Eine Krebsdiagnose stellt dein Leben komplett auf den Kopf. Plötzlich dreht sich alles nur noch um die Krankheit und du hast permanent Angst – vor den Behandlungen, vor den Nebenwirkungen und davor, was die Zukunft mit sich bringen könnte. Was du jetzt brauchst, ist die Unterstützung deiner Familie und deiner Freund*innen. Doch was, wenn sie in dieser schweren Zeit nicht an deiner Seite sind? Was, wenn du auf einmal ganz allein dastehst?
Laut einer Studie von War on Cancer, einem sozialen Netzwerk für Krebspatient*innen, gaben 65 Prozent der Befragten an, nach ihrer Diagnose Freund*innen oder Verwandte verloren zu haben – sie brachen einfach den Kontakt ab. Dieses herzzerreißende Phänomen nennt man “Cancer Ghosting“.
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„Ich habe es immer geliebt, meine Freund*innen um mich zu haben, mit ihnen auszugehen und Sachen zu unternehmen. Wenn das alles plötzlich aufhört und sie dich nicht mal mehr besuchen kommen, ist das nur ein weiterer Schmerz, mit dem du klarkommen musst, in einer Zeit, in der du ja eigentlich schon genug durchmachst“, erzählt die 27-jährige Vorstandsassistentin Georgie Swallow. 2018 wurde bei ihr ein Hodgkin-Lymphom im vierten Stadium diagnostiziert. Sie hat gerade nach einem Rückfall eine weitere Behandlungsrunde hinter sich.
„Als ich die Diagnose bekam, rechnete ich nicht damit, deswegen Freund*innen zu verlieren. Ich brauchte zu dem Zeitpunkt starke Menschen um mich herum, die das mit mir durchstehen. Deshalb war das Gefühl auch wirklich schlimm, von so vielen einfach im Stich gelassen zu werden“, erzählt sie weiter.
Lydia Brain bekam 2016 ihre Diagnose: Gebärmutterkrebs. Mit nur 24 Jahren wurde ihr die Gebärmutter entfernt. Heute ist sie 27 und arbeitet für die Organisation The Eve Appeal, die sich für Betroffene gynäkologischer Krebsarten einsetzt. Sie sagt: „Ich kenne viele, die geghostet wurden. Das ist interessant; ich denke, das zeigt, wie unwohl sich die meisten bei dem Thema Krebs fühlen.“
Lydia erinnert sich dabei vor allem an das Verhalten einer Freundin. „Wir hatten zusammen studiert und waren seit etwa fünf, sechs Jahren sehr gut befreundet. Außerdem arbeiteten wir damals zusammen. Zwar tauchte sie nach meiner Diagnose nicht einfach ab, zog sich aber doch sehr zurück. Sie zeigte mir nie ihre Unterstützung“, sagt sie. „Ich merkte ziemlich schnell, dass sie sich unwohl dabei fühlte, mit mir über meine Situation zu sprechen. Es fühlte sich nicht so an, als sei sie für mich da. Das wurde immer und immer deutlicher, bis wir irgendwann kaum noch miteinander redeten. Nach meiner Gebärmutter-OP hörte ich dann gar nichts mehr von ihr. Sie schrieb mir nicht mal, um zu fragen, wie es gelaufen war. Irgendwann war sie einfach weg“, erzählt Lydia.
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Sie hatten Angst vor dem Thema Tod – also mieden sie mich, weil sie dachten, ich würde es nicht schaffen.
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Wie kommt es dazu? Die 25-jährige Jugendarbeiterin Yamour Yapici litt vor vier Jahren an einem Non-Hodgkin-Lymphom. Sie vermutet hinter diesem Verhalten eine Art von Selbstschutz. „Einige meiner Freund*innen wussten einfach nicht, wie sie mit meiner Krankheit umgehen sollten. Sie hatten Angst vor dem Thema Tod – also mieden sie mich, weil sie dachten, ich würde es nicht schaffen“, erklärt sie. „Sie wollten nicht emotional davon traumatisiert werden, mir quasi beim Sterben zuzusehen. Einige gaben das sogar offen zu: Sie hatten Angst um mich, weil sie nicht wussten, wie das für mich enden würde. Damals verwirrte mich das. Ich konnte es nicht nachvollziehen, also strich ich einige Freund*innen aus meinem Leben – ich meldete mich einfach nicht mehr bei ihnen. Das ist jetzt allerdings vier Jahre her und langsam versuche ich, ihr Verhalten zu verstehen.“
Abgesehen von den emotionalen Herausforderungen waren es wohl laut Georgie auch die praktischen Auswirkungen, die ihre Krankheit auf das soziale Leben hatte, mit denen ihre Freund*innen zu kämpfen hatten. „Ich fühlte mich oft schlapp, also konnte ich vieles nicht mehr machen – zum Beispiel Auto fahren. Wenn sie sich aber alle in einer Bar verabredeten, wollte ich natürlich eingeladen werden. Mich musste eben bloß jemand abholen. Leider wurde ich dabei oft vergessen und verlor so den Anschluss“, erzählt sie.
„Ein paar Leute waren wirklich toll und kamen mich oft besuchen – viele aber nicht. Allmählich hörten sie auf, sich bei mir zu melden und mich zu Treffen einzuladen. Ich schätze, ich wurde irgendwann einfach zu langweilig, so nach dem Motto: ‚Georgie kann nicht zum Spielen rauskommen.’ oder ‚Ich fahre doch nicht bis zu Georgie, um mir dann anzuhören, dass sie zu müde ist.‘“
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Die 43-jährige Ernährungswissenschaftlerin Toral Shah findet die sozialen Medien in dem Kontext auch nicht gerade hilfreich. Als sie 29 war, bekam sie die Brustkrebs-Diagnose; 2018 kehrte die Krankheit zurück. Beim zweiten Mal spürte sie die sozialen Konsequenzen umso deutlicher. „Vor 14 Jahren benutzte man sein Handy bloß für einen kurzen Anruf oder eine SMS. Heute hingegen kleben wir quasi an unseren Smartphones und teilen alles online“, sagt sie. „Bei meiner ersten Diagnose hatte noch niemand Facebook. Du konntest dir also gar nicht sicher sein, ob überhaupt alle von deinem Krebs wussten, wenn sie nicht gerade mit jemandem gesprochen hatten, der oder die es tat. Dadurch war es leicht, ihnen zu verzeihen, wenn sie sich nicht meldeten. Heute ist das anders: Du weißt genau, wer sich deine Instagram-Story ansieht und sich trotzdem nie meldet“, erklärt Toral. „Es ist heute so viel leichter, in Kontakt zu bleiben. Dadurch fällt es viel mehr auf, wenn da eben gar kein Kontakt ist.“
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Der Krebs zeigte ihnen, wer ihre echten Freund*innen sind.
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In einem Punkt sind sich die Frauen einig: Der Krebs zeigte ihnen, wer ihre echten Freund*innen sind. Jemand schickte Georgie vor der Chemotherapie alle zwei Wochen eine motivierende Karte. Eine Freundin von Lydia nahm sie und ihre Katze für zwei Wochen bei sich auf, um sich um die beiden zu kümmern. „Manche Leute sind immer da: Sie hören mir einfach zu, anstatt dauernd zu versuchen, meine Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Sie verbringen ganz normal Zeit mit mir. Es sind diese kleinen Dinge, die mir wirklich was bedeuten“, sagt Toral.
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Für Lydia waren es auch ihre “Krebsfreund*innen“, die den großen Unterschied machten. „Bis ich meine Krebsfreund*innen kennenlernte, hatte ich den Eindruck, niemand konnte wirklich verstehen, wie es mir ging – abgesehen von meinen beiden besten Freund*innen, die bei jedem meiner Termine dabei waren. Anderen Betroffenen kannst du absolut alles erzählen. Dadurch fühlst du dich verstanden, akzeptiert und eben einfach normal“, erklärt sie.
Es war diese Art der Beziehung, die Fabian Bolin War on Cancer ins Leben rufen ließ. Er bekam vor vier Jahren, mit 28, die Diagnose Leukämie. „Nach meiner Diagnose löste sich mein halber Freundeskreis in Luft auf. Der Krebs wirkte quasi wie ein natürlicher Filter“, erzählt er. „Ich erstellte einen Blog, der zu Höchstzeiten 200.000 Leser*innen hatte. Nach jedem Post bekam ich Hunderte E-Mails von Leuten, die ihre eigenen Erfahrungen mit mir teilten. Das tat meiner eigenen mentalen Gesundheit so gut, dass ich mir dachte: ‚Was, wenn ich eine App baue, in der Menschen ihre Geschichten teilen, Unterstützung bekommen und ihr Trauma verarbeiten können?‘“
Abgesehen von Apps wie der von Fabian gibt es auch andere Hilfsorganisationen, wie beispielsweise das Junge Krebsportal für junge Erwachsene mit Krebs oder die Frauenselbsthilfe Krebs. Über ihre Instagram-Accounts oder Gruppentreffen in deiner Nähe kommst du mit anderen Betroffenen ins Gespräch. „Freund*innen sind toll, wenn sie wissen, wie sie dir wirklich helfen können – aber es gibt nichts Besseres als das Gespräch mit jemandem, der genau versteht, was du gerade durchmachst“, sagt Jemima Reynolds, Verantwortliche für das Gesundheitsprogramm der britischen Krebshilfe Trekstock.
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Dein*e kranke*r Freund*in hat vielleicht Krebs, ist aber immer noch derselbe Mensch wie vorher.
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Aber wie kann man eine*n Freund*in mit Krebs am besten unterstützen? Jemima meint: „Am wichtigsten ist es, den kranken Menschen nicht einfach fallen zu lassen. Wenn du dich nicht meldest, kann das für umso mehr Trauer und Verlustängste sorgen. Ruf einfach an, hab ein offenes Ohr, gib dein Bestes. Es ist ganz egal, ob du dabei kleine Fehler machst. Dein*e kranke*r Freund*in hat vielleicht Krebs, ist aber immer noch derselbe Mensch wie vorher. Vielleicht hat die Person mal Lust, einen Cocktail trinken zu gehen, manchmal wiederum nicht. Das lässt sich schlecht vorhersagen und der Umgang damit kann erstmal schwer sein. Das ist aber alles nur eine Frage der Gewohnheit.“
Außerdem meint Jemima, deine Hilfe wird immer willkommen sein – ob es nun darum geht, jemanden zur Chemo zu begleiten, den Wocheneinkauf zu übernehmen oder im Haushalt zu helfen. Viel wichtiger ist laut Yamour aber, ein Gefühl der Normalität zu vermitteln. „Freundschaften sind für Krebskranke so wichtig. Wenn es mir richtig schlecht ging und ich extrem sensibel war, wollte ich nicht von allen bemitleidet werden, sondern einfach ganz normal mit meinen Freund*innen Spaß haben“, sagt sie. „Es geht darum, der betroffenen Person zu zeigen, dass dir ihre oder seine Gefühle am Herzen liegen – nicht um das Mitleid.“
War on Cancer gibt es kostenlos im App Store und Google Play Store.