Wenn du dich mal durch die #vegan- und #veganism-Hashtags auf Instagram oder TikTok gescrollt hast, wirst du dort vermutlich über bearbeitete Fotos von wunderschön inszeniertem Essen, Restaurantempfehlungen und jede Menge Memes gestolpert sein, die Nicht-Veganer:innen ein schlechtes Gewissen für ihren Fleischkonsum einreden sollen. Vielleicht kennst du auch den einen oder anderen Witz über Veganer:innen; diese Witze machen sich meist über Klischees zum Aussehen, Verhalten oder Auftreten von Veganer:innen lustig. Kein Wunder, dass Veganer:innen deswegen insbesondere online einen ganz bestimmten Ruf haben – nämlich den, dass es ihnen vor allem um die Ästhetik daran geht. Genau das wollen vegane Aktivist:innen aber ändern, indem sie online zum Nachdenken über die miteinander verknüpften Gründe dafür anregen, zumindest den eigenen Fleischkonsum auf Null runterzufahren.
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Bevor die 24-jährige Debbie Morales (@sisoyvegan) anfing, sich vegan zu ernähren, war sie skeptisch: War das wirklich die richtige Entscheidung für sie? Den Veganer:innen, die sie bis zu diesem Zeitpunkt kennengelernt hatte, schien es bei ihrer Lifestyle-Umstellung nicht unbedingt um dieselben Punkte zu gehen, die Debbie am Herzen lagen – wie der Klimawandel oder Arbeiter:innenrechte. Laut einer Studie von Human Rights Watch kommt es in der Tierschlachtungs- und -verarbeitungsindustrie zu häufigeren und schlimmeren Verletzungen als in der Öl- und Gasindustrie, in Holzfabriken und auf Baustellen. Zwischen 2015 und 2018 kam jeden zweiten Tag ein:e Angestellte:r ins Krankenhaus, und die Arbeiter:innen verdienen durchschnittlich unter 15 Dollar (etwa 12,80 Euro) pro Stunde.
„Das ist es, was mich wirklich [zum Veganismus] bewegt hat, weil es mir vor allem immer um die Rechte von Arbeiter:innen ging“, erzählt Debbie gegenüber Refinery29. „Ich komme aus Guatemala; deswegen interessiere ich mich sehr für Schwarzarbeiter:innen und deren Ausnutzung. Als ich erfuhr, wie verbreitet das in der landwirtschaftlichen Tierhaltung ist, wurde mir klar, dass ich mich vegan ernähren sollte, um meine Ernährung meinen Werten anzupassen.“
In Deutschland sank der Fleischkonsum pro Kopf 2020 um über zwei Kilo pro Jahr; ähnliche Trends wurden auch in US-amerikanischen und britischen Umfragen beobachtet. Dafür gibt es mehrere Gründe: Diverse Studien haben erwiesen, dass Veganer:innen ihren Lifestyle insbesondere des Tierwohls und ihrer eigenen Gesundheit zuliebe umstellten. Debbie, wie viele andere TikTok- und Instagram-Aktivist:innen auch, ist aber davon überzeugt, dass auch Klimagerechtigkeit und Arbeiter:innenrechte dabei eine große Rolle spielen (sollten).
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„Wenn wir über landwirtschaftliche Tierhaltung sprechen, können wir die Politik dabei nicht außen vor lassen – und die Tierhaltung bekommt nun mal enorme finanzielle Unterstützung vom Staat“, betont Debbie. Gerade die Kosten für Erzeugung und Konsum von Billigfleisch und die davon verursachten Umwelt- und Klimaschäden sind enorm; einer Berechnung von Soil & More Impacts und Greenpeace zufolge belaufen sie sich bei Rind- und Schweinefleisch in Deutschland pro Jahr auf 5,91 Milliarden Euro. „Durch all diese verschiedenen Faktoren bin ich mir sicher, dass Veganismus von Natur aus eine politische Sache ist.“
Auf ihrem Instagram-Account teilt Debbie ihre eigenen kulinarischen Kreationen, ergänzt durch Informationen zu Umweltrassismus, industrieller Viehzucht und prinzipiellem Rassismus innerhalb der Veganismus-Bewegung. Ihr Post zu Letzterem ging viral – in dem sie Veganer:innen verurteilte, die sich nicht kritisch zur Ausnutzung von Farmarbeiter:innen äußern, oder die Bewegungen wie Black Lives Matter zweckentfremden. „Ich finde es wichtig, dass die Leute erkennen, dass Veganismus kein weißer Trend ist. Es liegt aber an der veganen Community selbst, whitenessnicht immer ins Zentrum des Veganismus zu rücken, um mit diesem Mythos aufzuräumen“, betont sie.
Auch Jessica (@plantwhisperer), eine 22-jährige TikTokerin, ist der Meinung, dass der Veganismus generell als weiße Bewegung empfunden wird – ein Irrglaube, der viel Schaden anrichtet. „Ich habe das Gefühl, weißer Veganismus ist gerade der Mainstream-Veganismus, und das schon seit sehr langer Zeit“, sagt sie. „Und das schadet dem Veganismus an sich. Ich sehe immer noch Leute, die auf Twitter Fotos und Videos von Feldarbeiter:innen posten, die Erdbeeren ernten, und in der Caption steht dann was wie: ‚Warum reden Veganer:innen nicht mal darüber?‘ Aber das tun wir ja. Nur bringt der Veganismus uns BIPoCschon zu lange zum Schweigen.“
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Im Gegensatz zum weit verbreiteten Glauben sind Veganismus und Vegetarismus keine historisch weißen Bewegungen. Der Begriff „Veganismus“ selbst entstand erst 1944, doch ernähren sich zahlreiche Kulturen weltweit schon seit Jahrhunderten fleischlos: Religionen wie Jainismus, Hinduismus und Buddhismus setzen sich für Vegetarismus ein, und viele Jamaikaner:innen in der Rastafari-Community folgen seit Langem der Vorstellung des „ital eating“, einer Ernährung, in der Fleisch und künstliche Zusatzstoffe verboten sind. Bei der aktuellen Debatte rund um Veganismus geht es aber oft um whiteness und Kapitalismus – eine Realität, mit der der:die 25-jährige Isaias (@queerbrownvegan) gern brechen möchte.
„Mein Veganismus fußt auf Menschen- und Tierrechten. Mir geht es dabei um Gerechtigkeit in einem industrialisierten, unnachhaltigen Nahrungssystem, unter dem viele Menschen und Tiere in der Versorgungskette zu leiden haben“, erzählt Isaias gegenüber Refinery29. Genau deswegen diskutiert er:sie auf Instagram und TikTok diverse damit einhergehende Probleme – Umweltrassismus, Nahrungsungerechtigkeit und veganen Kapitalismus, zum Beispiel. Für Isaias steht im Herzen des Veganismus die Überzeugung, dass unser aktuelles Nahrungssystem nicht funktioniert – nicht für die Umwelt, nicht für die Tierwelt, nicht für uns.
„Wenn wir uns dem Veganismus verschreiben, erkennen wir damit die Ungerechtigkeit dieser Systeme und die Tatsache an, dass sie nie so entwickelt wurden, die darin arbeitenden Menschen ethisch und ausreichend dafür zu bezahlen, dass sie uns ernähren“, meint Isaias. „[Durch den Veganismus] hilfst du dabei, regionale Ökosysteme zu erneuern, wovon wiederum dein direktes landwirtschaftliches Umfeld profitiert. Gleichzeitig löst du dich von einem System, das Fleisch in übermäßigen Mengen produziert und seine wasser- und luftverschmutzende Industrie oft in Gebieten ansiedelt, in denen geringverdienende Communitys of color leben.“
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Dem Food Empowerment Project zufolge bauen Firmen ihre Fabriken nämlich oft genau in er Nähe dieser Communitys. Die damit einhergehende industrielle Verschmutzung wirkt sich auf deren Lungengesundheit, ihren Zugang zu sauberem Wasser und ihre generelle Lebensqualität aus. Im US-Bundesstaat North Carolina zum Beispiel gibt es so viele Schweinefarmen, dass in dem Staat mehr Schweine als Menschen leben. Aufgrund der schieren Menge an Schweinen besteht North Carolina zu großen Teilen aus Farmen voller Dung, die wiederum für Lungen- und andere Organerkrankungen verantwortlich sein können, berichtet das Institute for Agriculture and Trade Policy. „Schweinefarmen sind oft in BIPoC-Communitys angesiedelt, und die leben dann quasi im Schweinemist“, sagt Jessica.
Ein stärkeres Bewusstsein für die Auswirkungen der Fleischindustrie ist wichtig, und den eigenen Fleischkonsum zu reduzieren oder ganz zu streichen gilt als die beste Möglichkeit jedes:jeder Einzelnen, den eigenen CO2-Fußabdruck zu verringern. Aktivist:innen glauben aber auch, es wäre sinnlos, jede:n zum Veganismus zu bewegen. Schließlich ist Fleisch in dieser milliardenschweren, staatlich subventionierten Massenindustrie oft bequemer und günstiger – eine Tatsache, auf die einige vegane „Verfechter:innen“ gar nicht eingehen, wenn sie ihren Followern von den Vorteilen ihrer teuren Smoothies vorschwärmen.
„Viele Veganer:innen argumentieren dabei, wir in ärmeren Communitys würden ja gar nicht wollen, dass man uns den Veganismus schmackhaft macht“, sagt Isaias. Und natürlich – denn in diesen Communitys hat man oft andere Sorgen. „Wir wollen erstmal eine Lösung für den systematischen Rassismus und andere Probleme haben, die uns davon abhalten, unser Essen anzupflanzen. Wieso ist unser Wasser so ungesund? Warum ist unser Boden kontaminiert?“
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Debbie sieht auch ein, dass der Veganismus für viele Menschen ein unerreichbarer Luxus bleiben kann. „Viele in meiner Familie haben gar nicht die Zeit, um sich zum Veganismus und zur Klimakrise zu belesen. Und natürlich ist es ihnen wichtig, weil es sich ja auf ihr Leben auswirkt – Guatemala wurde allein im letzten Jahr von zwei großen Hurricanes getroffen, und viele Klima-Flüchtlinge kommen aus Mittelamerika“, sagt Debbie. „Wenn du dir aber viel mehr Sorgen darüber machen musst, überhaupt Essen auf den Tisch zu bringen, kümmert es dich kaum darum, was genau du da isst… Und ich weiß, dass viele Veganer:innen da jetzt sagen würden: ‚Veganismus muss nicht teuer sein. Du kannst Bohnen oder Reis essen.’ Aber auch solche Gerichte brauchen Zeit und erfordern oft eine Küche, zu der viele Leute keinen Zugang haben.“
Etwas, das den Veganismus aber sehr wohl zugänglicher machen könnte, wäre Isaias’ Meinung zufolge bessere Bildung. In seinen:ihren Videos und Posts teilt Isaias Tipps und Informationen zur Nahrungssuche, Zubereitung und Umweltgerechtigkeit. „Ich finde es revolutionär, dein eigenes Essen zu züchten. Das ist ein Akt der Selbstliebe“, meint er:sie. „Deswegen denke ich, dass der Veganismus viel zugänglicher werden könnte, wenn mehr Leute gärtnern oder Früchte und Pilze sammeln würden.“
Für manche Leute ist der Veganismus vielleicht einfach eine Ernährungs-Vorliebe, oder eine Entscheidung, bei der es „nur“ um den Tierschutz ging. Daran gibt es an sich nichts auszusetzen – aber es ist eben nicht alles. Für diese Aktivist:innen und viele, viele andere geht es beim Veganismus im Kern darum, die Beziehung zwischen deinem Essen und der Welt um dich herum zu hinterfragen und zu verstehen. Was steckt in deinem Essen? Wie ist es zu dir gelangt? Und wer leidet unter seinem Konsum? Wie jede andere progressive Bewegung ist auch der Veganismus zutiefst politisch – aber eben auch eine Sache der Gesellschaft, der Kultur, der persönlichen Entscheidung… wie schließlich auch das Essen selbst.
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