Ich leide an einem unglaublich nervigen Problem, das mir jeden Filmabend verdirbt. Immer, wenn jemandem auf dem Bildschirm etwas auch nur annähernd Peinliches widerfährt, dreht es mir den Magen um. Meine Muskeln ziehen sich zusammen, als stünde ich unter Strom. Fremdschämen macht mir das Leben manchmal ganz schön schwer. Ich weigere mich zum Beispiel, zu Open-Mic-Shows zu gehen, für den Fall, dass die arme Person auf der Bühne ihr Set vergisst und ich mir am Ende aus Mitgefühl alle Fingernägel abkaue. Wenn ich alleine bin und mir einen Film anschaue, kann ich bei peinlichen Momenten wegsehen oder vorspulen. Wenn ich aber umgeben von Freund:innen bin oder mich im Kino befinde, ist das einfach nicht möglich.
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Mein übertriebenes Mitgefühl für Menschen, die sich in einer peinlichen Situation befinden, belastet mich seit Langem, aber besonders seit der Pandemie – eine Zeit, in der es nicht viel anderes zu tun gibt, als auf dem Sofa zu liegen, Filme zu schauen und Chips zu essen. Meine Mitbewohner:innen und ich machten es uns kürzlich für unsere wöchentliche Dosis RuPaul's Drag Race auf der Couch gemütlich. In einer Szene wurde Utica Queen so durch den Kakao gezogen, dass meine Haut sofort begann, aus Fremdscham zu jucken. Ich schämte mich so sehr, dass ich mir die Hände über die Ohren halten und mit den Fingern auf den Hinterkopf klopfen musste, um die megapeinlichen Kommentare nicht länger hören zu können. Mit nur leicht geöffneten Augen versuchte ich, zu herauszufinden, wann diese Tortur endlich vorbei sein würde.
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Beim Nachempfinden von körperlichem Schmerz werden die gleichen Bereiche im Gehirn aktiviert wie in peinlichen Momenten.
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Ich bin aber nicht die Einzige, der es so geht. Ich sprach mit der 24-jährigen Studentin Natalie übers Fremdschämen und darüber, wie sie sich dabei fühlt.
„An einem Valentinstag saß ich mit 100 anderen Leuten im Vorlesungssaal. Plötzlich stolzierte dieses Mädchen während der Vorlesung mit einer Rose im Mund hinein“, erzählte Natalie und erschauderte beim bloßen Gedanken daran. „Sie stellte sich vorne im Hörsaal hin und wollte einige Worte an ihre Freundin, die irgendwo in der Menge saß, richten. Der Dozent starrte sie an, öffnete einfach die Tür und begleitete sie wortlos hinaus. Sie verließ den Raum mit gesenktem Kopf. Mir war noch nie etwas so peinlich gewesen wie in diesem Moment. Dabei war es nicht einmal ich gewesen, die sich zum Affen gemacht hatte.“
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Beim Fremdschämen handelt es sich zweifelsfrei um ein Phänomen, das eine enorme Wirkung auf Menschen haben kann. Manchmal kann es sogar körperliche Symptome wie Schweißausbrüche verursachen. Was also ist Fremdscham aus einer psychologischen Perspektive eigentlich, und warum ist dieses Gefühl so extrem unangenehm?
Ich sprach mit der Psychotherapeutin Emma Azzopardi darüber, was in unserem Gehirn passiert, wenn wir uns stellvertretend für jemanden schämen.
„Wie ausgeprägt unsere Fähigkeit zum Fremdschämen ist, hängt davon ab, wie sehr wir uns in die Gefühlslage einer anderen Person versetzen können“, erklärte sie. „Für uns als soziale Wesen ist Empathie eine Schlüsseleigenschaft, die wir entwickelt haben, um als Teil einer Gemeinschaft in Harmonie mit den Menschen um uns herum leben zu können. Wenn wir peinliche Situationen miterleben, werden hauptsächlich zwei Areale unseres Gehirns aktiviert: zum einen die linke anteriore Insula (wichtig für das Selbst-Bewusstsein) und zum anderen der anteriore zinguläre Cortex (regelt die emotionale Reaktion auf Schmerz). Diese Bereiche sind dafür verantwortlich, dass wir ‚sozialen Schmerz‘ anderer nachempfinden können.“
Sich fremdzuschämen ist also eine physiologische Reaktion, die auftritt, wann immer wir andere Menschen in einer für sie schmerzhaften Situation miterleben und ihre Schamgefühle nachempfinden können. Beim Nachempfinden von körperlichem Schmerz werden die gleichen Bereiche im Gehirn aktiviert wie in peinlichen Momenten. Da empathische Menschen sich sehr gut in die Lage anderer Menschen hineinfühlen können, ist ihre Fähigkeit zum Fremdschämen auch ausgeprägter.
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„Wie sehr du dich fremdschämst, hängt direkt damit zusammen, wie empathisch du bist“, sagte der Psychologe Lee Chambers. „Die Fähigkeit, uns in die unangenehme Lage anderer hineinzufühlen, macht es erforderlich, uns vorzustellen zu können, wie diese denken und fühlen. Es erfordert auch, dass wir uns der sozialen Normen, die in der jeweiligen Situation gebrochen werden, bewusst sind. Empath:innen verfügen über ein intensives Einfühlungsvermögen und haben keinen Schutzwall nach außen, was bei anderen sehr wohl der Fall ist. Sie reagieren empfindlich auf äußere Stressfaktoren und sind schnell sensorisch überstimuliert. Empathie liegt Fremdscham zugrunde. Je empathischer eine Person, desto intensiver die nachempfundenen Schamgefühle.“
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Wie sehr du dich fremdschämst, hängt direkt damit zusammen, wie empathisch du bist.
Lee Chambers
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Nicht alle von uns haben aber Mitleid mit anderen. Der 22-jährige Greg verspürt nicht das Bedürfnis, jedes Mal wegzulaufen, wenn er miterlebt, wie einer anderen Person etwas Peinliches widerfährt. Im Gegenteil: Greg bereitet es Freude, zu beobachten, wie andere ins Fettnäpfchen treten.
„Ich liebe Comedy, die sich über andere lustig macht. In meinem Alltag schäme ich mich regelmäßig für die dummen Dinge, die ich manchmal tue oder sage. Mich hinzusetzen und zuzusehen, wie jemand anderem etwas viel Peinlicheres passiert, fühlt sich gut an und meine eigenen Blamagen scheinen viel unbedeutender“, erklärt Greg.
Offensichtlich leidet nicht jede:r in gleichem Maße wie ich unterm Fremdschämen, wie uns die Popkultur immer wieder vor Augen führt. Talent-Shows zum Beispiel leben davon, Teilnehmer:innen zu präsentieren, die sich vor unzähligen Zuseher:innen völlig zum Affen machen. Schadenfreude trägt hier eindeutig zum Erfolg solcher Formate bei.
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Der Psychotherapeut James Hartley erklärt, warum manche Menschen (wie ich) den Raum verlassen müssen, sobald der Fremdschampegel zu hoch wird, während andere zum Popcorn greifen.
„Es ist am einfachsten, Peinlichkeit und Empathie auf einem Spektrum zu betrachten. Manche Menschen fühlen sich extrem unwohl dabei, sich Shows oder Filme anzuschauen, in denen andere auf die Nase fallen“, sagte er. „Bei anderen wiederum kann das Gegenteil der Fall sein. Das kann damit zu tun haben, dass eine Person ganz einfach genetisch nicht besonders empathisch ist oder ohne allzu viel Empathie großgezogen wurde. Es kann aber auch sein, dass solche Menschen ganz einfach gelernt haben, sich besser nach außen hin abzugrenzen. Es gibt mehrere Gründe dafür, warum manchen von uns nicht zum Lachen ist, wann immer sie miterleben, wie sich eine andere Person blamiert. Dazu müssen wir nämlich in der Lage sein, uns in ein ähnliches Szenario hineinzuversetzen, um den humorvollen Aspekt der Situation zu schätzen. Wenn wir uns auf der Empathieskala aber ziemlich weit unten befinden, ist es unwahrscheinlich, dass wir besonders viel Mitgefühl für die Person, die sich blamiert, aufbringen können.“
Wie es scheint, ist Fremdschämen ein Phänomen, das jede:n auf unterschiedliche Weise betrifft und dessen Ausmaß damit zusammenhängt, wie stark du die Emotionen anderer im Allgemeinen nachempfinden kannst. Nur weil du vielleicht vergleichsweise eher weniger empathisch bist, bedeutet das noch lange nicht, dass du herzlos oder unfähig bist, Mitgefühl für andere zu haben. Es bedeutet nur, dass du deine eigenen Emotionen klar von denen anderer trennen kannst – was seine Vor- und Nachteile haben kann. Wäre ich weniger empathisch, würden mich die peinlichen Momente meiner Mitmenschen zwar weniger stressen, gleichzeitig könnte ich dann aber auch ihre Freude wenig intensiv nachempfinden. Wie bei allen Verschrobenheiten kann stark ausgeprägte Empathie sowohl ein Segen als auch ein Fluch sein. So oder so, sind wir uns alle bestimmt in einem Punkt einig: Utica sollte für eine Weile aus dem Rampenlicht treten.