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Eine Frau mit freiem Oberkörper ist mit dem Rücken zur Kamera gewandt.

Mit meinem Baby kam meine Essstörung zurück

Foto: Eylul Aslan
Essstörungen, die während der Schwangerschaft zum Vorschein kommen, werden bei gynäkologischen Untersuchungen selten angesprochen, sind aber scheinbar nichts Ungewöhnliches: Eine Auswertung unterschiedlicher Studien zum Thema Frauen und Essstörungen führt an, dass dieses Phänomen scheinbar „relativ häufig“ ist und gesundheitliche Risiken für Mutter und Kind mit sich bringen kann. Einige Expert:innen vermuten, dass eine von 20 schwangeren Frauen unter einem Essproblem leidet. Deshalb sollte dieses Thema unbedingt zwischen Patientinnen und Gesundheitsdienstleister:innen angeschnitten werden, besonders wenn jemand eine Vorgeschichte mit Essstörungen aufweist. „Für Frauen, die damit in der Vergangenheit zu kämpfen hatten, stellt die Schwangerschaft eine Zeit dar, in der sie besonders auf ihr psychisches Wohlbefinden und ihre körperliche Gesundheit achten sollten. Es kann sinnvoll sein, in dieser Zeit Unterstützung zu suchen“, sagt der Psychiater Dr. Ovidio Bermudez, der in einem Behandlungszentrum für Essstörungen tätig ist.
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Die Zeit nach der Geburt ist ebenfalls kein Kinderspiel, denn frisch gebackene Mütter haben es ebenfalls nicht gerade einfach: Stress, Erschöpfung und der gesellschaftliche Druck, ihr ursprüngliches Gewicht wieder erreichen zu müssen, können das gestörte Essverhalten verschlimmern. Dazu kann es auch dann kommen, wenn Betroffene seit Jahren keine Symptome mehr hatte. Was aber besonders besorgniserregend ist, sagt Bermudez, ist die Tatsache, dass viele Mütter ihre Essstörung verheimlichen, weil sie sich dafür schämen. „Eine Frau hat möglicherweise das Gefühl, keine gute Mutter zu sein, weil sie sich mit den neuen Umständen schwer tut. Was sie dabei aber außer Acht lässt, ist, dass es sich hierbei um eine Krankheit handelt, etwas, das außerhalb ihrer Kontrolle liegt und nichts mit ihren Erziehungskompetenz zu tun hat“, sagt Bermudez. Deshalb ist es so wichtig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Im Folgenden erzählt die Autorin Anna Davies, wie Essstörungen für sie zum Problem wurden, als ihre Tochter sechs Monate alt war.
Ich stieg in den Aufzug des Bürogebäudes, wo ich neuerdings arbeitete, machte mich auf Kommentare gefasst und hoffte, dass mein schickes schwarzes Kleid, die klobige goldene Halskette und die zehn Zentimeter hohen Absätze von meinem blauen Auge ablenken würden.
Mein Plan ging aber nicht auf, was ich an den Blicken der anderen Leute erkannte. Als ich meinen Schreibtisch erreichte, hatte ich mir bereits eine Ausrede ausgedacht, die glaubhaft schien.
„Lucy hat mich im Bett getreten“, sagte ich und bezog mich damit auf meine sieben Monate alte Tochter. Meine Kollegen lachten. Immerhin arbeitete ich in einer Firma, die Babyprodukte herstellte. Viele meiner Kolleg:innen waren also ebenfalls Eltern und konnten ein Lied von solchen Erlebnissen singen.
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Wie du ja bereits erahnen kannst, ist diese Geschichte nicht wahr. Die Wahrheit ist, dass ich mir dieses blaue Auge selbst verpasst hatte: An diesem Morgen hatte ich mich nämlich übergeben, wodurch einige Blutgefäße in meinen Augenlidern geplatzt waren. Das ist zumindest das, was mir mein Augenarzt am Tag darauf erklärte. Als er mich fragte, ob ich denn kürzlich eine Grippe gehabt hätte, log ich und sagte „ja“.
Mein Auge war zu diesem Zeitpunkt aber das geringste meiner Probleme. Als alleinerziehende Mutter hatte ich Angstzustände, war gestresst und fühlte mich erschöpft. Um mit all dem fertig zu werden, übergab ich mich im Badezimmer. Ich tat es, während meine Tochter in ihrem Bettchen lag. Damit sie nichts hören konnte, ließ ich dabei die Dusche laufen. Jetzt, da ich Mutter war, hatte ich Schuldgefühle, schließlich wollte ich nicht weniger, als mein gestörtes Essverhalten an meine Tochter weiterzugeben. Ich konnte aber nicht mit dem Erbrechen aufhören.
Ich hatte bereits seit meiner späten Teenie-Zeit mit Essstörungen zu kämpfen. In meinen Zwanzigern übergab ich mich mehrmals pro Woche. Ich versuchte, einige Therapeut:innen aufzusuchen. Darunter war aber niemand, der richtig für mich war. Außerdem überraschte mich oft das mangelnde Wissen, das einige dieser Expert:innen, denen ich mich anvertraute, über gestörtes Essverhalten zu haben schienen. Eine Person davon sagte mir, dass ich doch „gar nicht so dünn“ wäre, während eine andere versuchte, mein Essverhalten mit der Überzeugung, dass es etwas mit meiner Beziehung zu meiner Mutter zu tun hätte, zu analysieren. Deshalb versuchte ich, meine Essstörung selbst in den Griff zu bekommen. Als ich 28 Jahre alt war und für einen Marathon trainierte, verschwanden meine Symptome vollständig. Das hatte mit meiner Angst vor den Auswirkungen zu tun, die mein Erbrechen in Kombination mit dem harten Training sonst auf meinen Körper gehabt hätte. Mit der Zeit trainierte ich mehr und mehr, wodurch ich begann, eine positivere Beziehung zu meinem Körper zu entwickeln. Als ich dreißig Jahre alt war, war ich davon überzeugt, dass ich meine Essproblem für immer losgeworden hätte.
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Und dann wurde ich schwanger. Ich war besorgt, dass meine Essstörung zu einem Problem werden könnte, das sich mein Körper verändern würde. Aus diesem Grund versuchte ich, das Thema bei meiner Gynäkologin anzusprechen. Beim ersten Besuch in der Praxis sagte ich ihr, dass ich nicht wissen wollte, wie viel ich wog. Sie war zwar damit einverstanden, mit der Zeit wurde aber klar, dass sie nicht verstand, dass meine Bitte einen ernsteren Grund als schiere Eitelkeit hatte. Einmal, während meines zweiten Schwangerschaftstrimesters, schimpfte sie mit mir, weil ich sieben Pfund zugenommen hatte. Ich brach in Tränen aus. Das war einzige Mal, das ich während meiner Schwangerschaft weinte.

Die Wahrheit ist, dass ich mir dieses blaue Auge selbst verpasst hatte.

„Alles ist gut. Ich weiß, wie Sie sich fühlen“, sagte sie und versuchte unbeholfen, mich zu trösten. Dennoch war ich mir ziemlich sicher, dass sie überhaupt nicht verstand, warum ich Tränen vergoss. Alles, was ich in diesem Moment tun wollte, war, ins Bad zu rennen und mich zu übergeben. Das Einzige, was mich davon abhielt, war die Tatsache, dass es jetzt nicht mehr nur mein Körper war.
Ich hatte zu viel Angst davor, meine Gynäkologin um eine Überweisung zu einem Therapeuten oder einer Therapeutin zu bitten. Als alleinerziehende Mutter fühlte ich mich schon genau genug unter die Lupe genommen. Ich wollte nicht, dass es so rüberkam, als hätte ich diese Herausforderung nicht bewältigen können.
Ich übergab mich während meiner Schwangerschaft kein einziges Mal. Erst als meine Tochter Lucy sechs Monate alt war, verspürte ich wieder den Drang dazu. Obwohl ich mit meinem Körper nach der Geburt nicht völlig zufrieden war, hatte mein Bedürfnis, mich zu übergeben, mit so viel mehr als meiner eigenen Körperwahrnehmung zu tun. Ich genoss es, die Kontrolle zu haben, wann immer ich mich erbrach. Ich mochte das Gefühl, einen leeren Magen zu haben. Ich hatte keine wirklichen Heißhungerattacken, sondern übergab mich zu unregelmäßigen Zeiten – manchmal nach einer Mahlzeit und manchmal einfach so. Ich machte mir Druck, Geld zu verdienen, Druck, einen Job zu finden, und Druck, eine gute Mutter zu sein. Das Erbrechen fühlte sich seltsamerweise wie eine Form von Selbstfürsorge an. Es ermöglichte es mir, mich schnell besser zu fühlen.
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Mein blaues Auge machte mir klar, dass sich etwas ändern musste. Dieses Mal war ich bei der Therapiewahl sehr vorsichtig. Vorher war jeder Therapeut oder jede Therapeutin, die meine Versicherung akzeptierte und in meiner Nähe arbeitete, in Ordnung. Dieses Mal bat ich andere Mütter um persönliche Empfehlungen. Ich war auf der Suche nach jemandem, der sich auf postnatale Depressionen oder Ängste spezialisierte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich an beiden litt. Außerdem wollte ich mit einer Person zusammenarbeiten, die über umfassende Erfahrung mit frisch gebackenen Müttern verfügte. Sobald ich ein paar Namen hatte, fragte ich nach, wie es denn um ihre Expertise in Sachen Essstörungen stehe: Ich war mir nicht sicher, ob ich mit dem Erbrechen aufhören könnte, wollte aber sichergehen, dass die Therapeut:innen, für die ich mich letzten Endes entscheiden würde, mir mit diesem Problem helfen könnten, ohne dass ich mich überwältigt fühlen würde. Ich wollte auch, dass mein Behandelnder oder meine Behandelnde den Druck versteht, den ich mir selbst mache – da ich mich bereits so schuldig für mein Erbrechen fühlte, brauchte ich eine Person, die hinter mir stehen würde.
Schließlich fand ich jemanden. Anstatt mich darauf zu konzentrieren, micht nicht zu erbrechen, begann ich, mich auf die Stressfaktoren in meinem Leben zu konzentrieren. Einer der größten war mein Job. Deshalb begann ich, mich nach einer neuen Stelle umzusehen und kündigte nach ein paar Monaten. Außerdem stresste ich mich selbst unnötig damit, dass ich alles perfekt machen wollte. Ich bemühte mich, es so aussehen zu lassen, als fiele mir alles einfach leicht, auch wenn das eindeutig nicht der Fall war. Schließlich sollte niemand denken, ich würde als alleinerziehende Mutter versagen. Als meine neuen Freund:innen und ich zum Beispiel ein Grillfest planten, bot ich an, Nachspeisen mitzubringen, anstatt einfach Servietten oder Geschirr zu besorgen. Ich bereitete an diesem Tag fünf Desserts zu, während meine Tochter in der Küche spielte – alles bloß um die anderen „Ich würde das, was du hinkriegst, nie selbst hinkriegen“ sagen zu hören.
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Die wichtigste Lektion, die ich dank meinen Therapie gelernt habe, ist, dass ich mich nicht zu beweisen brauche. Jeder Elternteil – ob alleinstehend, verheiratet oder was auch immer – braucht manchmal ganz einfach Unterstützung. Allmählich begann ich also, Freund:innen zu bitten, auf Lucy aufzupassen. Ich fing damit an, meine Grenzen zu akzeptieren und mich anderen anzuvertrauen, wann immer ich mir Sorgen machte oder mich gestresst fühlte.
Jetzt ist Lucy zwei und mir geht es so viel besser als früher. Ich gehe nicht mehr zur Therapie. Ich bin wesentlich glücklicher und gelassener als an jenem Wintermorgen vor eineinhalb Jahren. Dennoch bin ich nicht „geheilt“. Ich reagiere sehr empfindlich, wenn es um das Thema Gewicht geht. Gespräche darüber, wie man nach einer Geburt die Extra-Kilos am schnellsten wieder verliert, machen mich megasauer; eine harmlose Nachricht von einer Freundin, die mich fragte, ob ich an ihrem Abnehm-Coaching interessiert sei, das sich „auf frisch gebackene Mütter spezialisiere“, führte dazu, dass ich eine wütende Antwort zurückschickte. Darin erklärte ich ihr, wie sehr wir Mütter durch solche Worte getriggert werden können. Ich bin mir sicher, dass Essen für immer ein heikles Thema für mich sein wird. Jetzt weiß ich aber, dass mein Drang, mich zu ergeben, immer dann einsetzt, wenn etwas in meinem Leben nicht mehr stimmt. Es ist ein Zeichen dafür, dass ich vielleicht eine Therapie-Sitzung brauche, um herauszufinden, was denn nicht in Ordnung ist.
Ich spreche sehr offen darüber, wie schwer es war, all diese Herausforderungen zu bewältigen. Ich wünschte nämlich, ich hätte damals gewusst, dass ich nicht allein mit diesen Schwierigkeiten bin, Elternschaft Probleme aus der Vergangenheit wieder in dein Leben zurückbringen kann, und ein Teil davon, ein guter Elternteil zu sein, darin besteht, zu wissen, wann du um Hilfe bitten musst.
Wenn du mit einer Essstörung zu kämpfen hast und Unterstützung benötigst, findest du hier professionelle Hilfe.

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