Was hat eine offene Beziehung mit dem Heiraten, Kinderkriegen oder Zusammenziehen gemeinsam? Richtig: Nichts davon ist ein Wundermittel gegen Beziehungsprobleme. Aber je bekannter nicht-monogame Beziehungsmodelle werden, desto weiter verbreitet sich auch der Mythos, Polyamorie sei die „Rettung“ einer kaputten Beziehung.
Dabei sieht die Realität natürlich ganz anders aus. Nicht-Monogamie ist nie einfach, und wird definitiv keine Beziehung reparieren können, die nicht mehr funktioniert.
Nicht-monogam, polygam, offen – all diese Begriffe beschreiben Beziehungsmodelle, deren Partner:innen Sex und/oder romantische Beziehungen mit mehr als nur einer Person haben. Dabei unterscheiden sich die jeweils verwendeten Begriffe und Feinheiten der jeweiligen „Regeln“ von Beziehung zu Beziehung. Wenn du aber schon selbst darüber nachgedacht hast, deine Beziehung zu öffnen, solltest du eines von vornherein wissen: Das Öffnen deiner Beziehung wird nur sehr unwahrscheinlich eine Lösung für eventuelle bestehende Probleme sein.
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Das heißt aber nicht, dass es viele Leute nicht trotzdem versuchen. Die Psychologin Dr. Liz Powell, der:die sich auf nicht-monogame Beziehungen spezialisiert hat, hört häufig davon – und bezeichnet das Ganze inzwischen sogar als „Beziehung kaputt? Holen wir mehr Leute hinzu!“-Phänomen. Laut Dr. Powell versuchen viele Paare, Polyamorie wie ein Pflaster auf Beziehungsprobleme zu kleben – seien das nun unterschiedliche sexuelle Bedürfnisse oder verschiedene Vorstellungen zur Zeit- und Prioritäteneinteilung.
Ganz irrational ist dieser Wunsch dabei nicht. Eine offene Beziehung könnte theoretisch bei diesen Problemen helfen. Auch hier sieht die Realität aber anders aus: Diese Schwierigkeiten entstehen oft, wenn sich jemand in einer Beziehung verletzt, unverstanden oder unbeachtet fühlt. Wenn dieses Paar daraufhin beschließt, die Partnerschaft zu öffnen, anstatt den zugrundeliegenden Konflikt zu lösen, verfestigt sich dieser Schmerz und Groll – und wird zu einem eigenständigen Problem, das zu den bestehenden hinzukommt.
Dr. Powell meint: „Wenn ihr euch ohnehin schon schwer damit tut, über eure Bedürfnisse und Wünsche zu sprechen und dafür einzutreten, wird Nicht-Monogamie diese Probleme kaum lösen können – abgesehen davon, dass sie eure Beziehung vermutlich langfristig eher zerstört.“
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Viele Paare gehen an die Nicht-Monogamie mit der Einstellung heran, sie müssten bloß die richtigen Grenzen ziehen, dann würde sich schon niemand verlieben.
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So erging es Sam, 30 Jahre alt und nicht-binär, dessen:deren Beziehung durch das Öffnen ein längst überfälliges Ende nahm. Nach einem halben Jahrzehnt ohne Sex und einem:einer Partner:in, der:die nicht darüber sprechen wollte, hatte Sam ein Ultimatum gestellt: Sie könnten ihre Beziehung öffnen, damit Sams sexuelle Bedürfnisse befriedigt würden – oder sich trennen. Das Öffnen der Beziehung „enthüllte dann aber alle Schwächen, Kommunikationsprobleme und missbräuchlichen Tendenzen“. Also trennten sie sich.
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Diese Erfahrung brachte Sam aber zu einer wichtigen Erkenntnis: Obwohl er:sie sich die Polyamorie zuerst aus den „falschen“ Gründen gewünscht hatte, hatte er:sie weiterhin Lust darauf. Die monogame Beziehung hatte nicht funktioniert, und ihr Öffnen hatte daran nichts ändern können – doch hatte Sam daraus gelernt, was er:sie sich wirklich von einer Beziehung wünscht.
Auch die 29-jährige Ellen und ihr jetziger Verlobter hatten schon eine ganze Weile über „ethische Nicht-Monogamie“ gesprochen, bevor sie ihre Beziehung schließlich öffneten, nachdem Ellen ihm gestanden hatte, dass sie in jemanden in ihrer Laufgruppe verknallt war. Ihr Verlobter sagte ihr, das sei für ihn total okay, und er habe sich selbst schon in andere verliebt. Als die beiden ihre Beziehung öffneten, versuchten sie es erst mit strikten Regeln à la „kein Sex mit jemanden, den:die wir kennen“ oder „keine Übernachtungen“. „Ich fragte aber immer wieder nach, ob wir an diesen Regeln nochmal schrauben könnten“, erzählt Ellen.
Obwohl sich diese Regeln vielleicht vernünftig anhören, kollidieren sie dann doch meist mit der Tatsache, dass Menschen eben Menschen sind. Unsere Herzen sind oft unberechenbar, und erst recht nicht kontrollierbar. Trotzdem gehen viele Paare an die Nicht-Monogamie mit der Einstellung heran, sie müssten bloß die richtigen Grenzen ziehen, dann würde sich schon niemand verlieben. Die Realität sieht deutlich chaotischer aus.
Dr. Powell zufolge sorgen diese harten Regeln, was die Partner:innen (nicht) fühlen sollten, häufig für noch mehr Konfliktpotential. „Dadurch entstehen nur neue Streits darüber, dass die Betroffenen im Umgang mit anderen Menschen völlig verständliche und normale Gefühle entwickeln.“
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Ich akzeptiere immer mehr, dass ich nicht alles für meinen Partner sein kann – genauso, wie er nicht alles für mich ist. Und das ist okay!
Ellen
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Auf der Suche nach einer schnellen Lösung für ihre Beziehungsprobleme unterschätzen viele außerdem, wie viel Arbeit eine offene Beziehung tatsächlich abverlangt. Trotz der mit diesem Beziehungsmodell verbundenen Klischees sind die meisten nicht-monogamen Paare nicht dauernd auf irgendwelchen Sexpartys mit superheißen Leuten unterwegs. In einer nicht-monogamen Beziehung geht es seltener um Dreier(-beziehungen) als um aufeinander abgestimmte Kalender und schwierige Gespräche über die Gefühle aller Beteiligten.
Sowohl Ellen als auch Sam müssen enorm viel Zeit und Mühe in den Erhalt ihrer Beziehungen stecken. Ellen hat außerdem eine Zweitbeziehung (in der der:die Zweitpartner:in weniger im eigenen Leben involviert ist als der:die Erstpartner:in), und ihre offene Beziehung zu ihrem Verlobten zwingt sie dazu, ganz direkt miteinander zu kommunizieren. „Wir sprechen konsequent ehrlich miteinander und planen unsere eigenen Dates im Voraus, vor allem, wenn wir gerade sehr beschäftigt sind – ob nun mit anderen Leuten oder mit Arbeits- oder Alltagsdingen.“
Dr. Powell zufolge erfordern Monogamie und Nicht-Monogamie von uns zwar dieselben Fähigkeiten, damit sie gut funktionieren – bloß lässt sich das „normale Drehbuch“ einer Beziehung nicht 1 zu 1 auf ein nicht-monogames Modell übertragen. Allein die Kommunikation verlangt dir mehr Zeit ab, weil du dich dabei eben nicht auf den gesellschaftlichen „Standard“ verlassen kannst, wie eine Beziehung „aussehen sollte“.
Der 23-jährige trans Mann Kelvin weiß genau, wie schwierig das ist; damit seine aktuelle nicht-monogame Beziehung gut laufen konnte, musste er sich selbst stark weiterentwickeln. „Ich musste erst lernen, dass es total okay ist, unsicher zu sein. Und obwohl dir sicher niemand Trost oder Mitgefühl schuldig ist, solltest du immer das Gefühl haben, ganz offen in deiner Beziehung über diese Unsicherheiten sprechen zu können.“
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Ellen schenkte das Öffnen ihrer Beziehung einen ganz neuen Blick auf ihre eigenen Beziehungsprioritäten und Gefühle. Sie lernte dadurch, mit Ablehnung besser klarzukommen – womit du in einer Langzeitbeziehung nicht unbedingt konfrontiert wirst – und „Privatsphäre“ von „Geheimniskrämerei“ zu unterscheiden.
Dabei müssen übrigens für beide Hälften einer offenen Beziehung nicht dieselben Regeln gelten. Ellen zum Beispiel teilt ihre Erfahrungen gern mit ihrem Verlobten, weil sie sich ihm dadurch näher fühlt; er hingegen erzählt ihr nicht so gern von den anderen Leuten, mit denen er sich trifft. Sie weiß aber, dass das nicht bedeutet, dass er etwas vor ihr verbergen will – er darf seine Gefühle innerlich verarbeiten und hat andere Arten, seine Intimität mit ihr zu vertiefen. „Ich akzeptiere immer mehr, dass ich nicht alles für meinen Partner sein kann – genauso, wie er nicht alles für mich ist. Und das ist okay! Er ist immer noch mein Lieblingsmensch, und ich freue mich darüber, ein gemeinsames Leben mit ihm aufzubauen.“
Wenn die Nicht-Monogamie in einer Beziehung funktioniert, ist das also all die Mühe wert. Nicht-monogame Beziehungen werden immer weiter normalisiert – doch leider rückt die dafür erforderliche Arbeit dabei bei der öffentlichen Darstellung von Polyamorie oft in den Hintergrund. Sam, der:die aktuell zwei Partner:innen und eine Freundin hat, findet, dass diese „dreckige Wäsche“ in Gesprächen über offene Beziehungen häufig unter den Teppich gekehrt wird. Stattdessen gilt Polyamorie bei manchen als „moralisch überlegenes“ Beziehungsmodell. Das ist es nicht; es ist einfach bloß ein anderes Modell, das für dich funktionieren – oder eben auch nicht funktionieren – kann. Insbesondere in queeren Kreisen wird Polyamorie aber dennoch als „richtiges“ Modell angepriesen.
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So ging es jedenfalls Kelvin, als er und sein:e Partner:in ihre Beziehung öffneten. Er erzählt, sie hätten sich damals einfach reingestürzt, ohne die Herausforderungen der Nicht-Monogamie zu kennen. Zwar galt Polyamorie in seinem Umfeld als völlig legitime Option (was toll ist), doch fühlte sich Kelvin, als habe er – als trans Person, die andere trans Personen daten wollte – quasi gar keine andere Wahl (und das ist weniger toll).
Weil Kelvin nicht-monogame Beziehungen damit verband, immer der Zweitpartner zu sein und emotional auf Abstand gehalten zu werden, war er sich zu dem Zeitpunkt gar nicht sicher, ob Polyamorie überhaupt sein Ding sein könnte. In seiner jetzigen Beziehung gibt sich sein:e Partner:in aber sehr viel Mühe, damit sich Kelvin nicht austauschbar oder entbehrlich vorkommt – und genau deswegen fühlt sich die Nicht-Monogamie für ihn jetzt deutlich bedachtsamer an als damals. „Ich mache das, weil ich gerne daten und alle Leute treffen will, die ich daten möchte. Nicht, weil ich das Gefühl habe, vor der Wahl zu stehen, entweder gar keine:n Partner:in zu haben oder diese Person andere Leute daten zu lassen.“
Es ist leicht, darauf zu hoffen, dass das Öffnen deiner Beziehung all eure Probleme lösen könnte. Es ist deutlich schwieriger, dir die Ursachen dieser Probleme mal genau anzusehen und deine Einstellung zu Beziehungen zu hinterfragen. Dr. Powell rät davon ab, das Öffnen einer Beziehung so zu betrachten, als würdest du mehr Leute hineinlassen – sondern es als Chance zu sehen, deine Beziehung von Grund auf zu überdenken und gegebenenfalls neu aufzubauen.
Und das gilt übrigens auch für monogame Beziehungen. Überlege dir, wie du dir eine Beziehung vorstellst und wünschst, anstatt dich blind nach den gesellschaftlichen Erwartungen davon zu richten, wie eine Beziehung aussehen sollte.
Nicht-Monogamie ist kein Zauberstab, mit dem du deine Beziehung magisch reparieren kannst. Stattdessen kann sie dafür sorgen, dass du deine Beziehung plötzlich wie unter einem Mikroskop betrachtest und alle kleinen Fehler darin erkennst. Und weil wir Menschen sind und es unsere Herzen und Gefühle meist recht wenig kümmert, was wir uns von ihnen wünschen, erfordern polyamouröse Beziehungen mindestens genauso viel Arbeit wie monogame.
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