Zurzeit weiß ich nie, was der nächste Tag so bringen wird. Eines ist aber sicher: Kein Tag vergeht, ohne dass ich eine neue Art von Müdigkeit entdecke – erschöpft, aber unfähig zu schlafen, extrem müde, aber aufgedreht, kaum in der Lage, den Kopf zu heben, träge, aber ok. Hinzu kommt, dass jetzt langsam alle wieder damit anfangen, Pläne zu schmieden, während ich mich immer noch die meiste Zeit frage, was wohl als Nächstes passieren wird. Meine beste Freundin hat im Januar ein Baby zur Welt gebracht, das ich bisher nur einmal gesehen habe. Ihr Sohn ist in der Zwischenzeit zu einem winzigen Menschen herangewachsen. Er ist schon zu groß für die Kleidung, die ich ihm schenken wollte. Unser Lebensrhythmus beschleunigt sich langsam: Wir hatten zu viel freie Zeit zur Verfügung und jetzt haben wir scheinbar nicht genug davon. All dieses Planen um mich herum macht mich nur noch müder. Schleicht sich etwa ein Burnout an oder habe ich vielleicht Long-COVID?
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„Schauen Sie noch Grey's Anatomy?“, fragt mich Netflix. Jein.
Diese Antwort beschreibt den Schwebezustand, in dem ich mich befinde: zu müde, um rauszugehen, nicht müde genug, um schlafen zu können. Mein jetziges Leben ist nicht mehr das, was es vor der Pandemie war: Damals verlangten meine damaligen Umstände mir viel ab. Jetzt aber muss ich mich mit ständig wechselnden Corona-Regeln, verheerenden Todesfällen, der Sorge um meine Lieben, sozialen Spannungen, wirtschaftlicher Unsicherheit und nervigen Twitter-Debatten herumschlagen, während ich gleichzeitig versuche, herauszufinden, wie eine bessere Welt aussehen könnte, und dabei auch noch Pläne zu machen für die Zeit, wenn unsere Leben wieder ihren normalen Lauf nehmen können.
Meine Gemütslage ist aber alles andere als ungewöhnlich für die Zeiten, in denen wir gerade leben: Die Pandemie hatte verheerende Auswirkungen auf unser Wohlbefinden und unsere psychische Gesundheit. Anfang dieses Jahres machten Psycholog:innen darauf aufmerksam, dass immer mehr Menschen darüber klagen, dass sie sich aufgrund von anhaltendem Stress ausgelaugt fühlen und nicht mehr mit der Situation zurechtkommen. Fachleute bezeichnen dieses Phänomen als „Pandemie-Burnout“.
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Wir wissen, dass chronische Erschöpfung eine Folge von Dauerstress sein kann. Ich persönlich stelle mir das wie einen Ultramarathon ohne klare Ziellinie vor, im Gegensatz zu einem 100-Meter-Sprint.
Dr heather Sequeira
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Während jede:r von uns das letzte Jahr auf unterschiedliche Weise erlebte – je nachdem, wer wir sind, was wir tun, wie viel Geld wir haben und wie viel Pech wir hatten –, haben unsere Körper den Kummer, die Wut, die Unsicherheit und den Stress auf ähnliche Art verarbeitet. Die klinische Psychologin Dr. Linda Blair erklärt, dass wir alle momentan ausgelaugt sind und uns erschöpft fühlen. „Unser Gehirn verfügt über ein Gefahrenerkennungssystem namens Amygdala“, erklärt sie mir am Telefon. „Während der letzten 14 Monate war es die meiste Zeit in höchster Alarmbereitschaft, was gemeinhin als Kampf-oder-Flucht-Modus bekannt ist. Normalerweise handelt es sich dabei aber nur um eine vorübergehende Reaktion auf eine unmittelbare Bedrohung, nicht etwas, das so lange anhält, wie es jetzt der Fall ist. Viele meiner Klient:innen klagen über die gleiche extreme Müdigkeit wie du. Sie stecken in einem Zwischenzustand fest, weil sie ständig Angst vor der Ungewissheit und das Gefühl haben, dass sie nicht wirklich wissen, wohin sie gehen oder was sie als Nächstes tun sollen.“
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Seit über einem Jahr sind wir nun schon gezwungen, diese emotionale Achterbahnfahrt mitzumachen und uns vor möglichen Gefahren in Acht zu nehmen. Was anfangs als eine vorübergehende Ausnahmesituation galt, ist für uns zum neuen Normalzustand geworden. Tragt einen Mund-Nasen-Schutz. Tragt doch keinen. Gesichtsmasken schützen vielleicht gar nicht wirklich. Wascht euch die Hände. Singt währenddessen „Happy Birthday“. Das Virus wird wahrscheinlich durch die Luft übertragen. Weihnachtsfeiern dürfen unter bestimmten Umständen stattfinden. Weihnachten ist abgesagt. Trefft euch mit niemandem außerhalb eures Haushalts. Die Lage verbessert sich. Die Situation verschlechtert sich.
Diese Faktoren, sagt Linda, haben sich psychologisch und physiologisch auf uns ausgewirkt. „Wann immer ein Säugetier Gefahr wittert, bereitet unser Körper uns darauf vor, mit dieser Gefahr umzugehen“, erklärt sie. „Ein Teil unserer Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist die Produktion von Cortisol und Adrenalin, die uns darauf vorbereiten, das Objekt, das eine Bedrohung für uns darstellt, abzuwehren oder davor wegzulaufen. Wenn das über eine längere Zeit hinweg passiert – besonders, wenn die Bedrohungen theoretisch sind, wie z. B. ‚Du könntest am Virus sterben‘ – ist der Cortisolspiegel nonstop zu hoch. Das hat natürlich Konsequenzen.“
Dieses Gefangensein in einem Hamsterrad der Angst, fügt Linda hinzu, kann zu einem körperlichen Burnout führen. Betroffene sind nicht mehr in der Lage, eine ausreichende Menge der benötigten Hormone zu produzieren, was auch als Hypocortisolismus bezeichnet wird. Studien deuten darauf hin, dass dieser Zustand bei einigen Menschen mit langfristigem psychosozialen Stress und Burnouts zusammenhängt.
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Linda ist nicht die einzige Psychologin, die besorgt ist. Dr. Heather Sequeira, eine beratende Psychologin, sagt, dass wir uns trotz der Verbreitung des Begriffs „Burnout“ daran erinnern müssen, dass es sich dabei um ein Syndrom handelt, das wir ernst nehmen müssen.
Obwohl es sich bei einem Burnout nicht um eine offizielle medizinische Erkrankung handelt, wird es von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Syndrom definiert. Laut WHO ist die Ursache dafür chronischer Stress (bei der Arbeit), der nicht erfolgreich bewältigt wurde. Die Symptome sind meist ein Gefühl von Müdigkeit oder Erschöpfung.
„Wir wissen, dass chronische Erschöpfung eine Folge von Dauerstress sein kann“, erklärt Heather. „Ich persönlich stelle mir das wie einen Ultramarathon ohne klare Ziellinie vor, im Gegensatz zu einem 100-Meter-Sprint. Biologisch gesehen sind wir Menschen so gebaut, dass wir ‚Sprints‘, also kurzfristige intensive Belastungen, gefolgt von einer Erholungsphase, bewältigen können. Deshalb kommen wir in der Regel gut mit akuten hohen Belastungen wie Prüfungen oder Abgabeterminen bei der Arbeit zurecht. Da sie in der Regel zeitlich begrenzt sind, können wir uns im Anschluss entspannen, wieder zu Kräften kommen und abschalten. Die Anforderungen, die die Pandemie an uns stellt, insbesondere im Bereich der Arbeit, sind aber ganz anders und vor allem langanhaltend.“
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Wenn es sich kontraintuitiv anfühlt, von der einen Sache erschöpft zu sein, auf die du dich die ganze Zeit über gefreut hast – die Welt öffnet sich (zum Teil) wieder, denk daran: Auch Dinge, die wir nicht sofort mit Stress in Verbindung setzen würden, sind stressig.
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Wenn es sich kontraintuitiv anfühlt, von der einen Sache erschöpft zu sein, auf die du dich die ganze Zeit über gefreut hast – die Welt öffnet sich (zum Teil) wieder –, denk daran: Auch Dinge, die wir nicht sofort mit Stress in Verbindung setzen würden, sind stressig.
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„Derzeit sind wir mit vielen Phänomenen konfrontiert, die man im traditionellen Sinne nicht unbedingt als ‚stressig‘ bezeichnen würde“, erklärt Heather. „Dazu gehören Zoom-Calls, das Arbeiten von zu Hause aus, der Wechsel vom Alleinsein zu Hause zur Erwartung, bald wieder unter Leute zu gehen, und sogar Langeweile.“
Wir alle geben uns Mühe: Wir versuchen, mit dieser schwierigen Situation zurechtzukommen, wieder unter Menschen zu gehen und die Welt draußen neuzuentdecken. Dafür müssen wir den ganzen und jeden Tag ganz schön viel Energie aufwenden. Das zehrt an unseren Kräften. Was einst unserer Entspannung diente – sich mit Freund:innen nach einem anstrengenden Tag zu treffen –, kann sich nun wie das Gegenteil einer Verschnaufpause anfühlen (ständig darauf zu achten, dass du auch ja alle Corona-Regeln befolgst, in jeder Person, die dir über den Weg läuft, eine potenzielle Gefahr zu vermuten, etc.). Lass es also ruhig angehen und sei nachsichtig mit dir selbst.
„Die Lage bessert sich langsam und die Dinge nehmen allmählich wieder ihren normal Lauf – auch wenn sich die gegenwärtigen Umstände noch deutlich von den Zeiten vor der Pandemie unterscheiden. Somit erwarten uns neue, weitere Stressfaktoren: erhöhte Unsicherheit, mehr Zeit mit anderen Menschen (was sowohl Stress als auch Spaß mit sich bringt), neue Arbeitsbedingungen und ein Mangel an Klarheit und Gewissheit in vielen Lebensbereichen“, sagt Heather. „All das kommt zusätzlich zum Stress hinzu, durch den einige Personen während der letzten Monate bereits ausgebrannt sind. In den nächsten Wochen und Monaten werden sich manche von uns in einer teuflischen Spirale aus verminderter Belastbarkeit und nicht optimaler Reaktion auf stressige Situationen wiederfinden. Das eine führt nämlich zum anderen.“
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