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Warum zur Hölle spielt eine nicht-autistische Schauspielerin in Sias Film die autistische Hauptrolle?

Foto: via Sia/YouTube
Maddie Ziegler, eine nicht-autistische Person, spielt in Sias Film Music die autistische Hauptrolle.
„Nothing about us without us“ (z. Dt. „nichts über uns ohne uns“) ist eine beliebte Parole in der Community be_hinderter Menschen, der ursprünglich mal der südafrikanischen Bewegung für Gleichberechtigung in den 1990ern entsprang. Dabei ist das natürlich viel mehr als nur ein Spruch, ein Motto, etwas, das wir auf unsere Plakate schreiben: Die Parole fasst in wenigen Worten zusammen, wie häufig be_hinderte Menschen aus Gesprächen über unsere eigenen Rechte, Gesundheit und Repräsentation in den Medien ausgeschlossen werden. So kommt es, dass zum Beispiel Eltern be_hinderter Kinder oft als bessere „Expert:innen“ zum Thema angesehen werden als be_hinderte Menschen selbst; und auch in Film und Fernsehen werden Rollen be_hinderter Charaktere nach wie vor häufig an Schauspieler:innen ohne Be_hinderung vergeben.
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Ein solches Beispiel ist das im Februar 2021 erscheinende Regiedebüt der Sängerin Sia. In Music geht es um eine gleichnamige stumme Autistin (Maddie Ziegler), die mit ihrer Schwester (Kate Hudson) zusammenzieht, die gerade einen Entzug macht. Das Problem: Music ist eine Geschichte über autistische Menschen, deren autistische Hauptrolle von einer nicht-autistischen Schauspielerin dargestellt wird. 
Der Film selbst bekommt, wie auch Sia, für die Entscheidung, die Rolle der Music mit Ziegler zu besetzen, gerade scharfe Kritik ab. Zwar haben Ziegler und Sia auch früher schon zusammengearbeitet, aber tröstet diese oberflächliche Erklärung für die Castingwahl kaum über die Enttäuschung hinweg, dass wieder einmal ein neurotypischer einen neurodiversen Menschen spielen darf.
Umso enttäuschender ist auch Sias Reaktion auf die Kritik: Erst schrieb sie, sie sei „so verwirrt“, weil sie nicht verstehen könne, wieso das Feedback so schlecht sei; dann, nur eine halbe Stunde später, schwang die Verwirrung in Wut um – aber dazu komme ich gleich. Im Vergleich dazu sehen wir dann Stars wie Anne Hathaway, die sich vor Kurzem für die Darstellung der dreifingrigen Hände ihrer Rolle im Film Hexen hexen entschuldigte, nachdem sie von Verfechter:innen be_hinderter Menschen auf den unterschwelligen Ableismus und seine Auswirkungen auf betroffene Kinder angesprochen worden war. Sias Entscheidung, darauf mit Wut zu reagieren, anstatt sich darüber Gedanken zu machen, inwiefern sie selbst zur Aufrechterhaltung von Ableismus und autistischen Stereotypen beiträgt, zeigt: Sie ist nicht gewillt, autistischen Menschen wirklich zuzuhören – obwohl sie die Rolle der Music auf einem Freund basiert habe, von zwei autistischen Menschen beraten wurde und auch 13 autistische Schauspieler:innen in Nebenrollen holte. Wenn sie trotz alldem immer noch kein offenes Ohr für die Kritik unserer Community hat, warum sollte sie dann einen Film über uns drehen?
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Und Music ist dabei natürlich längst nicht die einzige autistische (oder stark autistisch codierte) Rolle, deren Darsteller:in selbst nicht autistisch ist. Da hätten wir beispielsweise Abed (Danny Pudi) aus Community, Sam Gardner (Keil Gilchrist) aus Atypical, Dr. Shaun Murphy (Freddie Highmore) in The Good Doctor, Isadora Smackle (Cecilia Balagot) in Girl Meets World und Sugar Motta (Vanessa Lengies) in Glee – alle von ihnen nicht-autistische Schauspieler:innen. Tatsächlich kann man hier wohl schon von einem Trend sprechen; das macht das Ganze aber nicht akzeptabler, und dasselbe geschieht so natürlich nicht bloß in Bezug auf Autismus. In der Serie Superstore wird die Rolle des Garrett von Colton Dunn gespielt, der – im Gegensatz zum fiktiven Charakter – nicht wirklich auf einen Rollstuhl angewiesen ist.
Das nennt sich übrigens „Cripping up“ und kann für stereotypische, vielleicht sogar für die Community schädliche Darstellungen von Be_hinderungen sorgen. Ein Beispiel: In Me Before You ging die Rolle des querschnittsgelähmten Will Traynor nicht nur an Sam Claflin (der eben nicht gelähmt ist), sondern wollte uns der Film außerdem auf höchst emotionale Weise suggerieren, der Tod sei besser als ein Leben mit Be_hinderung. Was querschnittsgelähmten Zuschauer:innen dabei durch den Kopf ging, will man sich gar nicht vorstellen.
Und natürlich brauchen auch be_hinderte Schauspieler:innen Jobs. Gehen Rollen, die eigentlich für sie geschrieben wurden, hingegen an nicht-be_hinderte Darsteller:innen, müssen sie schauen, wo sie bleiben. Dieser Ableismus ist leider aus der Film- und Fernsehbranche kaum wegzudenken, und wenn manch berühmte:r Regisseur:in dir sogar verbietet, dich am Set hinzusetzen und eine Pause zu machen, ist ein offenes, gesundes Arbeitsumfeld ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit. Das schlägt sich auch in konkreten Zahlen nieder: Laut dem Jahresbericht des amerikanischen GLAAD Media Institute waren 2019 nur rund 3,1 Prozent aller TV-Charaktere be_hindert, und 95 Prozent von ihnen wurden wiederum von nicht-be_hinderten Darsteller:innen gespielt. 
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Und genau deswegen ist Sias Reaktion auf die Kritik an ihrer Filmbesetzung so tragisch. Als ihr Twitter-User:innen schrieben, sie hätte für die Rolle der Music auch autistische Darsteller:innen in Betracht ziehen sollen, antwortete die Sängerin auf den Tweet einer eben solchen mit: „Vielleicht bist du auch einfach eine schlechte Schauspielerin.“ Es sind genau solche Reaktionen, die das Vorurteil bestärken, autistische Schauspieler:innen könnten wegen ihrer Be_hinderung nicht schauspielern. Das ignoriert die unglaubliche Vielfalt der autistischen Community genauso wie Sias nächste Behauptung, dass die Besetzung von Musics Rolle mit jemandem auf demselben „Funktionsniveau grausam, nicht nett“ wäre. Offenbar hat sich Sia nicht allzu ausführlich über autistische Menschen informiert; die autistische Community kritisiert schon seit Jahren diese Einteilung in Funktionsniveaus. Jemanden als „low-functioning“, also wenig funktionstüchtig abzustempeln und sich anhand dessen Kommunikationsverhaltens ein Urteil über die Fähigkeiten dieses Menschen zu erlauben, ist Ableism. Und ich weiß, wovon ich rede. Als Kind war ich teilweise nonverbal und bekam daher die Diagnose „low-functioning Autismus“. Wie jemand mit der Welt kommuniziert, sagt nichts über seine oder ihre Persönlichkeit aus – und sollte niemals über das Recht dieser Person bestimmen, eigene Lebensentscheidungen zu treffen. Und dazu gehört auch die Wahl, als Schauspieler:in zu arbeiten.
Als autistische Person weiß ich außerdem: Egal, wie gut ein:e Darsteller:in ist – er oder sie wird nie genau wissen können, wie es sich anfühlt, dich bei Überforderung oder Aufregung mithilfe von Stimming, also Selbststimulation, zu beruhigen, indem du zum Beispiel mit deiner Handfläche immer wieder leicht gegen dein Bein haust. Ein:e Schauspieler:in kann sich alle Mühe geben, Augenkontakt aussehen zu lassen, als koste er große Überwindung; vermutlich wird es dabei aber doch auf eine stereotypisch steife Darstellung hinauslaufen. Denn es ist natürlich nicht damit getan, Autismus-Symptome zu googeln und vor der Kamera nachzuahmen. 
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Kurz gesagt: Das Leben als autistische Person ist so viel komplexer als die klinische Diagnose in einer ärztlichen Akte, und entspricht selten irgendeiner „Norm“. Augenkontakt fällt mir beispielsweise durchaus manchmal schwer, vor allem in emotionalen Gesprächen – dann wiederum kann er aber gelegentlich sogar beruhigend wirken, und meiner Frau könnte ich stundenlang in die Augen sehen, wenn sie von Büchern spricht. Und im Gegensatz dazu, was uns Film und Fernsehen glaubhaft machen wollen, scheuen sich viele autistische Menschen nicht vor Sinnesreizen – im Gegenteil! Ich liebe laute Musik, Stroboskoplichter und Menschenmengen. 
Music scheint sich trotz alldem in seiner Darstellung von Autismus aber doch sehr aus bestehenden Mythen und Stereotypen zu bedienen. Natürlich ist es schwer, einen Film endgültig zu bewerten, der noch nicht erschienen ist – der Trailer verrät uns aber schon mal, dass auch dieser Film (wie so viele andere) den Autismus von außen betrachtet. Wir sollen uns nicht mit Music oder anderen autistischen Charakteren identifizieren können, sondern bekommen alles aus der Perspektive ihrer Schwester Zu präsentiert. 
Der Trailer beginnt mit einer Szene, in der Zu von ihrem Kumpel Ebo (Leslie Odom Jr.) gesagt bekommt, Music könne „alles verstehen, was du zu ihr sagst“, und dass „sie die Welt völlig anders sieht als wir“. Der Film trägt Musics Namen zwar im Titel, doch ist sein wahrer Hauptcharakter wohl eher Zu, die von Ebo dazu ermutigt wird, ihre Beziehung zu ihrer Schwester zu hinterfragen. Zus Perspektive ist hier scheinbar die entscheidende, und sie bestätigt bestehende autistische Stereotypen: Autistische Menschen sind darin Außenseiter:innen, ihre Weltanschauung eine völlig andere, selbst dann, wenn sie nicht-autistischen Personen nah stehen. Und wie sieht die Welt eines Menschen mit Autismus laut des Films aus? Wenn wir dem Trailer glauben dürfen, dann wie Musics kunterbunte, verspielte Tanzszene. 
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Aber vielleicht irre ich mich auch. Vielleicht will uns der Film doch eine authentische autistische Perspektive vermitteln. Vielleicht will er doch, dass wir uns in Music hineinversetzen können, sie zu verstehen lernen. Dann wird er uns aber mehr aus ihrer Sicht zeigen müssen: Was fühlt sie, was denkt sie, was ist ihr wichtig? Sie wird so viel mehr sein müssen als nur eine unterhaltsame Musikszene, die uns daran erinnern soll, dass sie eben anders ist. Sie muss ein Charakter mit Ecken und Kanten sein. 
Vielleicht stellst du dir jetzt eine berechtigte Frage: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass Sias Film schon vor seiner Veröffentlichung so ins Kreuzfeuer der autistischen Community geriet, wenn sich die Sängerin doch bei seiner Kreation angeblich so viel autistische Hilfe zur Seite geholt hatte? Viele Kritiker:innen von Music machen dafür aber ebenjene Hilfe verantwortlich: Sia verließ sich dabei nämlich auf die Organisation Autism Speaks, die von der autistischen Community seit Langem beschuldigt wird, ihnen mehr zu schaden als zu helfen; so setzt sich Autism Speaks beispielsweise mehr dafür ein, langfristig ein Heilmittel gegen Autismus zu finden, anstatt Menschen mit Autismus hier und jetzt zu helfen. Sia behauptet, sie habe nicht gewusst, dass die Organisation so umstritten sei – und bestätigt damit wieder einmal, wie wenig sie sich tatsächlich mit dem Thema befasst hat. Ihre Antworten auf berechtigte Kritik sind jedenfalls kein Trost – und überzeugen mich auch nicht davon, mir den Film erst einmal in seiner Gänze anzusehen, um mir eine Meinung dazu zu erlauben. Sia war immerhin nicht dazu bereit, autistischen Schauspieler:innen dieselbe Chance zu geben.
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Um es zusammenzufassen: Music wirkt derzeit noch wie ein Film, der das flehende Motto „Nothing about us without us“ völlig ignoriert; ein Film von nicht-autistischen für nicht-autistische Menschen, wie auch der Großteil anderer Mainstream-Produktionen. Music lebt und profitiert von ableistischen Vorurteilen gegenüber autistischen Realitäten. Und das ist keine Repräsentation.
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Voices of Disability wird von Kelly Dawson herausgegeben, einer Aktivistin für Rechte von Be_hinderten. Sie selbst wurde mit Zerebralparese geboren. Sie hat über ihre Be_hinderung in dem beliebten Podcast Call Your Girlfriend gesprochen und zu diesem Thema für Vox, AFAR, Gay Mag und andere geschrieben. Ihre Arbeit findest du unter kellymdawson.com.

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