„Männer sehen sich Frauen an. Frauen sehen sich selbst dabei zu, wie sie angesehen werden“, behauptete schon der Kunstkritiker John Berger im Jahr 1972.
Seitdem wurde die Theorie um diesen „male gaze“ (z. Dt.: „männlicher Blick“) schon unzählige Male diskutiert und auseinandergenommen – zum Beispiel im Essay „Visual Pleasure and Narrative Cinema“ der Filmtheoretikerin Laura Mulvey von 1975, oder in der fortwährenden Kritik der Illustratorin Florence Given an der Objektifizierung von Frauen in unserer Gesellschaft. Es dürfte niemanden überraschen, dass Bergers fünf Jahrzehnte alte Behauptung noch heute nachhallt, weil schließlich auch die Objektifizierung von Frauen bis heute unsere Kultur durchzieht.
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Aber was, wenn Frauen Männer ansehen? Wenn der „männliche Blick“ an den sinnlichsten Stellen eines Frauenkörpers hängen bleibt – der Kurve zwischen Taille und Hüfte, dem Dékolleté –, wo verweilt dann der weibliche Blick, der „female gaze“? Was sehen Frauen, wenn sie sich Männer anschauen? Tori Telfer lieferte dazu 2018 bei Vulture eine simple Antwort: Der weibliche Blick „sieht Menschen als Menschen“.
@torres.alejandro This is a legit question 🤨 #greenscreen #questionsforgirls #fit #dating #datingapps #tinder #bumble
♬ original sound - Alejandro Torres
Diese Vorstellung, dass der weibliche Blick Männer als Menschen betrachtet – nicht als Objekte –, kursiert gerade überall auf TikTok. Die App ist aktuell beispielsweise voller Videos von Männern, die um Feedback zu ihren Dating-App-Profilen bitten und sich fragen, warum ihre Fotos, auf denen sie „konventionell attraktiv“ aussehen, nicht so gut ankommen. Die Frauen liefern in den Kommentaren eine ganz klare Antwort: Sie achten nicht so sehr auf das Aussehen ihrer Partner:innen, wie es Männer tun.
Der heterosexuelle Alejandro, 29, glaubte immer, Muskel-Fotos würden ihm haufenweise Matches einbringen. Als er bemerkte, dass er mehr Erfolg mit Bildern hatte, auf denen seine Muskeln nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit standen, bat er in einem TikTok-Video um weiblichen Rat.
„Ich wollte rausfinden, wieso ich mehr Matches bekam, wenn ich nicht so fit aussah, als wenn ich superfit rüberkam“, sagt er gegenüber Refinery29. „Bevor ich die ersten Antworten las, dachte ich echt, dass sich Frauen einen Typen wünschen, der fit ist und Muskeln hat, also ein Sixpack, Bizeps, Trizeps, und so weiter. Ich war total überrascht, dass es genau das Gegenteil ist.“
Die Kommentare zu seinem Video beweisen, dass Alejandro in seiner Annahme, alle Frauen stünden auf Muskeln, komplett falsch lag. „Der erste Typ sieht aus, als würde er mich betrügen“, ist der Top-Kommentar, der sich auf die Fotos von Alejandro bezieht, auf denen er seine Muskeln anspannt. Jemand anderes schreibt: „Ganz ehrlich, nur Männer sind von solchen Muskeln beeindruckt.“
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Dr. Claire Hart ist Professorin für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie an der University of Southampton. Sie vermutet, dass Frauen nicht den Inhalt solcher Fotos beurteilen, sondern deren Andeutungen. „Studien zufolge finden Frauen (und tatsächlich auch Männer) gut proportionierte, muskulöse Männer attraktiver. Basierend auf unserer evolutionären Vergangenheit verbinden wir Anzeichen körperlicher Stärke mit einer besseren Überlebenschance“, erklärt sie. „Wenn wir aber abgesehen von einem Dating-Profil kaum etwas über die Person wissen, triffst du eventuell bestimmte Annahmen über sie, die sich negativ auf ihre Begehrenswürdigkeit auswirken“, sagt sie weiter. „Zum Beispiel fragst du dich vielleicht: Wie viel Zeit verbringt dieser Mensch damit, diesen muskulösen Körper aufrechtzuerhalten? Würde dieser Mensch dann eher Zeit mit Sport als mit dir verbringen wollen? Ist er narzisstisch veranlagt? Womöglich ist es dir die Zeit nicht wert, all die Antworten darauf selbst herauszufinden.“
Und da wären wir wieder bei Telfers Behauptung, der female gazesehe „Menschen als Menschen“: Anstatt sich auf die Attraktivität männlicher Muskeln zu konzentrieren, fragen sich Frauen in Dating-Apps offenbar eher, welcher Typ Mensch ein Dutzend Spiegel-Selfies von seinen Bauchmuskeln machen würde. „Wichtig ist hierbei zu betonen, dass der Mann in dem TikTok-Video in beiden seinen Profilen gut gebaut und stark wirkt“, ergänzt Dr. Hart. „Im zweiten [also dem weniger muskelbetonten] Profil kommt er aber einfach zugänglicher rüber.“
Die 23-jährige Studentin Claire hat auf Alejandros TikTok-Video mit einem eigenen reagiert. In dem Video erklärt sie ihre Vermutung, warum seine Fotos nicht so gut ankamen. „Du bekamst keine Matches, als du superfit aussahst, weil du damit eher einer männlichen Machtfantasie entsprechen wolltest, anstatt dem weiblichen Blick zu gefallen“, sagt sie. „Die Wahrheit ist: Männern ist das Aussehen ihrer Partner:innen oft sehr wichtig, Frauen aber nicht so sehr.“
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Gegenüber Refinery29 geht Claire darauf noch etwas weiter ein. „Männer schätzen häufig Macht, Stärke und Hypermaskulinität und gehen daher davon aus, dass Frauen diese Dinge attraktiv finden, bloß weil sie Männern wichtig sind“, erklärt sie. „Ich glaube, Frauen konzentrieren sich einfach weniger auf das Aussehen und mehr auf die emotionale Intelligenz und Güte eines Mannes.“
Dr. Hart bestätigt Claires Verdacht, dass Frauen weniger auf die Ästhetik fokussiert sind als Männer – und meint, dass diese These auch durch Forschungen zur menschlichen Evolution gestützt wird. „Die meisten Evolutionstheorien sind sich darin einig […], dass beide Geschlechter mögliche Partner:innen vorsichtig auswählen, Frauen und Männer dabei aber von unterschiedlichen Bedürfnissen angetrieben werden“, sagt sie. „Das Hauptkriterium eines Mannes bei der Frauenwahl sollte deren Fruchtbarkeit sein. Attraktivitätsmarker dienen dabei als Indikatoren – ein junges Aussehen, eine kurvige Figur, und so weiter.“
@the.claire.bitch.project #stitch with @torres.alejandro Female Gaze vid: @ms.eggy #genderstudies #malegaze #femalegaze #feminism #feminist #patriarchy
♬ original sound - Claire
„Im Vergleich zu Männern achten Frauen deutlicher auf elterliche Bemühungen“, fährt Dr. Hart fort. „Ihre beste Chance auf Fortpflanzungserfolg hat sie, indem sie das Überleben ihrer wenigen, wertvollen Kinder gewährleistet. Die optimale Strategie ist also, anspruchsvoll vorzugehen und sich einen engagierten Partner zu suchen.“
Es scheint also so, als ließe sich dieser Unterschied dazwischen, was Frauen Männern zufolge attraktiv finden und was sie wirklich attraktiv finden, damit erklären, dass sich viele Männer nur schlecht in eine weibliche Perspektive hineinversetzen können – in jedem Kontext. Genau deswegen sind Dating-Apps eben voller Selfies aus dem Fitnessstudio, und genau deswegen reagieren so viele Männer schockiert (oder ungläubig), wenn sie erfahren, dass drei Viertel aller Frauen schon mal sexuell belästigt wurden. Das klingt jetzt vielleicht nach zwei extremen Beispielen, ist aber ein Symptom eines größeren gesellschaftlichen Problems – nämlich des chronischen Mangels an Mitgefühl für Frauen.
Und genau daher hat Claire Recht, wenn sie sagt: „Wenn mehr Frauen ihre Geschichten erzählen und ihre Perspektive in den Medien teilen würden, würde die Gesellschaft als Ganzes vielleicht mehr Empathie gegenüber Frauen entwickeln – und würde ebenfalls als Ganzes davon profitieren.“