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Angst- & Zwangsstörungen zu Corona-Zeiten: Wenn dein größter Albtraum wahr wird

Photographed by Flora Maclean
Anika leidet seit sie 15 Jahre alt ist an einer Zwangsstörung. Obwohl es schwer ist, den exakten Auslöser dieser psychischen Erkrankung zu bestimmen, glaubt sie, bei ihr war es eine Phase intensiven Stresses während ihrer Teenagerzeit. Damals gab es Probleme mit Freundschaften und Beziehungen, sie wurde gemobbt und ihre Eltern ließen sich scheiden. Es begann mit störenden Gedanken und später kamen Zwänge dazu.
„Ich war komplett besessen von Hygiene“, erzählt sie. „Ich war zu hundert Prozent davon überzeugt, wenn ich nicht sauber genug wäre oder meine Hände nicht oft genug waschen würde, würde ich jemanden umbringen; ich wäre schuld am Tod eines anderen Menschen.“
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Das Thema Ansteckung bestimmte Anikas zwanghaftes Verhalten lange bevor das Coronavirus überhaupt ein Thema war. Bei ihrer Therapie ging es hauptsächlich darum, zu begreifen, dass die Chance sehr gering war, dass ihre Horrorvorstellungen Realität werden könnten. Und dann kam COVID-19.
„Ein Großteil meiner Zwänge hingen damit zusammen, dass ich Menschen kontaminieren oder infizieren könnte – besonders meine Mutter“, sagt Anika. „Und jetzt passiert genau das: Ich könnte tatsächlich eine Person, die mir sehr wichtig ist, mit einem tödlichen Virus anstecken. Das ist für jeden Menschen ein gruseliger Gedanke, aber wenn du OCD hast, ist es noch mal sehr viel schlimmer und schwieriger, mit dieser Situation umzugehen.“

Ich habe mir meine Hände wahrscheinlich hundertmal täglich gewaschen. Manchmal waren sie komplett rot und so trocken, dass sie einrissen und bluteten.

Das letzte Mal als Anikas Zwangsstörung besonders schlimm war, ging sie noch zur Uni. „Ich habe mir meine Hände wahrscheinlich hundertmal am Tag gewaschen“, sagt sie. „Manchmal waren sie komplett rot und so trocken, dass sie einrissen und bluteten. Ich war das erste Mal weit weg von zuhause und die Umgebung war nicht gerade schön. Und ich hatte panische Angst davor, neue Freundschaften knüpfen zu müssen. Mir die Hände zu waschen und obsessiv mein Zimmer im Studentenheim zu putzen, gab mir ein Gefühl der Kontrolle; aber nach einer Weile gab es keinen logischen Grund mehr für mein Verhalten. Ich fühlte mich einfach gezwungen dazu und konnte nicht damit aufhören.“
Nach der Uni gelang es Anika mithilfe einer Therapeutin und der Unterstützung ihres Freundes Fortschritte zu machen und besser mit der Krankheit umzugehen. Doch jetzt, da ständig und überall vom Coronavirus gesprochen wird, kämpft sie damit, sich nicht von zwanghaften Gedanken und Verhaltensweisen überrollen zu lassen. „Alle sprechen jetzt über’s Hände waschen. Wie lange solltest du dir die Hände waschen? Was ist die richtige Technik? Welches Lied solltest du dabei singen… Es ist sehr, sehr schwer für mich, nicht in einen Teufelskreis zu geraten.“
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Zur Behandlung von Menschen mit OCD gehört es meist, zu lernen, das zwanghafte Verhalten – wie zu häufiges Händewaschen – zu stoppen. Doch das widerspricht den Hygienerichtlinien, an die wir uns im Moment alle halten sollen.

Vasia Toxavidi
Wenn du schon länger unter einer psychischen Krankheit leidest, die dafür sorgt, dass du dich zwanghaft mit einer bestimmten Angst beschäftigst oder dich in Horrorszenarien hineinsteigerst, kann es lähmend sein, die Nachrichten zu sehen oder durch den Insta-Feed zu scrollen. Denn dort wird alles, was du dir je in deinem Kopf zusammengesponnen hast, bestätigt. Und laut der Therapeutin Vasia Toxavidi kann das dazu führen, dass Menschen mit einer Zwangsstörung jetzt in alte Muster zurückfallen. „Zur Behandlung von Menschen mit OCD gehört es meist, zu lernen, das zwanghafte Verhalten – wie zu häufiges Händewaschen – zu stoppen. Doch das widerspricht den Hygienerichtlinien, an die wir uns im Moment alle halten sollen. Deswegen kann die aktuelle Situation dafür sorgen, dass sie frühere Verhaltensmuster wieder aufnehmen.“
Nicht nur für Menschen mit OCD ist die Corona-Krise eine echte Herausforderung – auch für Personen, die an anderen psychischen Störungen leiden ist es gerade aktuell schwer, sagt Toxavidi. „Die Menschen müssen mit großen Veränderungen umgehen und gleichzeitig mit Verlusten fertigwerden – den Verlust der Freiheit, der Beziehungen und vieler anderer Dingen.“ Sie müssen sich ihren schlimmsten Ängsten stellen.
Viele Menschen mit Krankheitsängsten (früher Hypochonder genannt), Depressionen oder Essstörungen haben jetzt zum Beispiel mehr zu kämpfen denn je. Gleiches gilt für Personen, die unter Platzangst leiden.
Bevor ich erkläre, warum es Letztere so hart trifft, werfen wir einen kurzen Blick auf die Fachbegriffe, um Missverständnisse zu vermeiden. Unter die landläufig als “Platzangst“ bezeichnete Störung fallen zwei verschiedene Phobien: Agoraphobie und Klaustrophobie. Betroffene der Agoraphobie (der Platzangst im engeren Sinne) haben meist Angst vor großen Plätzen und Menschenansammlungen. Betroffene der Klaustrophobie (auch Raumangst genannt) fürchten sich dagegen vor engen, geschlossenen Räumen, wie Aufzügen oder Flugzeugen.
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Manche Menschen mit Platzangst trauen sich nicht, ihre Wohnung zu verlassen. Andere gehen zwar raus, werden aber auf Marktplätzen oder in stark besuchten Parks von einer Welle der Panik überrollt. Ähnlich wie bei Personen mit OCD wird auch hier bei der Therapie oft mit der sogenannten Exposition gearbeitet – die Betroffenen müssen sich ihren Ängsten stellen und rausgehen. Doch im Moment sollen wir das Haus so selten wie möglich verlassen. Sprich: Eine Konfrontationstherapie ist nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich.
„Die Wohnung zu verlassen ist etwas, was mir schon sehr, sehr lange schwer fällt“, erzählt die Ally, die Ende 20 ist. „Aber als Teil meines Genesungsprozesses versuchte ich, jeden einzelnen Tag rauszugehen – manchmal nur für zehn Minuten, manchmal sogar auf belebtere Plätze. Oft hasste ich jede einzelne Sekunde. Aber mit der Zeit viel es mir etwas leichter, draußen zu sein und ich fühlte mich weniger ängstlich.“
Doch dann kam COVID-19 und die Angst nahm wieder erheblich zu.

Für mich ganz persönlich bedeuten die Maßnahmen, dass ich in alte Verhaltensmuster zurückverfalle, die sich tröstlich anfühlen, aber eigentlich nicht gut für mich sind.

„Versteh mich nicht falsch: Ich verstehe, warum wir so selten wie möglich rausgehen sollen und ich habe damit auch kein Problem“, sagt sie. „Aber für mich ganz persönlich bedeuten die Maßnahmen, dass ich in alte Verhaltensmuster zurückverfalle, die sich tröstlich anfühlen, aber eigentlich nicht gut für mich sind. Gesagt zu bekommen, dass wir so gut es geht zuhause bleiben sollen, ist für mich, wie als würde mir jemand erlauben, gar nicht mehr rausgehen zu müssen.“
Aber irgendwie ist Ally auch froh. „Mir fällt es viel leichter, in Selbst-Isolation zu leben, als einigen meiner Freund*innen. Es gab Phasen in meinem Leben, in denen ich wochenlang die Wohnung nicht verlassen habe. Ich habe also kein Problem damit, drinnen zu bleiben oder allein zu sein.“ Ganz so einfach ist die Sache aber nicht. „Ich weiß, dass es nicht zu 100 Prozent gesund ist, wie ich mich fühle und dass dieses Verhalten eigentlich auch nicht gut für mich ist. Ich weiß, ich sollte wenigstens eine kleine Runde spazieren oder zumindest täglich in den Garten vor dem Haus gehen.“
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Für Personen, die wie Anika und Ally aufgrund ihrer psychischen Störung jetzt besonders leiden, hat Toxavidi ein paar Ratschläge.
Als Erstes empfiehlt sie, „so wenig wie möglich Nachrichten zu sehen oder zu lesen“. Such dir ein oder zwei seriöse Quellen und informiere dich ausschließlich dort – und nicht in irgendwelchen Klatschmagazinen oder in den sozialen Medien. Letztere können, genau wie Liveblogs, dazu beitragen, dass du noch mehr Panik bekommst. Also vermeide sie so gut es geht, wenn du unter OCD, Agoraphobie oder anderen Angststörungen leidest.
Tipp Nummer zwei: Halte den Kontakt zu anderen Menschen. Sprich mit Freund*innen und deiner Familie und erzähle ihnen davon, was du gerade durchmachst. Manchmal hilft es schon, die eigenen Ängste auszusprechen und sich bewusst zu machen, dass es anderen ähnlich geht.
Manchen Menschen hilft es auch, sich selbst Grenzen zu setzen. Wenn du eine Zwangsstörung hast, kannst du beispielsweise festlegen, wie oft du dir die Hände waschen darfst und für wie lange. Wenn du unter Platzangst leidest, kannst du dir vornehmen, wenigstens fünf Minuten täglich rauszugehen.
Langfristig gesehen ist eine (Online-)Therapie wahrscheinlich die beste Lösung. Allerdings kommt man da oft nicht so schnell ran. Vielleicht versuchst du es also für den Anfang mit einer der Apps, von denen es jetzt immer mehr gibt, und beantragst parallel eine “echte“ Therapie.
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In Deutschland kann es leider eine Weile dauern, einen Therapieplatz zu bekommen. Solltest du akut Hilfe brauchen, wende dich an die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 oder den Chat der TelefonSeelsorge. Ansonsten kannst du deine Hausärztin oder deinen Hausarzt nach einer Liste mit Therapeut*innen in deiner Umgebung zu fragen.
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