Als Harmony* Adeles neues Album 30 zum ersten Mal hörte, war sie gerade bei einer Bootsfahrt und trank Rotwein. Sie und ihr:e Freund:in sprachen übers Thema Liebe – oder genauer gesagt: Harmony ließ Luft über ihren Ex ab, den sie mitten in der Pandemie kennengelernt hatte. Diese zu Beginn verträumte, berauschende und relativ unbeschwerte Affäre hatte sich zu einem toxischen und stressigen Albtraum entwickelt. Und als sie versuchte, mit ihm über ihre Probleme zu sprechen – einschließlich seiner Angewohnheit, unverhohlen mit anderen Frauen zu flirten –, wechselte er das Thema, verhielt sich respektlos und fing sogar mit Gaslighting an. Enttäuscht machte Harmony also Schluss. Und obwohl zwischen der Trennung und dem Treffen mit ihrer Freundin auf dem Boot mittlerweile zwei Wochen vergangen waren, war sie noch lange nicht über die Sache hinweg.
WerbungWERBUNG
Bevor Harmony ihrer Freundin von ihrem Liebeskummer erzählte, hatte diese das neue Album von Adele als perfekte Hintergrundmusik für ihr Gespräch vorgeschlagen. Harmony schenkte der Musik zu Beginn des Gesprächs nur wenig Beachtung. Das änderte sich aber schlagartig, als der Song „Woman Like Me“ ertönte. Der Refrain der ergreifenden Ballade, in der es darum geht, sich bewusst zu machen, was man verdient und wie quälend es ist, mit jemandem zusammen zu sein, der dir das nicht gibt, ergriff sie sofort. „In diesem Lied geht es darum, dass Selbstgefälligkeit die schlechteste Eigenschaft ist, die eine Person haben kann, und dass Beständigkeit ein Geschenk ist, das wir anderen umsonst geben“, erzählt die 33-Jährige. „Diese Botschaft hat mich wirklich berührt.“
Als Harmony dann wieder zu Hause war, spielte sie den Song immer und immer wieder, während sie ihre Wohnung putzte. „Ich bin Steinbock. Es liegt also in meiner Natur, Songs ununterbrochen zu hören“, sagt sie. Während sie wischte und das Geschirr schrubbte, traf der Song sie bei jedem Durchlauf auf eine andere Weise. „Je öfter du diesen Track hörst, desto mehr merkst du, dass Adele sich zwar in dieser Beziehung verlieren wollte, aber nicht auf diese Weise“, sagt sie. „Für mich besteht die Moral der Geschichte darin, dass sie selbstgefällige Personen, die sie nicht voll und ganz respektieren, nicht toleriert und deshalb weiterziehen will. Diese Message brauchte ich damals ungemein und ich glaube, ich fand den Song genau zum richtigen Zeitpunkt.“
Harmony ärgert sich nicht wirklich darüber, dass sie während des so genannten „Sad Girl Autumns“ eine Trennung durchmachen musste (die vielleicht unvermeidliche Folge des „Hot Girl Summers“). Der diesjährige Herbst ist von einem traurigen Soundtrack untermalt (und vielleicht auch geprägt): „The Only Heartbreaker“ von Mitski, Adeles 30 und Taylor Swifts neu aufgenommene Version von Red. Beim Anhören dieser Musik lässt sich Trennungsschmerz einfach nicht verdrängen.
WerbungWERBUNG
Für Leute wie Harmony, die sich in diesem Herbst von ihren Partner:innen trennten, fühlten sich diese traurigen Chartstürmer schicksalhaft an oder waren ein willkommenes Geschenk. Um ihre Trennung zu verarbeiten, spielte Harmony unaufhörlich „Woman Like Me“ und gelegentlich Solanges „T.O.N.Y.“. Diese Songs hätten ihr dabei geholfen, ihren Liebeskummer zu bewältigen.
Wenn du gerade versuchst, mit einer Trennung fertig zu werden, oder mit dem Gedanken spielst, dich zu trennen, kann Musik tatsächlich dafür sorgen, dass sich deine Emotionen verändern und weist damit eine heilende Wirkung auf, sagt Amy Morin, eine Sozialarbeiterin, die als Chefredakteurin bei Verywell Mind dazu beigetragen hat, eine Umfrage über den Zusammenhang zwischen Musik und geistiger Gesundheit durchzuführen. „Musik hat definitiv die Fähigkeit, die Art und Weise zu verändern, wie wir denken und fühlen“, erklärt sie. „Bei vielen Menschen ruft sie Emotionen hervor. Sie führt dir vielleicht vor Augen, dass es nicht in Ordnung ist, wie du behandelt wirst, oder dass du etwas Besseres verdienst. Meiner Meinung nach kann sie Menschen dazu ermutigen, ihr Leben zu ändern. In manchen Fällen kann das dazu führen, dass Leute etwas an ihrer Beziehung verändern wollen oder sogar beschließen, getrennte Wege zu gehen.“
Eine Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass unterschiedliche Musik in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Emotionen hervorrufen kann: von Traurigkeit über Wut, Nostalgie und Aufregung bis hin zu Angst. Und dabei geht es nicht nur um die Texte. „Derzeit gehen wir davon aus, dass die akustischen Merkmale von Musik der Art und Weise ähneln, wie wir unsere Emotionen mit unserer Stimme ausdrücken“, sagt Dr. Dacher Keltner, Professor für Psychologie an der Berkeley-Universität in Kalifornien und einer der Autor:innen der Studie. Da traurige Lieder nun mal traurig klingen, bringen sie also melancholische Erinnerungen in uns och. „Unser Gehirn verzeichnet ein trauriges Gefühl. Da diese Botschaft aber in einem musikalischen Kontext überliefert wird, handelt es sich dabei um eine andere Art von Emotion als unsere eigene Traurigkeit“, sagt Dr. Keltner. Traurige Musik zu hören, ermöglicht es uns also, unsere eigene Traurigkeit objektiv zu betrachten. Es ist, als sähen wir uns selbst und unserer Lage als Außenstehende.
WerbungWERBUNG
Deshalb können selbst traurige Lieder eine positive Wirkung auf uns haben. Tatsächlich haben sich viele Menschen während der Pandemie mehr denn je auf die heilende Wirkung von Musik verlassen. Morin sagt: „Wir konnten nicht auf einen Kaffee mit Freund:innen gehen, aber… wir konnten das Radio einschalten und uns so ein bisschen weniger allein fühlen.“
Traurige Lieder zu hören, die es dir ermöglichen, mit unangenehmen Gefühlen zurechtzukommen, kann sich zwar erlösend anfühlen, aber einige Expert:innen argumentieren, dass ein zu langes Verweilen in diesen Gefühlen mehr schaden als nützen kann. Dr. Keltner sagt, dass noch mehr Untersuchungen nötig sind, bevor wir mit Sicherheit sagen können, ob das übermäßige Hören von trauriger Musik uns letztendlich noch trauriger macht, als wir es ohnehin schon sind. Dennoch rät Morin dazu, während eines Muisk-Marathons regelmäßig in dich zu gehen. „Wenn du traurig bist und Musik dich noch trauriger macht, ist es wichtig, dir einen Moment Zeit zu nehmen, um präsent zu sein und zu analysieren, ob – und wenn ja, inwiefern – es dir hilft, in diesem Traurigkeitszustand zu sein“, sagt sie.
Morin ist auch nicht begeistert davon, dass Traurigkeit durch Musik verherrlicht wird. Die TikTok-Trends, die in Zusammenhang mit den herzzerreißenden Alben von Adele und Swift entstanden und oft fröhlich sind, zielen darauf ab, die universelle Erfahrung zu nutzen, dass wir uns bei einer düsteren Playlist in unsere Gefühle hineinsteigern – denk nur mal an die Leute, die Taylors Version alter Klassiker eher schreiend als singend unter der Dusche zum Besten geben. Morin betont aber auch, dass es wichtig ist, zu vermitteln, dass der Trennungsschmerz irgendwann vorbei sein wird und wir nicht für immer in einem Emotionstief „feststecken zu brauchen“.
WerbungWERBUNG
Anthony* zum Beispiel sagt, er habe die Musik dieses Sad Girl Autumns nur bis zu einem gewissen Punkt als hilfreich empfunden. Im Oktober beendete er seine Beziehung zu der „erstaunlichen Person“, mit der er seit etwa drei Monaten zusammen gewesen war. Manchmal tröstet es ihn noch, auf dem Teppichboden seines Schlafzimmers neben seinem Wäschekorb zu liegen und Tränen zu Musik von Adele und Mary J. Blige zu vergießen. Obwohl ihm das vorübergehend über seinen Liebeskummer hinweg hilft, ist ihm auch bewusst, dass „Adele keine professionelle Therapeutin ist“.
„Ich bin noch nicht überm Berg“, sagt Anthony gegenüber Refinery29. „Letzten Endes weiß ich, dass ich an mir selbst arbeiten muss, damit ich mich gut fühlen und so die richtigen Leute anziehen kann.“
In letzter Zeit sehnt Anthony sich aber auch nach Musik, die ihn in eine bessere Stimmung versetzt und ihm erlaubt, an etwas anderes zu denken wie zum Beispiel „I Knew I Loved You“ von Savage Garden. Auch Harmony sagt, dass sie – obwohl sie vermutet, dass sie noch eine weitere Woche lang „Woman Like Me“ ohne Pause hören wird – anfangen möchte, wieder mehr und mehr fröhlichere Tracks zu hören wie z. B. „Savage“ von Megan Thee Stallion. „Manchmal ist mir nach Musik, die meine dunklen Gefühle widerspiegelt und bei der ich mich mit einem Kuscheltier ins Bett verkriechen kann“, sagt sie. „Ich finde es wichtig, das Gleichgewicht zu finden zwischen Musik, die uns erlaubt, unangenehme Gefühle rauszulassen und zu verarbeiten und Musik, durch die wir uns besser und selbstbewusster fühlen können und die uns dabei hilft, unseren Wert zu erkennen.“
Während traurige Lieder Harmony und Anthony also dabei halfen, ihre Trennung zu verarbeiten, wollen sich die zwei von jetzt an wieder eher fröhlichere Melodien widmen, um auf diese Weise ihr Selbstvertrauen wiederzuerlangen. Dr. Keltner weist darauf hin, dass es viele Dinge gibt, die du tun kannst, um die Stimmung wieder zu heben wie z. B. einen Film anzuschauen oder mit Freund:innen auszugehen. Musik ist nur eines der Mittel, die uns zur Verfügung stehen, aber es ist sehr wirkungsvoll. „Es gibt viele Gründe, warum wir uns für Musik entscheiden, um über Liebeskummer hinwegzukommen, und das stellt ihren Reichtum unter Beweis“, sagt Dr. Keltner.
Musik kann dich auch in vergangene Momente zurückversetzen. Sollte Harmony z.B. eines Tages zufälligerweise irgendwo „Woman Like Me“ hören, wird sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit augenblicklich wieder an diese Trennung und daran erinnern, wie sie sich in diesem Moment fühlte. Außerdem wird sie dann hoffentlich auch bemerken, wie weit sie seitdem gekommen ist. „Ich weiß nicht, wie ich solche Momente ohne Musik durchstehen würde“, sagt sie.