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Nein, es ist nicht deine Pflicht, immer alles zu verzeihen

Foto: Meg O'Donnell
Laut Elton Johns „Sorry Seems To Be The Hardest Word“ ist das mit der Entschuldigung nicht immer so leicht. Selbst ein kleines „Sorry“ kommt vielen von uns nur schwer über die Lippen – und genau deswegen messen wir ihm so viel Bedeutung bei, dem Wort, das das Unmögliche ermöglichen will: Es will selbst die kaputtesten Beziehungen reparieren, indem es ihre Einzelteile mit aller Kraft zusammenhält. 
Eigentlich soll eine Entschuldigung eine heilende Wirkung haben; in einer Welt der bedeutungslosen Entschuldigungen von Politiker:innen, Promis und von #MeToo angeklagten Männern fühlen sie sich oft leer an. Wir leben in einem Zeitalter des Entschuldigungs-Theaters. Weil aber viele Leute, die für diverse üble Taten eigentlich „gecancelt“ wurden, trotzdem ganz gut weiterzuleben scheinen, kommt die Entschuldigung inzwischen wie ein Pflaster rüber, das man auf ein gebrochenes Bein klebt. 
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Auf die Entschuldigung folgt normalerweise Vergebung. Die Versöhnung ist das Ziel, und die Vergebung der Weg dorthin. Insbesondere von Frauen wird erwartet, Meisterinnen des Verzeihens zu sein. Wenn sie eine Entschuldigung nicht annehmen, wird das oft verurteilt und sie als „verbittert“ abgestempelt, insbesondere in engen Beziehungen.
Aber müssen wir wirklich immer allen verzeihen, die uns wehtun? Zähneknirschend ein „Oh, mach dir keinen Kopf, alles gut“ nuscheln und gedanklich ein „Fick dich“ ergänzen? Und können wir ein Trauma eigentlich auch verarbeiten – einen Streit, eine Trennung, einen Betrug –, ohne der anderen Person dafür zu vergeben?

Du bist nicht dazu verpflichtet, jemandem ein Friedensangebot zu machen oder jemanden zurück in dein Leben zu lassen, der:die dich verletzt hat.

Die Psychologin Dr. Heather Sequeira hat sich auf Stress und Trauma spezialisiert. „Das Problem mit der Vergebung ist, dass sie für jede:n etwas anderes bedeutet“, erklärt sie. „Wenn wir von Vergebung sprechen, meinen wir damit manchmal unkonstruktive, sogar schädliche Erwartungen.“
Das liegt daran, dass das Konzept der Vergebung zu etwas führt, das Heather eine falsche Doppelseitigkeit nennt: dem Glauben, Vergebung sei unsere einzige Option, wenn wir nicht mit Wut und Bitterkeit leben wollen. Das schränkt uns ein und zwingt uns zu einer binären Entscheidung.
„Es ist wichtig, dass wir wissen: Wir können uns unseren Erfahrungen auch auf andere Weise stellen (und sie sogar hinter uns lassen), um Frieden und Akzeptanz zu finden“, sagt Heather. Während es also für den Heilungsprozess wichtig sein kann, jemandem zu verzeihen, nachdem er:sie dich verletzt oder falsch behandelt hat, stellt Heather klar: „Das ist nicht die einzige Möglichkeit, das zu verarbeiten.“
Natürlich gibt es ein ganzes Spektrum an falschem Verhalten, und sicher betrachtest du einiges davon als unverzeihlich. Trotzdem habe ich mich selbst schon oft in einer „Vergebungsfalle“ verheddert, sowohl in meinen persönlichen Beziehungen als auch im Kontext gesellschaftlicher (Un-)Gerechtigkeit, wie bei #MeToo zum Beispiel. In unserer Gesellschaft ist der Glaube tief verankert, den Heather beschrieben hat – dass wir die Vergebung brauchen, um mit etwas abschließen zu können. Das verleiht der verzeihenden Person eine gewisse Macht, setzt sie aber auch gleichzeitig unter Druck; damit habe ich mich schon immer unwohl gefühlt.
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„Es ist wichtig, hier zwischen echter Vergebung und dem Zugeständnis zu unterscheiden, ein Verhalten sei okay gewesen, obwohl es das definitiv nicht war“, betont Heather. Dabei kommt es zu oft, sagt sie, „zu Unterstellungen, wenn Frauen jemandem nicht verzeihen. Viele glauben dann, diese Frauen würden damit ihr eigenes Leid ‚erschaffen‘ oder ‚erhalten‘, obwohl sie ja eigentlich nur eine Grenze ziehen und mitteilen: ‚Nein, ich lasse mich nicht so behandeln, aber danke für deine Entschuldigung‘.“
Vor ein paar Jahren bekam ich aus dem Nichts per Facebook-Nachricht eine aufrichtige Entschuldigung zugeschickt. Die kam von einer Person, mit der ich in meinen frühen Zwanzigern zusammen gewesen war. Die Beziehung endete, als ich die Person dann auf einer Party beim Sex mit meiner damaligen besten Freundin erwischte. Damals sorgte das bei allen Beteiligten für unglaubliche Qualen; und ich bin mir bis heute nicht sicher, wie ich auf die Nachricht antworten soll. Natürlich ändern sich Menschen, aber so viele Jahre nach dem Vorfall hatte ich mich mit dem Wissen abgefunden: Was in dieser Nacht passiert war, war nicht okay gewesen – und ich wollte nichts schreiben, das dem widersprechen würde. Trotzdem fühlte ich mich damit nicht ganz wohl.
Die Wissenschaft dahinter ist klar: Einen „Groll“ aufrechtzuerhalten, bringt dir effektiv nichts – sondern könnte dich sogar runterziehen. Einer Studie im Magazin Social Psychological and Personality Sciencezufolge sorgt Vergebung nach einem Konflikt zwar durchaus für eine bessere Beziehung zwischen beiden Beteiligten und gibt der verletzten Partei ein besseres Gefühl. Es macht aber einen großen Unterschied, ob du einsiehst, dass dir jemand etwas Schlimmes angetan hat, und dieser Person trotzdem verzeihst – oder ob du deine Gefühle dazu verpuffen lässt und behauptest, es sei schon okay. Es macht dich nicht zu einem schlechteren Menschen, wenn du jemandem sein:ihr falsches Verhalten übel nimmst. Du bist nicht dazu verpflichtet, jemandem ein Friedensangebot zu machen oder jemanden zurück in dein Leben zu lassen, der:die dich verletzt hat.
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„Wenn es zur Vergebung kommt, ist das meist eine geteilte Arbeit zwischen ‚Vergeber:in‘ und ‚Täter:in‘“, erklärt Heather. „Letztere:r erkennt an, dass er:sie der anderen Person wehgetan hat, kann echte Reue ausdrücken und vielleicht sogar versuchen, es wiedergutzumachen. Gleichzeitig verarbeitet und verzeiht sich der:die ‚Vergebende‘ die eigene Reaktion auf die Tat; viele Leute machen sich nämlich im Nachhinein selbst Vorwürfe für ihre Reaktion.“
Das alles ist gut, wenn es ganz geregelt ablaufen kann. In manchen Situationen ist das aber einfach nicht möglich. Heather erklärt: „Oft, wenn jemand falsch behandelt wurde, ist so ein Gespräch nicht möglich, weil noch immer die Machtdynamik herrscht, die schon die Tat selbst bestimmte. Die Person, die verletzt wurde, ist danach vielleicht verwirrt und fühlt sich sehr stark als Opfer; womöglich glaubt sie, nicht das Recht zu haben, eigene Grenzen zu ziehen und zu bestimmen, was (nicht) okay ist.“

Niemand hat einen Anspruch auf deine Vergebung; gleichzeitig brauchst du aber auch nicht unbedingt ein „Sorry“, um etwas hinter dir zu lassen. Nimm dich da selbst aus der Verantwortung.

Zwischen der Entschuldigung und dem entlastenden Gefühl, das danach oft folgt, besteht eine tiefe psychologische Verbindung. Menschen entschuldigen sich, wenn sie einen Fehler gemacht haben. Das ist ein Geständnis, aber gleichzeitig auch eine Möglichkeit, sich selbst ein besseres Gefühl zu haben. Wer sich entschuldigt, bittet das Gegenüber darum, einen Teil der eigenen Bürde mitzutragen. Diese Bürde kannst du anerkennen – musst sie der entschuldigenden Person aber nicht abnehmen. 
Selbst dann, wenn jemand wirklich Reue zeigt. Wenn die Person, die dich falsch behandelt hat, es wiedergutmachen will, kann und wird deine Vergebung das falsche Verhalten nicht automatisch in Luft auflösen. Auch sollte Vergebung nicht selbstverständlich eine Wiedergutmachung bedeuten. Leider haben wir nur eine sehr schmale Vorstellung davon, wie die Vergebung nach einer Entschuldigung auszusehen hat – dabei ist die Vergebung gar nicht immer nötig, um einen moralischen Fehltritt zu verarbeiten.
Vielleicht wartest du dein Leben lang darauf, endlich eine Entschuldigung von denen zu bekommen, die dich verletzt habenvon deinem Ex, der dich betrogen hat, deiner Freundin, die dich angelogen hat oder dem Chef, der dich ausgenutzt hat. Oder vielleicht bekommst du die Entschuldigung doch irgendwann zu hören – und fühlst dich dann dazu gezwungen, jemandem für etwas zu vergeben, das du bis heute absolut nicht okay findest, mit dem du aber längst abgeschlossen hast. Niemand hat einen Anspruch auf deine Vergebung; gleichzeitig brauchst du aber auch nicht unbedingt ein „Sorry“, um etwas hinter dir zu lassen. Nimm dich da selbst aus der Verantwortung.
Heather empfiehlt, anstatt dich auf die Vergebung zu konzentrieren, lieber deine eigenen Reaktionen während und nach einer verletzenden Situation zu beobachten. „Es ist natürlich nicht so, dass wir als ‚Opfer‘ etwas falsch gemacht haben; trotzdem machen wir uns danach gern Vorwürfe. Genau deswegen fühlen wir uns in der Situation gefangen. Oft liegt es an diesen Selbstvorwürfen oder Schamgefühlen, dass wir nicht damit abschließen können. Wir schwanken dazwischen, uns selbst und der anderen Person Vorwürfe zu machen. In meinen Therapiestunden empfehle ich deswegen lieber, dieses Schwanken sein zu lassen, anstatt automatisch der anderen Person zu vergeben. Dann können wir unser Leben in die Richtung lenken, die wir selbst einschlagen wollen.“ 

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