Vor einigen Wochen war ich mit meiner Mutter am Telefon. Wir sprachen darüber, was bei ihr, mir und den anderen Mitgliedern unserer Familie gerade los war und wie es allen so ging. Als das Thema Weihnachten aufkam, veränderte sich die Stimmung aber schlagartig. Plötzlich wurde meine Mutter ruhig und schien sich für das, was sie als Nächstes sagen würde, zu wappnen. Sie fragte: „Was hältst du davon, wenn wir dieses Jahr auf Geschenke verzichten?“ Ich atmete erleichtert aus.
Später stellte sich heraus, dass die anderen Familienmitglieder meine Mutter dazu erkoren hatten, dieses heikle Thema mit mir zu besprechen. Als Nesthäckchen hängte ich nämlich am meisten an unseren unterschiedlichen Familientraditionen – auch nachdem meine älteren Geschwister das Interesse verloren hatten. Um Weihnachten nicht zu ruinieren, klammerte ich mich so lange wie möglich an den Glauben, dass es einen Weihnachtsmann gäbe. Der Rest meiner Familie hatte keine andere Wahl, als bis zu meinem 15. Lebensjahr! mitzuspielen. Es wird daher wohl niemanden überraschen, dass sie der Vorschlag, Geschenke dieses Jahr zu streichen, nervös stimmte. Wie viele andere sicherlich auch, will ich 2020 aber jeden unnötigen Stressfaktor über Bord werfen. Deshalb bin ich bereit, jede noch so stressige Gewohnheit - egal, wie sehr ich sie auch schätzen mag, – aus meinem Leben zu verbannen, um bloß für etwas innere Ruhe zu sorgen.
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Mit dieser Einstellung bin ich sicherlich nicht allein. Meine Familie ist auch bestimmt nicht die einzige, für die alles, was mit der Tradition des gegenseitigen Beschenkens zusammenhängt, ein nervenaufreibendes Unterfangen darstellt. Da wir aufgrund der Pandemie bereits mehr als genug Stress ausgesetzt sind, spielen jetzt viele von uns deshalb mit dem Gedanken, ihre Weihnachtsrituale dieses Jahr zu ändern. Manche Familien wollen die Anzahl der Geschenke begrenzen, Preisgrenzen setzen, bloß Familienglieder beschenken oder völlig geschenlos feiern.
Für viele hat diese Entscheidung damit zu tun, dass 2020 ein finanziell schwieriges Jahr darstellt. Die Feiertage führen uns das nur noch mehr vor Augen. Viele von uns verfügen nicht über ausreichend finanzielle Mittel, um Präsente für unsere Lieben besorgen zu können. Das ist ja auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Pandemie zu einem immensen Anstieg der Arbeitslosigkeit und zu massiver finanzieller Unsicherheit geführt hat. Außerdem hat sie die Wirtschaft so richtig ins Wackeln gebracht. In den vergangenen acht Monaten taten sich viele von uns schwer, auch nur um die Runden zu kommen und grundlegende Lebenshaltungskosten wie die Miete zu bezahlen. Deshalb stehen Geschenke während der diesjährigen Feiertage an alles andere als erster Stelle. Für manche sind sie nicht nur keine Priorität, sondern nicht einmal eine Option.
Selbst wenn du zu den Glücklichen gehörst und 2020 immer noch einen Job hast, gibt es andere Gründe für geschenklose Feiertage. Die perfekten Aufmerksamkeiten für deine Lieben finden zu müssen, setzt dich unter Druck. Diese Belastung könnte sich dieses Jahr sogar noch stärker bemerkbar machen. Dr. Shawn M. Burn, Professor für Psychologie und Autor von Unhealthy Helping: A Psychological Guide to Overcoming Codependence, Enabling, and Other Dysfunktional Giving, schreibt in Psychology Today: „Für einfühlsame Menschen kann das Beschenken alle möglichen Arten von zeitraubenden Gedanken und Anstrengungen verursachen. Solche Personen versuchen nämlich zu erahnen, was für eine Bedeutung ihre Präsente für die Beschenkten haben könnten und nehmen an, sie würden als Maßstab für ihre Zuneigung verstanden werden ('Je mehr ich dir bedeute, desto besser das Geschenk.'). Daher geben sie sich große Mühe, das richtige Geschenk zu finden.“ Wenn du dir um Weihnachten herum für gewöhnlich solch einen Druck machst, könnte es dazu kommen, dass du dich dieses Jahr überwältigt fühlst. Weil du durch die Pandemie mit zusätzlichen Herausforderungen, die Angstgefühle auslösen können, zu kämpfen hast (z.B. Heimunterricht und Home-Office meistern), könnte dir so alles zu viel werden.
Der Gedanke, beschenkt zu werde, und nicht das Beschenken selbst, macht mir dieses Jahr am meisten zu schaffen. Ich habe die letzten acht Monate hauptsächlich in meiner kleinen Wohnung verbracht. Deshalb ist mir jeder einzelne Quadratzentimeter lieber denn je geworden. Kurz nach dem ersten Lockdown habe ich, wie so viele andere von uns auch, all den unnötigen Mist, den ich in meiner Wohnung hatte, weggeräumt und Platz für neue wichtige Dinge wie einen kleinen Arbeitsplatz und einige Fitnessgeräte geschaffen. Dabei musste ich mich aber auch von vielen Dingen, die mir geliebte Menschen im Laufe meines Lebens so geschenkt haben, trennen. Mir läuft es kalt über den Rücken, wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt irgendeinen Nippes, den mir ein gutgesinnter Kollege oder Cousin vielleicht schenken wird, mit nach Haus bringen muss. Das Letzte, was ich will, ist den Platz wieder vollzustopfen, den ich während der Quarantäne doch mit so viel Mühe geschaffen habe und nun so sehr schätze.
Die Pandemie hat uns dazu veranlasst, fast jeden Aspekt unseres Alltagslebens neu zu überdenken. Wir haben nun Zeit dafür, alle möglichen Gewohnheiten infrage zu stellen, die wir früher als selbstverständlich hingenommen haben. Unserer geistigen Gesundheit zuliebe sollten wir uns vielleicht auch überlegen, ob wir 2020 nicht tatsächlich ohne gegenseitiges Beschenken auskommen können. In einem ohnehin schon überwältigenden Jahr sollten wir uns schließlich nicht unnötigen, zusätzlichen Stress machen.
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