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Nach einem sexuellen Übergriff halfen mir meine Tattoos, zu heilen

Photographed by Sophie Hur.
Im Jahr 2018, als ich 29 Jahre alt war, ging ich am Strand in Uvita in Costa Rica spazieren und fand eine wunderschöne Muschel in meinem Lieblings-Lila-Ton. Obwohl sie zerbrechlich war, war sie dennoch ein solides Zuhause für ein Weichtier – ein Zuhause, das es überallhin mitnehmen kann. Ein paar Tage später ließ ich mir diese Muschel auf mein rechtes Handgelenk tätowieren. Ich erkannte mich selbst darin: Mein Körper ist auch mein Zuhause. Er hat mich quer über den Globus in über 60 Länder getragen, und während er mir Sicherheit geboten hat, ist er auch empfindlich.
Als ich 15 Jahre alt war, wurde ich vergewaltigt. Der Täter hatte meine Freundlichkeit ausgenutzt und zerstörte so meine Fähigkeit, liebenswürdig zu anderen und sogar zu mir selbst zu sein. Ein ganzes Jahrzehnt danach brachte ich Verletzlichkeit und Offenheit mit Schwäche in Verbindung. Wann immer ich aber mein Muschel-Tattoo sehe, werde ich daran erinnert, dass in Zartheit Stärke und in Zerbrechlichkeit Schönheit steckt. Mein Vergewaltiger hat nicht länger die Macht über meine Fähigkeit, sanftmütig zu sein.
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Insgesamt habe ich 30 Tattoos. Jedes einzelne davon hat eine sehr persönliche Bedeutung, die meistens mit Empowerment zu tun hat. Das erste Tattoo, das ich mir stechen ließ, war mein Sonnenzeichen, Waage, auf meinem rechten Knöchel. Die Muschel war mein neunzehntes. Ich weiß nicht, was ich mir als Nächstes tätowieren lassen werde oder welches Tattoo mein letztes sein wird. Viele meiner Kunstwerke aus Tinte dienen dazu, die Kontrolle über meine Identität, meinen Körper und meine Geschichte als Überlebende sexueller Gewalt zurückzugewinnen.
Körperkunst hat sich als unglaublich nützliches Heilmittel für viele Menschen erwiesen, die traumatische Erfahrungen durchlebt haben, insbesondere bei sexuellen Übergriffen. „Sexuelle Übergriffe beeinträchtigen das Gefühl, Kontrolle und Autonomie über den eigenen Körper zu haben, immens“, sagt Dr. Suzanna Chen, eine Psychiaterin in New York City. „Manche Überlebende nutzen Tattoos, um so wieder Kontrolle über sich selbst zu haben, nachdem sie sich machtlos fühlten.“ Eine Studie aus dem Jahr 2018 untersuchte zum Beispiel die Beweggründe von Menschen, sich nach einem sexuellen Trauma tätowieren zu lassen, und fand heraus, dass es „ein therapeutischer Prozess“ sein kann. Tattoos dienen hier dazu, eine persönliche Geschichte visuell zu repräsentieren“. Außerdem ermöglichen sie es, „die Zügel über deinen Körper wieder in die Hand zu nehmen und wirken erlösend“, so die Autor:innen der Untersuchung
Letztlich betont Dr. Chen, dass Tattoos allein keine ausreichende Alternative zu einer Therapie sind. Sie sagt aber, dass sie die Funktion einer Art von Kunsttherapie erfüllen können. „Tattoos sind eine Form künstlerischen Ausdrucks“, erklärt sie. „Der Körper wird zur Leinwand. Wenn du dich für ein Tattoo entscheidest, das mit deinem Trauma in Verbindung steht, setzt du dich so mit deiner traumatischen Erfahrung auseinander und veränderst das Narrativ in Zusammenhang damit. Aussagekräftige Darstellungen oder Worte können dabei helfen, deine Identität nicht als Opfer, sondern als Überlebende:r zu definieren. Zusammen mit der Unterstützung von Therapeut:innen ist es auf diese Weise möglich, zu heilen.“
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Landon Funk zum Beispiel entschied sich dafür, sich Medusa auf ihrem inneren Bizeps tätowieren zu lassen. In der griechischen Mythologie vergewaltigte Poseidon Medusa in einem Tempel der Athene. Diese war so wütend über dieses Sakrileg, dass sie Medusa verfluchte und ihre Haare in Schlangen verwandelte. Dieser Fluch war aber gleichzeitig auch eine Art Segen, denn er gab Medusa die Macht, Menschen – insbesondere gefährliche Männer – mit einem Blick in Stein zu verwandeln. „Medusa, die als Monster angesehen wird, gibt mir Kraft. Frauen werden oft als Monster, böse oder hysterisch abgestempelt, weil sie ihre Gefühle ausdrücken, aussprechen, was sie denken, und für sich selbst einstehen. Medusa schützt sich selbst und verkörpert Schutz“, sagt Funk. „Wenn ich meine Medusa anschaue, gibt mir das Hoffnung und Kraft und verleiht mir Handlungsfähigkeit, die ich ohne das Tattoo nicht hätte.“
Für viele Überlebende haben ihre Körperkunstwerke aus Tinte eine große Bedeutung; die Symbole verleihen ihnen Kraft. Eines der bekanntesten Tattoos für Überlebende sexueller Übergriffe ist das „Fire Rose Unity Survivor Tattoo“. Das Design wurde besonders durch Lady Gaga bekannt, als sie es sich kurz nach ihrem Oscar-Auftritt 2016 auf den Rücken stechen ließ. Bei dieser Performance stellten sich 50 Überlebende sexueller Übergriffe zu ihr auf die Bühne, darunter auch die Schöpferin des Tattoos. Viele der anderen Überlebenden, die bei diesem Gig anwesend waren, haben sich das Tattoo ebenfalls stechen lassen. Es ist nach wie vor sehr beliebt.
Marlee Liss, die dieses das Symbol auf ihrem rechten Handgelenk hat, ließ es sich mit einer Freundin stechen, die sie in einer Selbsthilfegruppe für Personen, die Vergewaltigungen überlebt haben, kennengelernt hatte. Davor hatte sich Liss gefragt, ob das Tragen eines so bekannten Designs sie als Überlebende „brandmarken“ würde. Letztendlich half ihr die Entscheidung, sich tätowieren zu lassen, zu erkennen, dass sie sich nicht für ihr traumatisches Erlebnis zu schämen braucht. „Jetzt ist es wirklich ein Symbol dafür, dass mein Körper für mich da ist, und ich bin stolz darauf, da in meinem Heilungsprozess zu sein, wo ich mich gerade befinde“, sagt Liss.
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„Es geht darum, eine so hasserfüllte Erfahrung in ein Sinnbild dafür zu verwandeln, dass ich wieder die Kontrolle über mich selbst habe und an meinem Heilungsprozess arbeite. Außerdem kann ich so meine Solidarität für andere Überlebende veranschaulichen“, fährt sie fort. Bei einer Voruntersuchung mit ihrem Täter berührte sie ihr Tattoo, um Kraft zu schöpfen und sich daran zu erinnern, dass sie nicht allein war.
Dich tätowieren zu lassen – und die damit verbundenen Schmerzen –, kann sich auch heilend auf deinen Körper auswirken. Weil Traumata körperlich gespeichert werden können, kann Körperkunst Überlebenden dabei helfen, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten und zu heilen, so Dr. Chen. Ich habe eine hohe Schmerztoleranz – oft finde ich es sogar schwierig, zu erkennen, wann ich überhaupt Schmerz empfinde – was vielleicht mit meinem Trauma zusammenhängt. Mich tätowieren zu lassen, ist eine reinigende und erlösende Erfahrung für mich, durch die ich mich lebendig fühle; der körperliche Schmerz hilft mir, den emotionalen Schmerz loszulassen, und danach habe ich etwas Schönes, das ich in Ehren halten kann.
„Der Schmerz beim Stechen reicht aus, um dich in den gegenwärtigen Moment zu katapultieren. Er hilft dir, dich auf die Erfahrung, das Ritual, zu konzentrieren und eine Erinnerung zu schaffen“, sagt Annalise Oatman, eine klinische Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in San Francisco. Oatman hat ein Tattoo eines Boxers auf der Innenseite ihres rechten Arms. „Es symbolisiert sexuelle Übergriffe und jene Eigenschaften, die ich mir wünsche, um mich selbst ehren und schützen zu können“, sagt sie. Sich das Tattoo stechen zu lassen, war eine „magische Ritualisierung“ der Verkörperung ihrer eigenen Stärke, Widerstandsfähigkeit und Genesung. Für Oatman war das Tätowieren eine Möglichkeit, wieder Herrscherin über ihren eigenen Körper zu werden. Sie hat festgestellt, dass diese Form von Körperkunst den Heilungsprozess, an dem sie sie mit Therapeut:innen arbeitete, ideal ergänzte.
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Emily O'Neill hingegen sagt, sie habe beim Tätowieren keinen Schmerz empfunden, sondern fühlte sich frei. Sie hat eine Pistole und die Worte „turn your wounds into wisdom“ (zu Deutsch: „Verwandle deine Wunden in Weisheit“) auf ihrem rechten Oberschenkel tätowiert. „Nachdem ich vergewaltigt wurde, wollte ich wieder die Zügel über meinen Körper in die Hand nehmen. Meine Entscheidung, mit meinem Einverständnis“, erklärt sie. „Das Tattoo steht für meine Stärke und Widerstandsfähigkeit. Die Waffe steht dafür, dass ich die Kontrolle, die mir genommen wurde, zurückgewinnen möchte und dass ich mich verteidigen werde, egal was passiert.“
Für Menschen, die sexuelle Übergriffe durchlebt haben, sind Tattoos natürlich nicht der einzige Weg, zu heilen. Nichtsdestotrotz waren sie für jene Personen, mit denen ich gesprochen habe – und für mich selbst – ein entscheidender Schritt auf dem Weg vom Gefühl, ein Opfer zu sein, zum Gefühl, ein:e Überlebende:r zu sein. Diese Kunstwerke erinnern uns daran, dass wir entscheiden, was wir mit unserem Körper machen. Wir bestimmen, wie wir ihn schmücken, wie wir ihn feiern und mit wem wir ihn teilen. Wir fordern unsere körperliche Autonomie zurück, indem wir ihn dekorieren, wie es uns gefällt, und das Vergnügen ist ganz unser.
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Wenn du sexuelle Gewalt erlebt hast und professionelle Hilfe benötigst, findest du hier Unterstützung.

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