Es wird Zeit, aufzuwachen: Am globalen Klimastreik-Tag widmet sich die VICE Media Group ausschließlich der aktuellen Klimakrise. Klicke hier, um junge Klima-Wortführer*innen aus aller Welt kennenzulernen und zu erfahren, wie du selbst etwas bewirken kannst.
Es war ein Artikel der New York Times im Jahr 2018, der Allie Seroussis Leben für immer auf den Kopf stellen sollte. Er trägt den Titel Wie wir die Erde verlieren: Das Jahrzehnt, als wir den Klimawandel beinahe gestoppt hätten und erzählt die Geschichte einer kleinen Gruppe Wissenschaftler*innen, die zwischen 1979 und 1989 erkannten, wie schlimm es schon damals um unser Klima stand. Der Artikel machte Seroussi Angst; er verstörte sie sogar. So sehr, dass sie beschloss, selbst nie ein Kind in diese Welt setzen zu wollen.
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In dem Artikel geht es dabei gar nicht um das Elternsein an sich. Doch zeichnet er ein finsteres Bild unserer Zukunft, wenn wir so weitermachen wie gehabt. Diese Kristallkugel prophezeit uns Hungersnöte, Kriege, Umweltkatastrophen.
„Das war ein riesiger Schock. Davor hatte ich keine Ahnung, wie schlimm es um uns steht“, erzählt die 28-Jährige gegenüber Refinery29 am Telefon. Sie hatte schon immer Mutter werden und ihren Kindern ihr eigenes Umweltbewusstsein vermitteln wollen, sagt sie. „Nachdem ich mich dann aber selbst mit dem Thema auseinandergesetzt hatte, begriff ich irgendwann: Wow, meine Kinder werden nie in einer beständigen, gesunden Umwelt aufwachsen können.“
Mit diesen Sorgen ist Seroussi nicht allein: Laut einer Umfrage von Business Insider betrachtet jede*r dritte Amerikaner*in zwischen 18 und 29 Jahren den Klimawandel als entscheidenden Faktor beim Kinderwunsch. Auch Seroussi wog Pro und Contra ab – und entschied sich zugunsten ihres Gewissens: Sie konnte nicht verantworten, ein Kind in eine Welt zu bringen, die kurz vor der Umweltkatastrophe steht. Vielleicht nimmt sie aber eines Tages ein Pflegekind auf; das möchte sie nicht ausschließen.
Keya Chatterjee stand vor derselben Entscheidung; sie bekam jedoch ein Kind. Heute erinnert sie sich daran, wie sie, schwanger mit ihrem heutigen Fünftklässler, 2010 in einem Wissenschaftsmagazin blätterte: „Da standen all diese Voraussagen für 2050 – Lebensmittelmangel, katastrophale Waldbrände, monsunartige Regenfälle und Überflutungen“, erzählt sie. „Im Jahr 2010 las ich also diese Prophezeiungen über 2050. Ich war zu dem Zeitpunkt schwanger. Und plötzlich wurde mir klar: Mit 40 Jahren würde das die Realität meines Kindes sein.“
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Dabei war Chatterjee schon vor ihrer Schwangerschaft Klimaaktivistin gewesen. Um ihren CO₂-Fußabdruck zu reduzieren, besaß sie weder einen Kühlschrank noch ein Auto; außerdem setzte sie sich öffentlich für die Umwelt ein. Als sie das Magazin las, vervielfachte sich ihr Engagement für das Klima aber nochmal. „Irgendetwas veränderte sich dabei in mir. Es traf mich einfach völlig anders“, erklärt sie. „Als Mensch auf diesem Planeten ist es meine Aufgabe, wenn nicht sogar mein Lebenssinn, etwas dagegen zu unternehmen. Und das können wir.“ Ihre Angst um die Zukunft ihres Kindes setzte Chatterjee in die Tat um. Heute ist sie die Leiterin des U.S. Climate Action Network und Autorin von The Zero Footprint Baby: How to Save the Planet While Raising a Healthy Baby (Das Baby ohne CO₂-Fußabdruck: Wie du den Planeten rettest und gleichzeitig ein gesundes Kind aufziehst).
Kinderwunsch und Klimakrise sind aber abgesehen von der zukünftigen Sicherheitsfrage dieser Kinder auch auf andere Weise miteinander verwoben: Ist womöglich das Kinderkriegen an sich inzwischen unethisch, da auch ein Kind selbst dem Planet schaden könnte?
Dafür gibt es tatsächlich Indizien. 2017 wurde im Magazin Environmental Research Letters eine Studie veröffentlicht, laut der wir der Natur damit den größten Gefallen täten, ein Kind weniger zu bekommen. Ein Kind statt zwei würde die CO₂-Bilanz eines Elternteils in jedem Lebensjahr um 58 Tonnen Kohlendioxid verringern. Auf diese Zahl kamen die Forscher*innen, indem sie die Emissionen des Kindes und all seiner Nachfahren durch die Lebensspanne des Elternteils teilten. Der britische Guardianbeschrieb das folgendermaßen: „Jedem Elternteil wurden 50 Prozent der Emissionen des Kindes zugeteilt, 25 Prozent der ihrer Enkelkinder, und so weiter.“ Und auch eine Studie der Oregon State University kam zu ähnlichen Ergebnissen: Jedes Kind, so die Studie, würde den CO₂-Fußabdruck der Eltern um exakt 9.441 Tonnen steigern.
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Studien wie diese haben Dutzende Artikel hervorgebracht, die sich damit befassen, welchen Einfluss eine einzelne Person eben doch auf die Gesundheit unseres haben kann. Und obwohl sie für ihre Erkenntnisse viel Kritik bekamen, bleiben die Wissenschaftler*innen standhaft. „Es ist eine riesige Entscheidung, ein Kind in die Welt zu setzen. Um das zu wissen, brauchst du keine Forscher*innen“, findet Dr. Kimberly Nicholas, Professorin für Nachhaltigkeitsforschung am schwedischen Lund University Centre for Sustainability Studies. Sie hat die Studie mitverfasst. „Unsere Ergebnisse haben gezeigt, dass [die Fortpflanzung] zur Umweltverschmutzung beiträgt. Wenn du also einen neuen Menschen auf die Welt bringst, der genauso lebt und konsumiert wie wir heute, vergrößerst du dadurch deinen eigenen CO₂-Fußabdruck und sorgst für neue Umweltverschmutzung.“
Natürlich sind manche der Meinung, man könne sich ja auch für ein Kind entscheiden und gleichzeitig den Konsum der eigenen Familie einschränken. Das sollte theoretisch für eine bessere CO₂-Bilanz sorgen – findet auch Chatterjee. „Wenn ich schon ein Kind bekam – und das tat ich ja –, war es mir extrem wichtig, dadurch nicht zur Klimakrise beizutragen“, betont sie gegenüber Refinery29. „Du hast selten die Chance, wirklich gute Entscheidungen zu treffen, da dich die Gesellschaft häufig zu schlechten Entscheidungen zwingt“, gibt sie zu. „Aber du kannst die Konsequenzen deines Kinderwunsches beeinflussen, indem du dich engagierst und einsetzt.“
Nicholas erinnert auch an eine andere Tatsache: Inzwischen ist dieser Teil der Debatte eigentlich ohnehin überflüssig. „Die heutige Bevölkerung wird, dank des momentanen Verbrauchs fossiler Brennstoffe, ihre restliche Kohlenstoffbilanz in weniger als zehn Jahren aufgebraucht haben“, sagt sie. „Du rettest also nicht den Planeten, indem du dich gegen Kinder entscheidest.“ Und tatsächlich haben wir schon in den letzten paar Jahren die ersten der Konsequenzen miterleben dürfen, von denen Chatterjee damals las: Waldbrände mit nie da gewesenen Ausmaßen, zerstörerische Hurricanes.
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„Wir haben wirklich nicht viel Zeit“, warnt sie. „Wir haben nur noch bis 2030, um das Klima zu stabilisieren, bevor es sich um mehr als 1,5 Grad erwärmt. Und wie wir wissen, ist das entscheidend für die Menschheit und generell sämtliches Leben auf diesem Planeten.“ Um das zu erreichen, müssen wir die Umweltverschmutzung – insbesondere durch Kohlendioxid – bis 2030 ungefähr halbieren, erklärt sie. In dieser Zeitspanne hilft es uns da nicht, auf Kinder zu verzichten. Stattdessen sollten wir uns um einen reduzierten Konsum, eine Abkehr von fossilen Brennstoffen und eine neue Beziehung zur Landwirtschaft bemühen. „Wir brauchen Politiker*innen, die den Ernst der Klima-Lage verstehen und aktiv etwas dagegen unternehmen wollen“, findet Nicholas. „Aber genauso sind wir auf die Menschen angewiesen, die uns vormachen, dass es auch besser geht.“
Ist es also während des aktuellen Klima-Notfalls überhaupt ethisch vertretbar, Kinder zu bekommen? Letztlich ist die Antwort auf diese Frage etwas ganz Persönliches. Dennoch ist es beachtlich, wie viele Menschen sie sich inzwischen überhaupt stellen.
„Es steht sogar in einer Deklaration der UN, dass Eltern frei über die Anzahl und den Altersunterschied ihrer Kinder entscheiden dürfen. Das ist zwar kein garantiertes Recht und wird auch nicht immer so umgesetzt; es ist aber trotzdem eine grundlegende und wichtige Entscheidung“, meint Nicholas.
Diese Entscheidung ist meist ein Privileg. Sich für oder gegen Kinder zu entscheiden, hängt nämlich auch von Faktoren wie wirtschaftlicher Sicherheit oder dem Zugang zu Verhütungsmitteln, Abtreibungsmöglichkeiten und einem entsprechenden Gesundheitswesen ab. All das ist weltweit nicht allen gegeben. Noch dazu steckten historisch hinter antinatalistischen Bewegungen meist rassistische oder klassendiskriminierende Motive.
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Natürlich sollte sich jede*r der Klimakrise bewusst sein. Denkst du über Kinder nach, ist es ganz verständlich, dass du dich vielleicht fragst: In was für einer Welt würde mein Kind aufwachsen? Die demokratische US-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez fasste das Dilemma im vergangenen Jahr in einem Instagram-Livestream zusammen: „Die Wissenschaft ist sich quasi einig: Kinder werden es später schwer haben. Und das führt meiner Meinung nach dazu, dass sich junge Leute jetzt eine berechtigte Frage stellen: Ist es noch okay, Kinder zu bekommen?“
Manche Menschen, wie Chatterjee, beantworten diese Frage für sich vielleicht mit Ja und motivieren sich dadurch zum Engagement für den Umweltschutz. Andere, wie Seroussi, entscheiden sich womöglich dagegen und eventuell für Adoption oder Pflegekinder. Andere wiederum beschließen vielleicht, weniger Kinder zu bekommen, als sie ursprünglich geplant hatten. Die Argumente für oder gegen jede dieser Strategien sind vielseitig und komplex. Fakt ist allerdings: Dass sich Erwachsene aufgrund unserer Klima-Realität in ihrer Familienplanung beeinflussen lassen, zeigt umso mehr, wie ernst die Lage wirklich ist – und wie dringend wir etwas unternehmen müssen.
„Das ist ein Warnsignal“, sagt Dr. Rebecca Bromley-Trujillo, die an der amerikanischen Christopher Newport University Politikwissenschaften und Umweltpolitik unterrichtet. „Manche Altersklassen sehen sich quasi kurz vor dem Weltuntergang und haben das Gefühl, sehr wenig Zeit zu haben. Das sorgt für schreckliche Verzweiflung. Allein die Tatsache, dass wir darüber sprechen, ob wir überhaupt noch Kinder bekommen sollten, ist ein Beweis für den Ernst der Lage – und dafür, welche Sorgen das in uns auslöst.“
Laut Bromley-Trujillo ist diese Debatte zur Ethik des Kinderkriegens dabei nichts Neues; wir führen sie schon seit rund 50 Jahren immer wieder. „Letzten Endes ist der Kinderwunsch immer eine persönliche Entscheidung. Viele junge Menschen beschließen vor allem heutzutage, aufgrund des Klimawandels keine oder zumindest weniger Kinder zu bekommen. Ich kann das nachvollziehen“, sagt sie. „Ihr Argument ist völlig rational – denn natürlich steigern Kinder den Kohlendioxid-Ausstoß. Ich finde aber, es gibt wichtigere Punkte, an denen wir ansetzen sollten.“ Und das bringt uns zur Wahl.
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Aktuell ist die Wahl der richtigen Parteien mitunter das Größte, was du persönlich im Kampf gegen den Klimawandel unternehmen kannst. Stimme für Parteien, die begreifen, in welcher Notlage sich unsere Umwelt befindet – und die einen Plan haben, dagegen vorzugehen. Das zieht sich von der lokalen Politik hoch in die nationale.
Dabei solltest du natürlich auch deine eigene CO₂-Bilanz im Auge haben und auf einen umweltfreundlichen Lifestyle achten, sagen Chatterjee und Nicholas. Bromley-Trujillo warnt allerdings davor, uns zu sehr in der Debatte um individuelle Verantwortung zu verzetteln.
„Wir diskutieren [in Sachen Umweltschutz] über Hamburger und SUVs. Diese Themen sind natürlich wichtig, aber wir sollten größer ansetzen: Bei der Elektrizität an sich, dem Verkehrswesen an sich. Das ist deutlich effektiver“, erklärt sie. „Wenn wir unsere Emissionen reduzieren wollen, sollten wir uns dabei auf grüne Elektrizität und große Firmen konzentrieren. Würden wir da etwas im großen Stil ändern und vielleicht sogar Gesetze schreiben, die grüne Energie voraussetzen, könnte das wirklich einen Unterschied machen.“
Nicholas betont erneut: „Du wirst nicht den Planeten retten, indem du kein Kind bekommst. Stattdessen müssen wir endlich auf fossile Brennstoffe verzichten.“ Und dazu brauchen wir mehr als das Engagement jedes und jeder Einzelnen – nämlich die Hilfe großer Firmen und Regierungen.
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