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Warum vielleicht auch du ein „gestörtes Essverhalten” hast, ohne es zu merken

Foto: Nicholas Bloise
Essstörungen lauern gefühlt hinter jeder Ecke. Falls du irgendwann in deinem Leben schon einmal bekannte Magazine durchgeblättert, Filme angesehen oder eben diese Kolumne gelesen hast, kannst du davon ausgehen, dass praktisch jede*r mit einer dieser acht Essstörungen diagnostiziert worden ist, die gerade im DSM-5 gelistet sind. In Wirklichkeit sind aber nur geschätzte 1,5% der Bevölkerung Deutschlands von diesen Diagnosen betroffen. Das macht diese Erkrankungen nicht weniger gravierend. Und es bedeutet auch nicht, dass die Millionen, die tatsächlich unter ihnen leiden, keine Unterstützung brauchen. Das bedeutet lediglich, dass Essstörungen selten sind. Ein gestörtes Essverhalten hingegen ist deutlich weiter verbreitet.
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Statistiken nach, trifft der Ausdruck „gestörtes Essverhalten” auf etwas zwischen 50% und 75% der Deutschen zu. Kann man machen zu: Auch wenn die meisten Menschen wenigstens ein bisschen über Anorexie und Bulimie wissen, versteht die Allgemeinheit meist nicht, was mit „gestörtem Essverhalten” gemeint ist – auch wenn dieses Problem ein viel gravierenderes Ausmaß hat.
„Gestörtes Essverhalten” ist ein Ausdruck, der in vielen verschiedenen Gesprächen fällt und sehr vielseitig genutzt wird. Ein Arzt benutzt ihn vielleicht, wenn er eine*n Patient*in untersucht, dessen*deren Gesundheitsstatus noch unklar ist. Jemand, der*die sich gerade von einer Essstörung erholt, nimmt Bezug auf sein*ihr „gestörtes Essverhalten”, weil er*sie es bevorzugt, nicht als anorektisch oder bulimisch definiert zu werden (was absolut verständlich ist). Und dann gibt es da noch solche, die noch nie wegen ihrer Essstörung behandelt oder auf eine untersucht wurden, deren Beziehung zu Essen aber irgendwie ungesund ist: Sie werden ängstlich, wenn sie sich überlegen, was sie essen wollen. Sie verbringen eine übertrieben lange Zeit damit, sich über den Inhalt ihres Essens Gedanken zu machen. Sie versuchen, sich an bestimmte Essensregeln zu halten und fühlen sich schlecht, wenn sie diese brechen. Ja, jeder der schon mal auf einer Diät war, hat gewissermaßen das gemacht, was Klinikärzte als gestörtes Essverhalten definieren würden.
„Gestörtes Essverhalten ist viel verbreiteter, als wir denken,“ sagt Melanie Rogers, zertifizierte Diätassistentin für Essstörungen und Gründerin von Balance, einem Behandlungszentrum von Essstörungen in New York City. „Wenn wir ganz fachlich werden wollen, würde ich sagen, dass besonders die überwiegende Mehrheit aller Frauen — aber auch Männer — in New York City von einem gestörten Essverhalten betroffen sind.“ Rogers und ihr Team benutzen den Ausdruck für jegliches Essverhalten, das nicht neutral ist, aber auch nicht die diagnostischen Kriterien für eine Essstörung erfüllt. Rogers definiert neutrales oder normales Essverhalten mit der „Abwesenheit von Angst. Einem Fehlen des Zählens von Kalorien und Fett, von dem Weglassen bestimmter Makronährstoffe – wenn man also nicht auf beispielsweise Brot oder Pasta oder alles aus Weißmehl verzichtet.“
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Das besagt, dass Rogers ein normales Essverhalten daran festmacht, was es nicht ist (restriktiv, auf Regeln basierend, Angst erzeugend). Das ist aber auch logisch, weil die meisten von uns Essen auch nicht als eine neutrale Angelegenheit erachten. Die Mehrheit amerikanischer Erwachsener, Teenager und sogar Kinder unter zehn Jahren haben, in dem Bestreben, Gewicht verlieren zu wollen, wiederholt ihre Essenmuster geändert. Du brauchst wahrscheinlich keinen empirischen Beweis dafür, um zu erraten, dass die meisten dieser Menschen psychologische oder emotionale Gründe dafür haben, Gewicht verlieren zu wollen – aber falls doch, Gründe gibt es viele.
„Wenn Menschen auf diesen Diäten sind – außer, sie sind es aus medizinischen Gründen – kann es etwas obsessiv werden,” gibt Rogers zu bedenken. Für manche ist es nur eine vorübergehende Obsession und eine die abebbt, sobald die Diät beendet wird. Für andere, sagt sie, „haben diese Diäten das Potential, ein Tor in ein gestörtes Essverhalten zu sein.“
Der Ausdruck und das Konzept „Diät machen” ist zu einem Tabu geworden, was die ganze Angelegenheit noch komplizierter macht. In der Realität ist es so alltäglich wie nie zuvor – denn „Diät machen” wurde einfach mit „Clean Eating” oder „sich vollwertig ernähren” (oder ähnlichen Ausdrücken, die Gesundheit mit Restriktion definieren) ein neues Image verpasst. Glaubensbasierte Ernährungsentscheidungen, wie Veganismus – welcher einst ein Nischendasein pflegte und gänzlich von der traditionellen Ernährung abwich – hat wesentlich mehr Bekanntheit im Mainstream erlangt. In ähnlicher Weise wurde der Trend, sich glutenfrei zu ernähren, weit verbreitet angenommen – und zwar von denen, die keinen medizinischen Grund dafür haben, dieses Protein zu vermeiden, aber einfach daran glauben, dass Gluten böse sei. Punkt. Das gestörte Essverhalten hat mittlerweile so viele neumodische Namen, hinter denen es sich versteckt.
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Gestörte Essverhalten hat mittlerweile so viele neumodische Namen, hinter denen es sich versteckt.

Somit kann man mit Sicherheit sagen, dass sich die meisten Menschen (allermindestens) im Laufe ihres Lebens mal an einem gestörten Essverhalten versuchen werden. Doch hier ist der verzwickte Vorbehalt: Während ein gestörtes Essverhalten ein verbreitetes Problem darstellt, ist es nicht immer auch ein großes, schlechtes und lebensveränderndes Problem. „Für mich ist ein ‚gestörtes Essverhalten‘ ein so weiter Begriff, dass er im Grunde genommen gar nichts bedeutet,“ sagt Kelsey Osgood, Autorin von How To Disappear Completely: On Modern Anorexia, einem Memoire und einer historischen Studie der Erkrankung in der Popkultur. „Zu sagen, dass jemand gestörte Essgewohnheiten hat, kann meinen, er*sie weigert sich alles zu essen, was blau ist – dies wird wahrscheinlich nicht die Lebensqualität ruinieren – oder es kann bedeuten, dass er*sie sich an der Grenze zu einer Essstörung befindet – was das Leben ruinieren könnte.“
Während Osgood Patienten nicht selbst behandelt, hebt sie hervor, dass man, wenn man sich strikt an die klinischen Definitionen hält, argumentieren könnte, dass jemand, der nur Halal-Fleisch isst, ein gestörtes Essverhalten besitzt – wenn das, natürlich, nicht notwendigerweise stimmen sein muss. Kontext ist alles, sagt sie. „Wenn jemandem nachgesagt wird, dass er*sie gestörte Verhaltensweisen aufweist, neige ich dazu, anzunehmen, dass diese Person mit ihren Verhaltensweisen leben kann. Diese Verhaltensweisen schmälern ihre Gesundheit nicht gravierend und unwiderruflich, auch kann sie weiter ihrem Job nachgehen und bedeutsame Beziehungen pflegen – trotz der Tatsache, dass sie nie etwas Rotes isst oder vegan lebt oder was auch immer,“ sagt Osgood.
Diese Einstellung findet auch bei Kate Rosenblatt, der klinischen Leiterin von Balance, Anklang. „Ein Weg ist es, sich die Patienten fragen zu lassen: Hat dies einen negativen Einfluss auf viele meiner Lebensbereiche? Gehe ich nicht mehr abends mit Freunden zum Dinner aus, weil wir nicht in Restaurants gehen, wo ich mich beim Essen wohl fühle?“ Sie fordert die Menschen dazu auf, sich einfach selbst zu fragen, ob ihre Essgewohnheiten ihrer Gesundheit, ihren Beziehungen oder ihrem Glück schaden. Das Beantworten dieser Fragen kann den Ernst des Problems entlarven.
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Wenn es eine gute Seite von der Verbreitung des subklinischen gestörten Essverhaltens gibt, dann die, dass es keinen Grund dafür gibt, dass es ein tiefes und beschämendes Geheimnis bleiben muss. Diejenigen, die sich von ihrer Essstörung erholen, mögen sich wie Versager fühlen, wenn sie sich – Jahre später – dabei ertappen, wie sie sich leicht vom Essen, Sport oder ihrem Aussehen stressen lassen. Aber diesem Gefühl des Versagens zu unterliegen kann schädlicher sein, als sich einfach daran zu erinnern, dass das, unglücklicherweise, jeder manchmal tut – und, dass das die meisten Menschen, glücklicherweise, überleben. Osgood hat selbst über diese Erfahrung geschrieben, als sie sich verlobt hatte und plötzlich von Hochzeitsdiäten und Bootcampkursen für die Braut bombardiert wurde. Nachdem sie bewiesen hatte, dass sie nicht in der Gefahr war, rückfällig zu werden, war Osgood in der Lage zu erkennen, dass sie einfache Tage und harte Tage haben wird und vielleicht auch gestörte – und diese müssen sie nicht zwangsläufig zum Entgleisen bringen. Sie schrieb: „Ich kann mich selbst im Spiegel mit leichter Unzufriedenheit betrachten (es wird, nach allem, nie perfekt werden) und dann mit meinem Leben weitermachen.“
Nochmal: Diejenigen, die mit Essstörungen diagnostiziert wurden, machen nur einen geringen Prozentanteil der Bevölkerung aus. Die Allgegenwart gestörten Essverhaltens kann es für jemanden mit einem lebensbedrohlichen Problem einfacher machen, es als keine große Sache abzutun. „Die große Mehrheit unserer Patienten kommen hier her und denken, ihr Problem sei um einiges weniger ernst, als es tatsächlich ist,“ hebt Rogers hervor. Einige dieser Menschen verschließen die Augen vor der Wahrheit – andere wiederum haben schlichtweg keine Ahnung. Sie glauben wirklich, das Fressattacken am Wochenende normal sind oder, dass Gluten giftig ist. Darum denkt Rogers, dass es wichtig ist, ein gestörtes Essverhalten direkt beim Namen zu nennen, wenn man es sieht.
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„Das kann einen kleinen Einfluss haben – und etwas von einem Fauststoß haben,“ sagt sie und fügt hinzu, dass sich der Begriff „gestörtes Essverhalten” tendenziell durch alle anderen Diätjargons zieht. „Ich hoffe, dass es die Menschen tatsächlich hochzieht und ihnen bewusst wird, ‚Oh mein Gott, ich dachte, das wäre gesund, aber das könnte sogar gestört sein.‘“ Nur dann ist es möglich zu analysieren wie gestört es wirklich ist.
Es ist ohnehin schon viel zu einfach diese Probleme zu umgehen und zu behaupten, sie seien nicht da. Ein gestörtes Essverhalten mag vielleicht nicht selten sein, auch mag es nicht (notwendigerweise) eine Krise bedeuten. Auf einem individuellen Level ist es gewiss nicht im gleichen Maße gefährlich, wie es eine Essstörung ist. Aber es ist eine gesellschaftliche Erkrankung, die sich die meisten von uns irgendwann einfangen werden und sie wird nicht geheilt, indem sie ignoriert wird oder wir ihren Namen austauschen. Fangen wir damit an, indem wir sagen, was es ist: Diät halten, sich einschränken, sich reinigen wollen – all das sind Synonyme für ein gestörtes Essverhalten. Wenn wir es nicht wenigstens beim richtigen Namen nennen können, besteht kein Zweifel mehr: Dann haben wir ein großes Problem.
Falls du mit einer Essstörung zu kämpfen hast (oder denkst, dass du betroffen sein könntest) und Hilfe benötigst, kontaktiere bitte die Telefonseelsorge der ANAD unter +49 800 1110333.
Das Anti-Diät-Projekt ist eine fortlaufende Serie über intuitives Essen, nachhaltige Fitness und Body Positivity. Kelseys Reise kannst du auf Twitter und Instagram unter dem Namen @mskelseymiller, oder direkt hier über Facebook verfolgen. Du bist neugierig, wie alles angefangen hat? Die komplette Kolumne kannst du dir hier anschauen.

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