Nach ganzen 18 Monaten allein in meiner (wenn auch schönen) Einzimmerwohnung, während denen ich tagein tagaus die gleichen vier Wände anstarrte, bin ich gerade vom Urlaub auf einer abgelegenen griechischen Insel im Ägäischen Meer zurückgekehrt. Für mich war das meine zweite Chance auf einen echten Sommer gewesen.
Mein Wunsch nach einem Urlaub woanders hatte damit zu tun, dass ich der Realität entkommen und eine Fantasie ausleben wollte. Während der Pandemie wegzufahren oder in ein anderes Land zu fliegen, war sehr nervenaufreibend. Schließlich gibt es keinen Ort auf der Welt, der nicht von COVID-19 und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Abschwung betroffen ist. Reisen, selbst wenn erlaubt, stellten ein Risiko für Reisende und andere Menschen dar. Mit der Einführung der Impfstoffe stiegen die Reisebuchungen jedoch sprunghaft an.
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Trotz allem schien es so, als ob die Flucht vor der Wirklichkeit immer noch eine Priorität war für diejenigen, die es sich leisten konnten, zu verreisen.
Die Sommernächte auf der Insel waren ruhig, abgesehen von dem gelegentlichen Gerangel zwischen streunenden Katzen, die um Futter kämpften. Während ich dort war, konnte ich zum ersten Mal seit etwa acht Monaten und trotz der kykladischen Hitze wieder träumen. Vielleicht lag das daran, dass ich weg von allem war. Es fühlte sich an, als hätte die Möglichkeit, eine Pause einzulegen und meine gewohnte Umgebung zu verlassen, wieder den Raum fürs Träumen geschaffen.
In meinen Träumen führte ich lange Gespräche mit Ex-Freund:innen, hatte vier riesige Tiger als Haustiere, lebte auf einer Insel und betrieb ein Restaurant, in dem alles, was ich servierte, in meinem eigenen Gemüsebeet angebaut worden war. Ich träumte davon, dass Berlin aufgrund einer durch den Klimawandel verursachten Flut unterging und dann von Außerirdischen erobert wurde.
Unzählige Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Sie waren so lebhaft, dass ich alle Ängste in Zusammenhang mit den Infektionsraten zu Hause für eine Weile beiseiteschieben konnte. Gleichzeitig erlaubten sie es mir, alles zu verarbeiten, was in letzter Zeit in meinem persönlichen Leben und um mich herum passiert war: von Trennungen bis zu dem sehr beunruhigenden Bericht des IPCC über den Klimawandel.
Untersuchungen aus dem Jahr 2020 zeigen, dass sich die Pandemie auf unsere Träume ausgewirkt hat. Eine Studie, die in der Zeitschrift Frontiers in Psychology veröffentlicht wurde, ergab, dass wir jetzt mehr schlafen und träumen als davor.
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Das überrascht wahrscheinlich niemanden, denn Träume spiegeln ja schließlich unsere Erfahrungen während des Tages wider. Die vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf hin, dass hier der so genannte zirkaseptische Prozess im Spiel ist. Ein zirkaseptischer Rhythmus ist ein Zyklus von etwa sieben Tagen, in dem viele biologische Vorgänge auf eine Periodenlänge von etwa sieben Tage synchronisiert werden. Aus diesem Grund binden wir für gewöhnlich Ereignisse des vorangegangenen Tages und der vorangegangenen Woche in unsere Träume ein.
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Tagträume sind ein eingebauter Mechanismus, mit dem wir uns in mögliche Zukunftsszenarien und verschiedene soziale Situationen hineinversetzen können.
Dr Heather Sequeira
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Während meines Urlaubs träumte ich aber auch im Wachzustand. Ich hatte Tagträume von alternativen Versionen meines Lebens: „Vielleicht könnte ich einfach hierher ziehen. Ich wollte schon immer Floristin werden. Vielleicht sollte ich Mutter werden.“ Während ich in der Sonne saß, versank ich in meinen Träumen und verlor mich in den Vorstellungen darüber, wie mein Leben sonst noch aussehen könnte.
Zurück in Berlin kann ich nachts nicht schlafen und träume nicht. Ich drehe und wende mich wieder die ganze Nacht lang. Ich versuche, dem Drang zu widerstehen, mein Telefon umzudrehen und nachzusehen, wie spät es ist. Stattdessen konzentriere ich mich auf meine Fantasien, die ich zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachsein und Schlafen heraufbeschwöre. Wenn es hell wird, gehe ich spazieren, bevor ich zu arbeiten beginne. Dabei träume ich mit offenen Augen. In meinem Kopf beschäftige ich mich mit Visionen von dem Leben, das ich haben könnte. Ich will nicht damit aufhören. Mein wirkliches Leben fühlt sich wie eine unerwünschte Unterbrechung an, und ich fühle mich schuldig, weil ich meiner Realität entkommen möchte.
Träume ich etwa zu viel während des Tags? Dr. Heather Sequeira, eine beratende Psychologin, sagt, dass es im Großen und Ganzen „eine gute Sache ist, unserem Geist zu erlauben, zu träumen oder verschiedene Erfahrungen in unserer inneren Welt zu erkunden. Das kann von Vorteil sein.“ Denn Träumen ist, wie Heather es nennt, ein „eingebauter Mechanismus, mit dem wir uns in mögliche Zukunftsszenarien und verschiedene soziale Situationen hineinversetzen können. Auf diese Weise testet unser Gehirn unsere Wünsche, um abzuschätzen, wie sich Dinge in verschiedenen Situationen und Kontexten anfühlen könnten. Auf diese Weise können wir potenzielle zukünftige Ereignisse ‚ausprobieren‘ und überprüfen, wie es uns damit geht – insbesondere solche, die mit sozialen Begegnungen und Beziehungen zu tun haben. Das Ganze hat aber auch eine gesunde Grenze.“
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Tagträumen ist also gut für unser Gefühlsleben. „Tagträume sind auch eine Möglichkeit, vergangene Erfahrungen –Besonders im sozialen Bereich – wieder aufzurollen und zu analysieren“, fährt Heather fort. „Wir können uns beim Versuch verlieren, zu bestimmen, was eine Person dachte und fühlte, als sie mit uns interagierte. Tatsächlich kann diese Art von Tagtraum dabei helfen, Dinge besser zu verstehen. Zu diesem Zweck sortiert unser Gehirn die Tausenden von sozialen Begegnungen, die wir bereits in unserem Gehirn gespeichert haben, und versucht, alle Variationen zusammenzufügen, indem es sich die innere Welt und das Verhalten anderer Menschen in Bezug auf uns selbst in diesen imaginären Kontexten vorstellt und Dinge vorhersagt.“
Obwohl es natürlich stimmt, dass unsere Tagträume manchmal idealisierte Vorstellungen – genauso wie sie Projektionen – von Dingen sein können, die wir fürchten oder vermeiden wollen, gibt es laut Heather Beweise dafür, dass sie förderlich für unsere Kreativität sein können.
„Es gibt zahllose Beispiele von Autor:innen, Wissenschaftler:innen und anderen kreativen Arbeitsgruppen, die beim Träumen oder Tagträumen Aha-Erlebnisse haben oder auf neue Konzepte und alternative Problemlösungen stoßen“, sagt sie. „Wenn wir träumen, ist eine Gruppe von Gehirnregionen aktiv, die als ‚Standardmodus-Netzwerk‘ bekannt ist. Dieser Bereich des Gehirns ist am aktivsten, wenn wir geistig ‚abdriften‘ oder ‚abschalten‘, also nicht mit einer externen Aufgabe beschäftigt sind, die unsere Aufmerksamkeit erfordert.“
Heather ist nicht die einzige Person, die von den Vorzügen von Tagträumen schwärmt. Anfang dieses Jahres veröffentlichte eine Gruppe von Forscher:innen eine Studie in der Zeitschrift Emotion, in der sie argumentierten, dass Tagträumen eine wichtige Aktivität des Gehirns darstellt, die wir häufiger ausüben sollten.
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Es ist wichtig, dir vor Augen zu halten, inwieweit Tagträumen nützlich und wertvoll für dich ist, und nicht, zu entscheiden, ob es gut oder schlecht ist.
DR HEATHER SEQUEIRA
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Erin Westgate ist eine der Verfasser:innen der Studie. Sie ist Sozialpsychologin und Assistenzprofessorin an der Universität von Florida. Sie erklärt, dass Tagträumen eine Handlung ist, die „zu unseren kognitiven Tools gehört und leider unterentwickelt ist“.
Erin und die anderen Autor:innen der Studie fanden heraus, dass wir „einfach nicht wissen, worüber wir nachdenken sollen, um unsere Gedanken zum Spaß schweifen zu lassen oder Tagträume zu haben“. Sie spekulierten, dass das zum Teil daran liegen könnte, dass wir als Kinder fürs Tagträumen beschämt werden und gesagt bekommen, dass wir uns konzentrieren sollen, anstatt uns gedanklich zu verlieren.
„Es geht immer darum, das Gleichgewicht zwischen dem Verweilen im Hier und Jetzt und dem Abtauchen in eine Welt voller Fantasien oder möglicher Zukunftsszenarien zu finden“, sagt Heather. „Es ist also wichtig, dir vor Augen zu halten, inwieweit Tagträumen nützlich und wertvoll für dich ist, und nicht, zu entscheiden, ob es gut oder schlecht ist.“
Gleichzeitig warnt sie davor, dass Tagträumen süchtig machen kann. Sie erklärt, dass zu viel des Guten ein automatischer Bewältigungsmechanismus sein kann, mit dem eine Person ihre emotionale Notlage reguliert. Das ist als maladaptives Tagträumen bekannt und wird als Reaktion auf Traumata, Missbrauch oder Einsamkeit verstanden.
Nach 18 Monaten, die sich durch Ungewissheit und Umbrüche auszeichneten, spielen unsere Träume vielleicht eine größere Rolle, als uns bewusst ist. Der indischen Autorin Arundhati Roy zufolge sei die Pandemie „eine Pforte“.
„Historisch gesehen haben Pandemien uns Menschen dazu gebracht, mit der Vergangenheit zu brechen und uns unsere Welt neu vorzustellen“, schrieb sie. „Das ist bei dieser Pandemie nicht anders. Sie ist eine Pforte, ein Tor zwischen einer Welt und der nächsten.“
Auch unsere Träume sind eine Pforte. Im Moment sind wir alle gezwungen, uns selbst gegenüberzutreten und uns mit dem auseinanderzusetzen, was in unserem eigenen Leben und in unserer Gesellschaft gut läuft und was nicht – von Ungleichheit über Rassismus bis zur Klimakrise. Unsere Träume bieten einen Ausweg, einen Raum, in dem wir Dinge analysieren und neue Wege ausprobieren können. Deshalb sollten wir sie ruhig zulassen.