Am 28. Februar 2020 schickte er mir auf Tinder ein GIF aus Alice im Wunderland.
Das weiß ich deswegen noch so genau, weil das mein letztes normales Wochenende war, bevor Corona in Südafrika ankam, wo ich wohne. An diesem Abend war ich auf einer Geburtstagsparty, ließ mich total volllaufen und antwortete ihm erst am nächsten Tag auf seine Tinder-Nachricht.
Innerhalb von fünf Nachrichten wurde mir klar, dass ich sehr viel mit diesem Typen gemeinsam hatte, den ich hier Max nenne. Wir hatten an derselben Uni studiert, sogar im selben Studiengang (obwohl er zwei Jahre vor mir den Abschluss gemacht hatte). Wir waren beide Autor:innen und hatten ähnliche Weltanschauungen. Nicht mal eine Woche nach unserem Match tauschten wir unsere Manuskripte aus. Anstatt mich also auf eine bevorstehende Arbeitsdeadline zu konzentrieren, blieb ich ewig wach, weil ich die ersten Kapitel seines Science-Fiction-Romans lesen wollte.
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Es dauerte nicht lange, bis Max und ich uns circa 100 Nachrichten am Tag schrieben. Mein Handy zeigte mir, dass ich pro Tag alleine schon fünf Stunden bei WhatsApp verbrachte. Wenn ich ihm abends vorm Schlafengehen schrieb, erwartete mich beim Aufwachen schon seine Antwort.
Max und ich wohnten ungefähr eine Stunde voneinander entfernt, aber etwa eine Woche nach unserem Match fragten mich meine Großeltern, ob ich ein Wochenende mit ihnen in einer Ferienwohnung am Strand verbringen wollte – in der Nähe von Max’ Wohnort. Er und ich planten also, uns an diesem Wochenende zu treffen. Ein paar Tage davor wurde allerdings der erste COVID-Fall in Südafrika bestätigt, und am Morgen unseres geplanten Treffens wachte ich mit Kopfschmerzen, leichtem Fieber und dicken Mandeln auf. Ich musste absagen.
Max reagierte verständnisvoll und hilfsbereit. Ich verbrachte den Großteil des Tages im Bett; wann immer ich aufwachte, warteten ein paar Nachrichten von ihm auf mich, in denen er sich nach mir erkundigte. Er schlug mir ein virtuelles Date vor, und wir einigten uns darauf, „zusammen“ Marriage Story zu gucken. Während der Film lief, schrieben wir über die Größe von Adam Drivers Nase und wie absurd es war, dass das Lieblingsessen seines Charakters ein Salat sein sollte. (Wer mag denn bitte keine Kohlenhydrate?)
Kurz nach unserem abgesagten Date ging dann auch Südafrika in einen harten Lockdown. Niemand außer systemrelevanten Angestellten durfte das eigene Zuhause noch verlassen, außer zum Einkaufen. Max und ich hatten keine Ahnung, wann wir uns jemals treffen sollten. Wir stellten uns beide vor, zusammen in Quarantäne zu gehen oder uns in Schutzanzügen zu daten. „Sobald das alles vorbei ist, treffen wir uns auf einen Drink und dann küsse ich dich, halte deine Hand und dann machen wir viele kitschige Fotos zusammen, okay?“, schrieb Max.
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Wir machten Witze darüber, wir hätten einander verzaubert. Ich kapierte selbst nicht, wieso mir jemand so wichtig war, den ich nie getroffen hatte. Ich war kein Tinder-Neuling gewesen, als Max und ich uns matchten, und ich hatte auch eigentlich immer mehr Glück beim Real-Life-Dating gehabt: Bei Dating-App-Matches wurde mir nach oberflächlichem Small Talk schnell langweilig. Irgendwann vergaß ich immer zu antworten, und das Match verlief normalerweise im Sand, bevor wir es überhaupt zu einem echten Date schafften.
Mein starkes Interesse an Max deutete ich als Zeichen, dass ich jetzt endlich „den Richtigen“ getroffen hatte. Trotzdem fand ich es merkwürdig, als er mich bald schon „Baby“ und „meine Liebste“ nannte, weil wir ja erst seit ein paar Wochen miteinander schrieben. Andererseits war ich eben total besessen von ihm – und er ja dann scheinbar auch von mir, oder?
Zu diesem Zeitpunkt sah ich den Lockdown lediglich als kleines Hindernis für meine Beziehung mit Max. Anstatt mich von der Pandemie total aus der Bahn werfen zu lassen, träumte ich schon von unserem zukünftigen gemeinsamen Alltag, und trotz der nicht enden wollenden schlechten Corona-Nachrichten war ich voller Glückshormone.
Das änderte sich aber etwa einen Monat, nachdem Max und ich uns kennengelernt hatten. Seine Nachrichten wurden schlagartig deutlich kühler. Ich glaubte anfangs, er habe einfach einen schlechten Tag und sein neuer Ton mit mir nichts zu tun – ich war schließlich sein „Baby“, seine „Liebste“. Doch dann kam der Schlag. Er schrieb mir kurz darauf: „Tut mir leid, falls ich in letzter Zeit anders wirke. Ich schreibe echt gerne mit dir und du bist mir voll wichtig, aber ich weiß nicht, ob wir nicht ein bisschen vorschnell waren.“
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Ich war total baff. Max hatte schließlich immer den ersten Schritt gemacht – deswegen war ich mir bis zu dieser Nachricht zu 100 Prozent sicher gewesen, dass er meine Gefühle erwiderte. Das sagte ich ihm auch und wollte wissen, was seine Zweifel denn jetzt für uns bedeuteten. „Ich hinterfrage gerade alles. Vielleicht ist es besser, wenn wir erstmal eine Pause machen“, schrieb er zurück.
Ich fühlte mich wie betäubt, betrogen. Wie hatte Max es sich so schnell anders überlegen können? Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Ich war fest davon überzeugt gewesen, das mit uns sei was Besonderes. Hatte ich mir das alles nur eingebildet?
Vier Tage, nachdem Max effektiv mit mir Schluss gemacht hatte, konnte ich noch immer nicht schlafen, hatte keinen Appetit. Bei der Arbeit war ich deutlich unproduktiver als sonst und musste meine Klient:innen darum bitten, diverse Deadlines nach hinten zu verschieben. Ich stalkte seinen Twitter-Account, auf der Suche nach einer Erklärung für seinen plötzlichen Umschwung. Warum wollte er nichts mehr mit mir zu tun haben? War er noch in seine Ex verliebt? War ich nur ein Experiment gewesen – oder, noch schlimmer, ein Spiel? Ich hatte keine Antwort auf all diese Fragen und würde von ihm auch keine bekommen, also suchte ich verzweifelt in seinen kryptischen Tweets danach. Die verrieten mir jedenfalls, dass Max scheinbar immer noch eine frische Trennung zu verdauen schien. Das mit uns war vermutlich nur sein Versuch gewesen, eine Beziehung auf mich zu projizieren. Als das nicht geklappt hatte, hatte er den Schlussstrich gezogen. Diese Erkenntnis machte es mir aber nicht leichter, das Ganze zu verdauen.
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In der Woche nach Max’ Trennungs-Nachricht verließ ich mich auf den (virtuellen) Support meiner Freund:innen, die mein gebrochenes Herz nie anzweifelten, bloß weil ich den Auslöser dafür nie persönlich getroffen hatte. Stattdessen versicherten sie mir, meine Reaktion sei völlig normal, und es würde schon alles wieder gut werden.
Eine weitere Woche verging, und meine Freund:innen hörten irgendwann damit auf, mir die trennungstypischen „Wie geht’s dir inzwischen?“-Fragen zu stellen. Das konnte ich aber nachvollziehen. Vermutlich ging ihnen dasselbe wie mir durch den Kopf: dass ich den Kerl ja nie getroffen hatte. Dass wir ja nur einen Monat miteinander geschrieben hatten. Dass ich ihn sicher bald vergessen würde. Ich sagte mir selbst: Hey, ganz viele Leute machen gerade echte Trennungen durch. Und was auch immer Max und ich gehabt hatten – es war nicht echt gewesen. Wie hätte es das denn auch sein sollen? Schließlich hatten wir ausschließlich via Text kommuniziert.
In der Zeit fing ich dann auch langsam wieder mit dem Dating an. Ich verabredete mich zu Zoom-Dates und, als die Corona-Zahlen in Südafrika langsam wieder sanken, später auch zu echten. Zum ersten Mal in meinem Leben datete ich mit einer gewissen Achtsamkeit. Ich hatte ein neues Selbstbewusstsein entwickelt. Mein Liebesleben machte mir Spaß – und obwohl viele der Menschen, die ich kennenlernte, intelligent, interessant und charmant waren, hielt keine dieser Bekanntschaften länger als drei Dates. Eine:r von uns – oder beide – begriff nämlich irgendwann: Ich empfand dabei nichts.
Wenn ich ganz ehrlich bin, war ich noch nicht über Max hinweg. Auch Monate nach der Trennung hoffte ich heimlich, dass wir uns zufällig über den Weg laufen würden, wann immer ich in seiner Stadt war. Wenn ich ihn nur sehen könnte, würde mir das vielleicht dabei helfen, mit ihm abzuschließen – oder vielleicht würde es zwischen uns funken. Ich wusste nur: Ich brauchte irgendwas von ihm. Und nach einer Weile erstaunte mich dieses Bedürfnis selbst. Selbst der Herzschmerz nach „echten“ Trennungen hatte mich nie so lange begleitet. Wieso fiel es mir so schwer, Max hinter mir zu lassen?
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Im Laufe des letzten Jahres hatte ich viele kleine Momente der Erleuchtung, die mir darauf eine Antwort geliefert haben. Einer davon war der, in dem mir klar wurde, dass Max mit mir echtes Love Bombing durchgezogen hatte: Er hatte mir vorgegaukelt, ich sei die schönste, intelligenteste Person, die er je getroffen habe. So viel guter Zuspruch, so viel Aufmerksamkeit, und all das in so kurzer Zeit – kein Wunder, dass es mir schwer fiel, diesen Dopaminrausch zu vergessen.
Max hatte für mich jede romantische Fantasie erfüllt, von der ich vorher sicher gewesen war, sie längst hinter mir gelassen zu haben. Er hatte mir Komplimente gemacht, mir Bestätigung gegeben, mir aufmerksam zugehört. Er hatte ganz offen mit mir über geistige Gesundheit, Therapie und persönliche Probleme sprechen können. Er war der perfekte Mann für mich gewesen.
Aber – und das war meine zweite schmerzhafte Erkenntnis – ich hatte immer nur einen Teil von ihm gesehen. Zu Beginn einer Beziehung projizieren wir oft unsere Fantasien auf unsere neuen Partner:innen und begreifen erst mit der Zeit, dass das genauso unvollkommene, komplexe Individuen sind wie wir selbst. So weit kam es bei uns nur nie. Ich hatte nie die Chance, Max’ Fehler zu erkennen. Stattdessen war er für mich die Verkörperung einer intensiven Fantasie gewesen. Natürlich war es da schwerer, jemanden ziehen zu lassen, der in meinen Augen so perfekt gewesen war. Dabei hatte ich versucht, mit jemandem abzuschließen, der nie wirklich existiert hatte – und das einzusehen, half mir, die Beziehung abzuhaken.
Max’ letzte Nachricht ist jetzt fast ein Jahr her, und ich sehne mich zum Glück nicht mehr nach dem „Abschluss“ oder dem Kontakt zu ihm, den ich mir monatelang gewünscht hatte. Außerdem habe ich gelernt, mich selbst nicht mehr dafür zu verurteilen, dass ich so lange dafür brauchte, eine Beziehung mit jemandem zu verarbeiten, den ich nie getroffen hatte. Ich bin mir sicher, dass ich irgendwann jemanden kennenlerne, der mich so fühlen lässt, wie Max es tat. Nur wird das dann viel besser – weil es diese Person wirklich gibt.
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