Stiftung „Menschen für Menschen“ in die Projektregion Borecha, Katimas Heimat, gekommen sei, begriff sie, wie falsch die Tradition sei. MfM bekämpft die schändlichen Rituale durch Aufklärung und das Aufzeigen neuer Möglichkeiten. Nach einem Jahr Überzeugungsarbeit mit dem religiösen Dorfanführer und den Würdenträgern der Gemeinschaft, wurde die Beendung der Beschneidung beschlossen. „Die Sozialarbeiter kamen und haben mir erklärt, was das Beschneiden alles anrichtet. Ich wusste das alles nicht. Ich bin froh, dass ich das jetzt nicht mehr machen muss", sagt Katima. Heute überlebt sie als Bäuerin. Ich glaube ihr, dass sie glücklich ist, nicht mehr zur Rasierklinge greifen zu müssen, nie wieder drei Männer beauftragen zu müssen, die sich auf Arme und Beine eines Mädchens setzen, nie wieder ein Tuch in den Mund des Kindes stopfen zu müssen, damit die Schreie dumpf und leise werden.
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In rund 30 Staaten der Erde werden Mädchen und Frauen noch beschnitten. Weltweit leben aktuell 200 Millionen, die die Prozedur erleiden mussten. In Äthiopien gingen die Zahlen dank der Entwicklungshilfe in den letzten fünfzehn Jahren deutlich nach unten: 90 Prozent der Frauen waren um die Jahrtausendwende noch beschnitten, jetzt spricht man von 70 Prozent. Auch in Deutschland leben 50.000 beschnittene Mädchen und Frauen.
Foto: Edith Lu00f6hle.
Nur Hand in Hand geht man in eine bessere Zukunft.
Diese Konfrontation mit Katimas Welt hat meinen Kosmos durcheinander gebracht. Ich werde dieses Treffen niemals vergessen, denn es hat mich vieles gelehrt. Verurteilung bringt keinen Wandel. Es ist die Auseinandersetzung und die Aufklärung, die uns an ein gemeinsames Ziel bringt. Als ich am Ende unseres Gespräches auf sie zugehe, haben wir beide Tränen in den Augen. Sie hält meine Hand und ich ihre.
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 19. Februar 2017 veröffentlicht.
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