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Mein beruflicher Neid ist völlig außer Kontrolle

Foto: Jessica Garcia
Ich leide unter beruflichem Neid. Argh, da ist sie schon wieder. Wie kriegt sie immer so viele Posts hin? Diese Gedanken rasen mir durch den Kopf, während ich mich so durch meinen Instagram-Feed scrolle, der immer mehr zu einer Galerie aus Leuten wird, die beruflich mehr Erfolg haben als ich. Immer wieder klicke ich auf ihre Profile, um zu sehen, wie viele Follower sie mir voraus sind. Und weil ich damit einfach nicht aufhören kann, habe ich mir in unfreiwilliger Zusammenarbeit mit Instagrams Algorithmus meinen  ganz persönlichen Albtraum-Feed zusammengebastelt, der mir jeden Tag Leute zeigt, die beruflich dasselbe machen wie ich, aber so viel erfolgreicher darin sind. 
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Ich bin dabei nicht bloß neidisch darauf, dass sie mehr Follower haben oder mehr Geld verdienen als ich; nein, scheinbar machen sie auch einfach mehr als ich. Mich laugt es kreativ schon total aus, jede Woche das absolute Arbeitsminimum zu schaffen, und ich kapiere nicht, wie sie so oft, so viel kreieren können.
Ich bin eine 32-jährige Autorin, Karrierecoach und Beraterin mit über einem Jahrzehnt Arbeitserfahrung – und weiß daher, dass diese Gefühle kompliziert sind. Trotzdem messe ich Erfolg in Followerzahlen, Output und Newsletter-Abonnent:innen. Immer wieder refreshe ich meine Seiten, als könnte ich die Follower- und Subscriber-Zahlen dadurch magisch in die Höhe treiben. Dann lege ich mein Handy für ein paar Minuten beiseite, nur um kurz danach wieder danach zu greifen. Und dann stoße ich auf jemanden mit einem Podcast, der viel erfolgreicher läuft als meiner und einen brandneuen Sponsor hat. Wenn ich mir den Podcast dann anhöre und zwischendurch Werbung kommt, geht mir durch den Kopf, wie viel Geld die einbringen muss – aber nicht mir. Und dann kann ich mich gar nicht mehr darauf konzentrieren, worum es in dem Podcast eigentlich geht.
Vor der Pandemie lief meine kreative Karriere super, und ich konnte gut davon leben. Seit dem letzten Jahr werden Marketing-Budgets allerdings überall gedrosselt, Sponsoren-Deals zurückgezogen. Es fühlt sich an, als würden die begrenzten Ressourcen nur einer Handvoll Leute zufließen, bei denen es eh schon immer gut lief. Der Erfolg ist definitiv eine Pyramide, und ich habe den Eindruck, wieder auf die unterste Stufte gerutscht zu sein.
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So ging es mir aber nicht immer. Vorher war ich zufrieden mit meinem Job; meine Arbeit erfüllt mich und als Karrierecoach helfe ich Leuten genau bei solchen Problemen wie dem Druck, sich immer mit anderen vergleichen zu wollen. Aber nur, weil ich weiß, was ich dagegen tun könnte, heißt nicht, dass ich es auch tue. Und vor allem in den letzten Lockdown-Monaten bemerke ich, dass mein beruflicher Neid komplett aus dem Ruder läuft.

Ich will die Arbeitsversion des perfekten Lebens – also Geld und berufliche Erfüllung –, und es fällt mir schwer, die zu sehen, die es diese Ziellinie schon erreicht haben.

Obwohl die Corona-Beschränkungen allmählich gelockert werden, bleibt meine Welt weiterhin sehr klein, und meine Arbeit steht dabei im Zentrum meines Lebens. Weil Co-Working, Vor-Ort-Meetings und Live-Veranstaltungen noch immer im Alltag fehlen, ist mein Arbeitsleben nicht mehr so intensiv wie früher. Seit über einem Jahr existieren wir jetzt primär zu Hause und im Netz – und obwohl ich plötzlich mehr Zeit denn je hatte, fehlte mir einfach für alles die Energie. Also scrollte ich mich immer weiter, während mein Selbstbewusstsein zunehmend verpuffte und mein Neid wuchs und wuchs. 
Eins der Symptome von arbeitsbedingtem Burnout ist die Enttäuschung vom eigenen Job, weil du nicht das rausbekommst, was du reinsteckst. Und wie sollten wir uns nach diesem vergangenen Jahr nicht so fühlen? Es bieten sich gerade noch weniger tolle berufliche Gelegenheiten als sonst, und unsere Bemühungen kommen uns manchmal vielleicht total sinnlos vor – schließlich haben wir alle irgendwann die Schnauze voll davon, in einer Email nach der anderen um mehr Gehalt zu betteln. Vor der Pandemie sah das bei mir aber noch anders aus. Regelmäßig flatterten Emails in mein Postfach, die mir spannende Chancen eröffneten und mir so die finanzielle Freiheit ermöglichten, mir meine Projekte selbst nach Lust und Laune auszusuchen.
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Diese Pandemie machen wir gerade alle durch, aber unsere individuellen Erfahrungen damit unterscheiden sich je nach unseren persönlichen Umständen. Genau deswegen hat sich bei vielen inzwischen eine gewisse Missgunst denen gegenüber aufgebaut, deren Situation besser zu sein scheint als die eigene. Ich zum Beispiel bin neidisch auf Leute, die sich ein Haus mit Garten leisten können, oder deren Arbeits- nicht gleichzeitig das Schlafzimmer ist, oder auf Leute mit einem festen Vollzeitjob und der Sicherheit eines monatlichen Lohns. Außerdem hatte ich mehr Zeit, um mir darüber Gedanken zu machen, was ich mir von meinem Leben erhoffe – und ohne ein höheres Einkommen werde ich mir viele meiner Wünsche nie ermöglichen können. Ich will die Arbeitsversion des perfekten Lebens – also Geld und berufliche Erfüllung –, und es fällt mir schwer, die zu sehen, die es diese Ziellinie schon erreicht haben. 
Dabei bemerken aber gerade nicht nur Leute, die wie ich im Internet arbeiten, eine Verschlimmerung des Erfolgsneids. Die 34-jährige Tamara*, Brand-Managerin im Gesundheitswesen, erzählt mir: „Mein Job war für mich schon immer von hoher Priorität, aber während der Pandemie wurde er zu meinem Lebensschwerpunkt.“ 
„Im letzten Jahr habe ich außerdem meine Entwicklung im Vergleich zu meinen Kolleg:innen stark kritisiert“, sagt sie weiter. „Das habe ich zwar immer schon gemacht, aber jetzt hatte ich einfach so viel mehr Zeit, um rumzusitzen und zu grübeln.“

„Im Lockdown hatten wir die Möglichkeit, in vielerlei Hinsicht die Bedeutung unseres Lebens zu hinterfragen. Was bedeutet unser Leben für uns? Sind wir erfüllt? Entfalten wir unser ganzes Potenzial?“

JODIE CARISS
Mit einer Aussage trifft Tamara bei mir direkt ins Schwarze: „Wir wollen uns alle wichtig und wertvoll fühlen – aber besonders während unsicherer Zeiten. Deswegen bemerke ich den Neid vor allem, wenn einige Jobchancen und Projekte nicht an mich, sondern an andere gehen.“
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Wie auch ich ist Tamara insbesondere neidisch auf die Energie, die manche Leute zu haben scheinen – obwohl Studien bewiesen haben, dass uns der Lockdown ablenkt, ermüdet und verlangsamt. „Manchmal wollte ich anderen gar nicht zeigen, wie fertig ich war, und war dann total neidisch auf die, die jeden Tag nur am Lächeln waren“, erzählt sie. „Wie geht das überhaupt?!“ Ich weiß genau, was sie meint. Bei meinen (zum Glück seltenen) Zoom-Meetings bin ich noch gut drauf, aber wenn es darum geht, auf Social Media zu posten, gerate ich ins Straucheln.
Ich habe die Psychologin und Gründerin des Mental-Health-Services Self Space Jodie Cariss gefragt, ob sie mir das erklären könne. Sie meint: „Im Lockdown hatten wir die Möglichkeit, in vielerlei Hinsicht die Bedeutung unseres Lebens zu hinterfragen. Was bedeutet unser Leben für uns? Sind wir erfüllt? Entfalten wir unser ganzes Potenzial?“ Jodie sagt, unter ihren Klient:innen und Patient:innen sind viele dabei, die neidisch auf andere sind, deren Arbeit offenbar einen tieferen Sinn hat; andere hingegen sind eher neidisch auf den finanziellen Erfolg anderer. Mir scheint es tatsächlich ums Geld zu gehen, meint Jodie.
Im Lockdown fällt uns der Wohlstand anderer Leute in den sozialen Netzwerken umso stärker auf. Deswegen, betont Jodie, ist es wichtig, uns immer wieder vor Augen zu halten, dass diese Menschen dort „mehr Zeit hatten, um das Bild von sich selbst, das sie anderen präsentieren wollen, ins rechte Licht zu rücken – und dass es dieses verzerrte Bild ist, das uns an uns selbst und unseren Leben zweifeln lässt. Ob du dich nun dafür schlecht fühlst, dass du nur zu Hause rumsitzt und Netflix guckst oder keinen eigenen Garten hast: Dieser Neid ist total verbreitet.“
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Noch dazu, so Jodie, sollten wir dabei nicht die wirtschaftliche Unsicherheit außer Acht lassen, die die Pandemie vielen von uns aufzwingt. „Viele Leute machen sich gerade große Sorgen um ihren Job“, sagt sie. „Dadurch denken wir uns: Sollte ich umso härter arbeiten, um meinen eigenen Wert zu beweisen? Bin ich in einer sicheren Position? Oh Mann, guck dir mal diese Person an, die wirkt total erfüllt, hat einen coolen Job und ein tolles Haus. Ich wünschte, ich wäre an ihrer Stelle.“
Vor meinem Gespräch mit Jodie habe ich mich sehr dafür geschämt, so neidisch auf den beruflichen Erfolg anderer Leute zu sein. Sie hat mir jedoch gezeigt, dass ich diesen Neid auch ins Positive umwandeln kann. „Was du nicht aussprichst, gewinnt an Macht über dich“, sagt sie. Und mit diesem Gedanken beschloss ich, ganz offen über meine Gefühle zu sprechen. Jodie hatte Recht: Meinen Freund:innen von meinen Problemen zu erzählen, hat mir sehr geholfen, genau wie Jodies Rat, in einem Tagebuch aufzuarbeiten, was mir mein beruflicher Neid eigentlich mitteilen will. Dadurch habe ich verstanden, dass es mir wichtig ist, aktiver in den sozialen Medien unterwegs zu sein, um mir damit ein größeres Netzwerk aufzubauen. Also habe ich meine Tagesroutine dementsprechend angepasst, um morgens immer ein bisschen Zeit für Social Media zu haben.
Noch dazu versuche ich, mehr Dankbarkeit in meinen Alltag zu integrieren, indem ich am Ende jedes Tages die kleinen Schritte zelebriere, die mich großen Veränderungen nähergebracht haben. Ist mein Erfolgsneid dadurch verschwunden? Nein. Ich bin noch nicht komplett geheilt – schließlich ist die Arbeit gerade besonders anstrengend und mein Leben noch nicht wieder „normal“. Aber ich kann mich inzwischen zumindest durch Instagram scrollen, ohne mir von anderer Leute Leben aufzeigen zu lassen, was in meinem eigenen Leben fehlt. Und ich finde, das ist schon mal ein echter Fortschritt.
*Namen wurden von der Redaktion geändert. 
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