Ich kann nahezu fühlen, wie sehr mein Jetlag mir zu schaffen macht, als ich meinen Kopf müde, aber glücklich ans Fenster des Taxis lehne. Ich blicke hinaus und sauge die unglaublichen Eindrücke meiner Abenteuerreise auf. Während ich Ohio, Indiana, Missouri und Nebraska erkunde, kann ich so gut wie spüren, wie die sanfte Frühlingsbrise des Mittleren Westens die Härchen auf meinen Armen streift.
Tatsächlich bin ich aber an keinem dieser Orte gewesen. Von einer Brise oder einem Jetlag kann auch nicht die Rede sein. Ich habe gar keine Aussicht bewundert. Warum? Weil es mir nicht möglich war – so sehr ich es auch wollte. Zwei Wochen bevor ich eine einmonatige Reise durch einige Bundesstaaten in den USA antreten sollte, um die Geschichte der Frauenrechte zu erforschen, wurde ein Reiseverbot als Reaktion auf den Ausbruch der Pandemie verhängt. Ein paar Wochen später befand sich ein Großteil der Welt im Lockdown. Nach wie vor sind die Grenzen der Vereinigten Staaten für Reisende aus der EU geschlossen. In der Zwischenzeit erstattete die Fluggesellschaft mir die Kosten für meinen Flug zurück. Außerdem ließ ich alle meine Bekanntschaften in den USA, mit denen ich mich bereits verabredet hatte, wissen, dass ich nicht mehr kommen würde. Als kleines Trostpflaster zog ich mein Bruce-Springsteen-T-Shirt an.
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Nichts konnte mich aber so richtig trösten oder aufmuntern. Ich hatte so hart dafür gearbeitet, diese Reise überhaupt möglich zu machen. Es hatte mich so viel Mühe gekostet, alles zu organisieren, die richtigen Kontakte ausfindig zu machen und Orte auszuwählen, die ich im Alleingang durchstreifen würde. Diese Reise war ein Vorhaben, das mir sowohl beruflich als auch persönlich sehr am Herzen lag. Ich hatte endlich meine eigenen Selbstzweifel überwunden und mich getraut, mich auf ein Abenteuer einzulassen, von dem ich schon immer geträumt hatte.
Willkommen im Jahr 2020: das Jahr der verpassten Gelegenheiten, der abgesagten Pläne, der zerstörten Hoffnungen und der täglichen Gedanken darüber, was hätte sein können. In diesem Jahr sind uns Gelegenheiten entgangen und unsere Pläne wurden durchkreuzt – von Hochzeiten, über Umzüge, bis hin zu Jobangeboten. Außerdem werden wir von unserer uns unbekannten Zukunft heimgesucht, die vor 2020 zweifelsfrei rosiger aussah, geschäftiger und voller Möglichkeiten war und sich jetzt vielleicht nie ereignen wird.
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Willkommen im Jahr 2020: das Jahr der verpassten Gelegenheiten, der abgesagten Pläne, der zerstörten Hoffnungen und der täglichen Gedanken darüber, was hätte sein können.
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Klinische Psychologin Emma Hepburn erklärt: „Unser Gehirn ist ein Organ, das plant und zukünftigen Entwicklungen vorausgreift. Aus diesem Grund können wir Verlustschmerz nicht nur in Bezug auf Vergangenes oder Gegenwärtiges, sondern auch auf Zukünftiges verspüren.“ Während wir vor dem Ausbruch der Pandemie häufig befürchteten, etwas zu verpassen (FOMO), trauern wir 2020 kollektiv um all die verlorene Zeit, leiden unter der Angst vor dem Vergehen der Zeit (Chronophobie) und versuchen, nicht in Panik in Bezug darauf zu verfallen, dass die Zeit wie im Flug vergeht.
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Klinische Psychologin Catherine Huckle erklärt, dass die Traurigkeit, die wir aufgrund der verlorenen Zeit dieses Jahr empfinden, den fünf Phasen der Trauer ähnelt, die oft mit einem Todesfall in Verbindung stehen. Die erste Phase zeichnet sich durch Leugnung aus (Bevor das Flugverbot verkündet wurde, war ich felsenfest davon überzeugt, dass Großbritannien „keinesfalls“ auf der Liste stehen würde); als Nächstes spürt man Zorn („dieser verdammte Trump!“); dann setzt die Phase des Verhandelns ein (Vielleicht könnte ich ja über die USA schreiben, ohne dorthin zu fliegen?); daraufhin folgt Depression (Tränen und Selbsthass); und schließlich endet der Verarbeitungsprozess mit Akzeptanz. Laut Dr. Huckle dauert diese Entwicklung umso länger, je wichtiger das abgesagte Ereignis für die jeweilige Person ist. Die Psychologin erzählt von ihrer Friseurin, die drei Jahre lang gespart hatte, um eine sechsmonatige Weltreise buchen zu können. Sie hatte ihren Job gekündigt und war gerade einmal eine Woche in Peru gewesen, als der Lockdown verhängt wurde und sie nach Hause zurückkommen musste. Solch eine lebensverändernde Reise zu beweinen und diese Trauer zu verarbeiten, dauert seine Zeit.
Das ist aber nur eine von vielen ähnlichen Geschichten. Lucy, 35, war kurz davor in Italien zu heiraten, als der Lockdown verkündet wurde. „Zuerst fühlte es sich surreal an“, sagt sie. Sehr bald aber war sie „am Boden zerstört“. Lucy und ihre bessere Hälfte waren aber nicht daran interessiert, den Hochzeitstermin in Italien zu verschieben, weil „es einfach nicht das Gleiche sein würde“. Stattdessen hatte Lucy gehofft, in diesem Herbst mit der Planung einer Hochzeit in Großbritannien beginnen zu können. Doch dann schossen die Infektionsraten dort auch in die Höhe. „Ich glaube nicht, dass wir es verkraften können, eine zweite Hochzeit abzusagen“, fügt sie entmutigt hinzu.
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Jamie, 34, war ebenfalls gerade dabei, ihr Leben zu ändern, als die Pandemie zu wüten begann. Ihr Plan war es eigentlich, quer über den Globus zu fliegen, um dauerhaft bei ihrem Partner in Südamerika leben zu können. Sie wollte ein ganz neues Leben beginnen. „Ich weiß, dass ich nicht die Einzige bin, der es vorkommt, als würde momentan alles auf Eis liegen. Die Sache ist, dass ich mich schon acht Monate vor der Corona-Krise so fühlte. Ich hatte geduldig – und manchmal auch weniger geduldig – darauf gewartet, einige berufliche Verpflichtungen zu erfüllen, sodass ich im Anschluss zu meinem Freund ins Ausland ziehen konnte. 2020 war das Jahr, in dem wir es wirklich versuchen wollten. Wir wollten eigentlich in den nächsten Jahren eine Familie gründen.“ Dann wurde aber der Lockdown verhängt. „Die Grenzen seines Landes wurden geschlossen. Ich habe ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen. In ein paar Wochen werde ich 35. Obwohl es sich so anfühlt, als würde mein Leben stillstehen, ist mir aber nur allzu bewusst, dass meine biologische Uhr immer noch tickt – und das lauter denn je zuvor. Wenn es also nicht mit ihm und mir nicht klappen sollte, werde ich dann überhaupt noch die Chance haben, eine Familie zu gründen?“
Vic, 30, war sich der verlorenen Zeit ebenfalls schon vor dem Lockdown bewusst. Sie und ihre bessere Hälfte hatten seit ein paar Jahren versucht, ein Baby zu bekommen. In diesem Frühjahr sollten sie nach langem Warten endlich mit einer In-vitro-Fertilisation beginnen. Wegen der Pandemie wurde aber alles nach hinten verschoben. Die Warterei und Ungewissheit wirkten sich immens auf Vics psychische Gesundheit aus. „Ich fühle mich einfach so machtlos“, klagt sie.
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Unser Gehirn ist ein Organ, das plant und zukünftigen Entwicklungen vorausgreift. Deshalb können wir Verlustschmerz nicht nur in Bezug auf Vergangenes oder Gegenwärtiges, sondern auch auf Zukünftiges verspüren.
Dr. Emma Hepburn
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Dieses Gefühl, nicht mehr über sein eigenes Leben bestimmen zu können, ist die Ursache vieler unserer Probleme, glaubt Dr. Huckle. „Einer der größten Faktoren bei einer Depression ist ein Gefühl der Hilflosigkeit, das wir jetzt aufgrund von Corona spüren“, erklärt sie. Um diesem Empfinden entgegenzuwirken, empfiehlt sie, in den Bereichen, in denen uns das aber doch noch möglich ist, so viel Kontrolle wie möglich auszuüben. Dr. Hepburn rät auch dazu, „uns auf die Gegenwart zu konzentrieren und positive Erfahrungen im Hier und Jetzt zu sammeln“. Das stellt aber eine große Herausforderung für uns dar, da sich in unserem Kulturkreis alles um Selbstoptimierung dreht. Mithilfe von Tagebüchern, Wunsch- und To-do-Listen und aufwendigen Vision-Boards soll es uns gelingen, uns selbst zu vervollkommnen. Dr. Huckle empfiehlt, „jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt. Plan höchstens eine Woche im Voraus und stell sicher, dass deine Woche voll mit produktiven Aufgaben ist. Räum aber auch Zeit für Momente der Freude und Entspannung ein.“
Dr. Huckle glaubt, dass wir uns als Gesellschaft gerade in der Verhandlungsphase des Trauerprozesses befinden. Das erklärt vielleicht auch, warum wir die Corona-Sicherheitsregeln im Moment zunehmend brechen (z. B. sich mit mehr Menschen treffen als eigentlich „erlaubt“ ist). Ich vermute, dass ein weiterer Grund dafür auch damit zusammenhängen könnte, dass wir das Gefühl haben, bereits zu viel verloren zu haben. Außerdem sind die jüngeren Generationen nicht so sehr daran gewöhnt, dass Dinge nicht so laufen, wie sie es vielleicht gerne hätten. „Es gibt interessante Untersuchungen darüber, was wir von unserem Leben erwarten“, sagt die Psychologin. „Während ältere Generationen im Allgemeinen nicht erwarteten, dass das Leben rosig oder einfach verlaufen muss, genießen wir jüngere Menschen Freiheiten, die uns selbstverständlich erscheinen. Die Pandemie hat unsere Lebensvorstellungen aber wirklich auf den Kopf gestellt. Das hat auch unsere Glaubens- und Wertesysteme ordentlich ins Wackeln gebracht.“ Im Großen und Ganzen ist unsere zunehmend individualistisch eingestellte Gesellschaft davon überzeugt, dass große Träume und harte Arbeit uns alle Türen öffnen können. Wir glauben, dass wir alles, was wir wollen, verdienen und erreichen können. Wenn wir nicht dazu in der Lage sind, erschüttert uns das in den Grundfesten.
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„In einem Jahr kann viel passieren!“, höre ich meine Mutter bis heute noch sagen. Zum ersten Mal könnte sie aber vielleicht Unrecht haben. Dr. Huckle zufolge ist 2020 aber keinesfalls ein vergeudetes Jahr. „Wir lernen durch unsere Erfahrungen. So können wir Herausforderungen in der Zukunft bewältigen“, sagt sie. „Zu zeigen, was wir in sehr stressigen Situationen, ohne viel Energie zur Verfügung zu haben, schaffen können, verleiht uns die Fähigkeit, mit einer ganzen Reihe von Dingen, die auf uns warten, umgehen zu können.“
Und klar, dieses Jahr ist tatsächlich viel passiert: die globale Black-Lives-Matter-Bewegung ist in aller Munde, Kamala Harris wurde zur Vizepräsidentin der Vereinigten Staaten gewählt, Donald Trump wurde abgewählt... Das Amerika, in das ich zu Beginn des Jahres geflogen wäre, sah in mancher Hinsicht ganz anders aus als das von heute. Natürlich habe ich Zeit verloren. Während ich die Entwicklungen in den USA verfolgte und in meiner Wohnung eingesperrt vor mich hin vegetierte, gewann mein Vorhaben – die Abenteuerreise meines Lebens – aber noch mehr an Bedeutung für mich. Mit anderen Worten: 2020 mussten wir tatsächlich einige große Verluste in Kauf nehmen. Wir haben aber auch viel dazugelernt, auch wenn wir die Lektionen, die uns 2020 bescherte, vielleicht noch nicht vollständig verstehen oder wertschätzen können.
Während wir also einem dunklen Winter voller Einschränkungen und Corona-Sicherheitsregeln ins Auge blicken müssen, traurig darüber sind, was hätte sein können und deshalb in Panik verfallen, werde ich mein Springsteen-T-Shirt tragen. Außerdem werde ich auch weiterhin den Kontakt zu den amerikanischen Frauen, die ich eigentlich hätte treffen sollen, aufrecht erhalten. Ich werde einfach mein Bestes geben und tun, was in meiner Macht steht. Im Moment ist es das Einzige, was wir alle tun können.