Meine Schulden machen mich Krank
Ich weiß, wie es sich anfühlt, Schulden zu haben. Wie sie dich nachts wachhalten, dein Herz zum Rasen bringen und dir Magenkrämpfe bescheren. Ich weiß, wie es ist, wenn du jemandem Geld schuldest, das du nicht zurückzahlen kannst. Wie es ist, das Gefühl zu haben, in einer endlosen Looping-Achterbahn gefangen zu sein – oder in einem Aufzug, der immer wieder hoch und runter rast. Du willst aussteigen, aber du kannst nicht.
Die Auswirkungen von Schulden auf deine psychische Gesundheit schleichen sich still und leise an dich heran – und noch bevor du sie kommen siehst, haben sie dich längst fest in ihren Klauen. Schaust du dir deine Hände genauer an, stellst du fest, dass du dir wohl unterbewusst die Nagelhaut abgerissen hast. Dein Nagelbett ist rot und wund, während dein Gehirn versucht, deine Situation zu begreifen.
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Die Ergebnisse einer kürzlich durchgeführten Studie im Auftrag der britischen Organisation Agenda, die sich für Mädchen und Frauen einsetzt, dürften niemanden also überraschen: Armut, Schulden und die Last kaum bezahlbarer Rechnungen treibt viele junge Frauen dazu, sich selbst zu verletzen. Schockierend sind die konkreten Zahlen der Studie trotzdem. Etwa ein Fünftel aller Frauen zwischen 16 und 34 Jahren mit ernst zu nehmenden Geldproblemen hat sich demnach im letzten Jahr selbst verletzt. Dazu kommt eine dreimal höhere Tendenz zur Selbstverletzung unter Frauen, die mit der Zahlung ihrer Haushaltsrechnungen im Verzug sind (13 Prozent), im Vergleich zu denen, auf die das nicht zutrifft (4 Prozent). Die Untersuchung ergab außerdem, Frauen zwischen 16 und 34 Jahren, die aus ärmeren Haushalten stammen, neigen fünfmal häufiger zur Selbstverletzung als jene aus wohlhabenden Familien. Das beweist, es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Wohlstand und psychischer Gesundheit. Junge Frauen, die unter Armut und Schulden leiden, sind verglichen mit bessergestellten Gleichaltrigen deutlich anfälliger für psychische Leiden.
Die 30-jährige Clare Seal, Gründerin des einst anonymen Instagram-Accounts My Frugal Year, hatte vor einem reichlichen Jahr noch rund 30.000 Euro Schulden. Sie erzählt, wie stark das ihre psychische Gesundheit beeinflusst hat.
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Jedes Mal, wenn eine Rechnung ins Haus flatterte – ob ich sie nun bezahlen konnte oder nicht –, wurden meine Angstzustände besonders schlimm.
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„Ich leide unter einer diagnostizierten Angststörung. Ich habe sie prinzipiell gut unter Kontrolle, aber als es mir finanziell sehr schlecht ging, wurde das immer schwieriger“, erzählt mir Clare. „Jedes Mal, wenn eine Rechnung ins Haus flatterte – ob ich sie nun bezahlen konnte oder nicht –, wurden meine Angstzustände besonders schlimm. Im besten Fall war ich dann leicht reizbar, manchmal aber auch wie gelähmt. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren, hatte furchtbare Gedanken, die sich nicht abschütteln ließen, und manchmal sogar Schmerzen in der Brust. Irgendwann begann ich eine Therapie, aber es war mir zu peinlich, dort meine Finanzen für meine Angstzustände verantwortlich zu machen. Seitdem meine Schulden deutlich geschrumpft sind und ich endlich die Kontrolle zurückhabe, fällt mir alles wieder viel leichter.“
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Die täglichen Rechnungen lösten in Clare überwältigenden Stress aus. „Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem es mir egal war, weitere 50 Euro ins Minus zu gehen, um mir etwas Schönes zur Aufmunterung zu kaufen. Ich hatte das Vertrauen in mich und mein Verantwortungsbewusstsein verloren. Da waren 50 Euro dann auch nur ein weiterer Tropfen im 30.000-Euro-Ozean.“
Inzwischen hat Clare ihre Schulden auf 9.616,49 Euro reduziert. Sie hat realisiert, wie sehr ihre finanzielle Situation über so lange Zeit hinweg ihre emotionale und psychische Gesundheit bestimmte. „Meine Schulden lauerten immer in meinem Hinterkopf“, sagt sie. „Wie ein Stock, mit dem ich mir selbst eins überzog, wenn ich mich ohnehin gerade schon schlecht fühlte – oder wenn es mir mal gut ging und ich nur darauf wartete, dass auch diese Seifenblase platzte. Das Gefühl der Unzulänglichkeit und der Vergleich mit anderen waren zum Großteil dafür verantwortlich, dass ich überhaupt so hohe Schulden aufbaute, und diese Gefühle wurden immer schlimmer, je ernster meine Lage wurde.“
Aus Armut und Schulden entsteht irgendwann ein verheerender Teufelskreis. Aktuell sind vor allem junge Frauen von den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise betroffen, und eine Studie der britischen Fawcett Society ergab, dass dies dort insbesondere für Schwarze und asiatische Frauen sowie Frauen, die anderen Minderheiten angehören, gilt. Die Studie zeigt, dass diese Frauen selbst am stärksten glaubten, die Pandemie würde sie in die Verschuldung zwingen und ihnen für die nächsten Monate die Bezahlung ihrer Lebenshaltungskosten enorm erschweren. Noch dazu vermuteten sie häufiger als weiße Frauen, in dieser Krise die finanzielle Unterstützung vom Staat verlieren zu können.
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Nur zwei Monate nach dem Erscheinen dieser Studie hat auch Deutschland mit der schlimmsten Rezession seit Beginn der Konjunkturaufzeichnungen zu kämpfen – womit genau diese finanziellen Ängste zur traurigen Realität vieler werden dürften. Sich über Schulden und den Umgang mit ihnen auszutauschen ist heute daher wichtiger denn je.
Die von der britischen Regierung gestützte Organisation Money and Pensions Service (MaPS) will Menschen bei der Verwaltung ihrer Finanzen helfen. Gegenüber Refinery29 sagte sie, laut einer Umfrage sprechen Frauen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit als Männer nie über ihre Finanzen (48 Prozent vs. 39 Prozent). Viele der Frauen erklärten das damit, nicht verurteilt werden zu wollen. Außerdem fühlen sich laut der Umfrage 51 Prozent der Frauen unwohl dabei, anderen gegenüber ihre staatliche Corona-Finanzhilfe zu erwähnen, verglichen mit 23 Prozent aller Männer.
Um denen zu helfen, die aktuell in besonders ernster finanzieller Not sind, arbeitet der MaPS mit der Psychologin Honey Langcaster-James zusammen. Gemeinsam bieten sie ihre Unterstützung dabei an, diese schwierigen und oft unangenehmen Gespräche zu meistern. „Vor ein paar Jahren war ich selbst hoch verschuldet“, erzählt mir Honey. „Damals kam ich nicht darauf, das für meine schlechte psychische Verfassung oder mein mangelndes Selbstwertgefühl verantwortlich zu machen. Im Nachhinein betrachtet hing das aber eindeutig zusammen.“
Laut Honey liegt das daran, dass wir unseren finanziellen mit unserem persönlichen Wert gleichsetzen, obwohl das nicht stimmt. „Unsere Finanzen spiegeln nicht dich selbst, sondern meist eine ganze Reihe komplexer Umstände wider.“ Und jetzt gerade ist einer davon natürlich eine globale Wirtschaftskrise, die niemand von uns kontrollieren kann.
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Es gibt allerdings Wege, den emotionalen und psychischen Einfluss von Schulden zu mindern, sagt Honey. Vor allem solltest du auf dich selbst achten und dich mit Leuten umgeben, die dir Kraft geben. Gleichzeitig rät sie aber auch dazu, sich gut zu überlegen, mit wem man sich über seine Schulden unterhält. „Es kann dir schaden, einer Person deine Sorgen und Ängste anzuvertrauen, die selbst wiederum sorgenvoll darauf reagiert, weil du dieser Person wichtig bist.“ Manchmal kann es daher helfen, mit fremden Menschen zu sprechen. „Bei einem seriösen Service (wie dem der Caritas oder der Diakonie) bekommst du professionelle Hilfe von Außenstehenden, die von deiner Lage nicht selbst emotional betroffen sind.“
Honey rät außerdem dazu, die richtige Tageszeit für ein Gespräch über finanzielle Sorgen zu wählen. „Beginne solche Gespräche nicht abends, wenn du selbst schon müde und erschöpft bist. Mach es lieber, wenn du dich stark und wach fühlst, und notiere dir vorher ein paar Zahlen.“
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Verantwortlich für die emotionale Last, die Schulden mit sich bringen, sind vor allem die damit verbundenen Stigmata und Schamgefühle.
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Verantwortlich für die emotionale Last, die Schulden mit sich bringen, sind vor allem die damit verbundenen Stigmata und Schamgefühle. Deswegen fällt es uns auch so schwer, offen darüber zu sprechen – selbst, wenn es nicht einmal unsere Schuld ist, sondern vielleicht einfach nur zu wenig Lohn überwiesen wurde oder betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen wurden.
„Uns wird von klein auf beigebracht, wir sollen nicht über Geld sprechen,“ sagt Honey. „Unsere Eltern haben uns gepredigt, wir sollen niemandem erzählen, was etwas gekostet hat. So verankert sich in unserer Gesellschaft der Glaube, dass Geld etwas Geheimes sei – etwas, wofür wir uns schämen und worüber wir nicht reden sollten. Diese Einstellung wird umso stärker, sobald wir erwachsen sind und anfangen zu arbeiten. Manchmal steht sogar in unseren Arbeitsverträgen, wir dürfen unser Gehalt nicht ausplaudern. Das ist, wie wir wissen, insbesondere für Frauen ein echtes Problem und einer der Gründe für den Gender Pay Gap.“
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Diese Pandemie hat uns umso mehr gezeigt, wie stark Gender und fehlende Gleichberechtigung zusammenhängen. Frauen werden regelmäßig unterbezahlt, unterbewertet und verbringen durchschnittlich fast doppelt so viel Zeit mit „unsichtbarer“ Arbeit wie Männer – im Haushalt, bei der Erziehung, in der Pflege von Angehörigen. Dass sie die momentane Lage besonders schwer trifft und ihre psychische Gesundheit in Mitleidenschaft zieht, sollte uns alle etwas angehen – vor allem aber die Regierung. Am Ende können Gespräche nämlich nur begrenzt dafür sorgen, dass Scham und Stigmata verblassen.
Fing die Corona-Pandemie noch als Gesundheitskrise an, ist sie längst eine der Wirtschaft. Daher, so Honey, ist „die zweite Welle eigentlich eine finanzielle. Die Leute machen sich Sorgen darüber, wie sich all das auf ihr Einkommen und ihren Lebensstandard auswirkt. Das nagt wiederum an der psychischen Gesundheit. Wir müssen miteinander sprechen – wir müssen anderen das Gefühl geben, sie sind nicht allein, und die mit Schulden verbundene Scham endlich abschaffen.“
Wenn du selbst Schulden hast und darunter leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe brauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen.
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