Vom Myers-Briggs-Persönlichkeitstest erfuhr ich bei meinem ersten Job in einem Start-up-Unternehmen mit Anfang 20, als wir alle den Test machten. Dieser ordnet dich einem von 16 möglichen Temperamenttypen zu. Der Test wurde während des Zweiten Weltkriegs von Mutter und Tochter Katharine Cook Briggs und Isabel Briggs Myers entwickelt und sollte Frauen, die zum ersten Mal ins Berufsleben eintreten, dabei helfen, zu verstehen, welche Jobs am besten für sie geeignet wären.
Heutzutage wird dieser Test gerne im Personalbereich angewendet, wenn es z. B. um Einstellungsgespräche, Teamwork, Coaching und Jobkriterien geht. Das war auch bei mir der Fall. Jetzt wird über diesen Test gesprochen, als hätte er seherische Kräfte in Bezug auf alles – von der Partnersuche über die Karriere bis hin zu Familienverhältnissen. Bei mir ergab sich der Persönlichkeitstyp ENFJ (fürsorglich, inspirierend, motivierend und mitfühlend). Es fühlte sich an, als wäre der Myers-Briggs-Test eine magische Kugel, die meine Zukunft vorhersagen würde, und ich war wirklich begeistert, dass ich (anscheinend) denselben Persönlichkeitstyp wie Barack Obama und Oprah Winfrey hatte.
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Dass ich dem Test zufolge ein extrovertierter Mensch sei, wunderte mich ein wenig. Ich kann mich zwar kaum noch daran erinnern, was die einzelnen Buchstaben des Myers-Briggs-Systems bedeuten, aber die Frage, ob ich innerlich oder äußerlich orientiert bin, beschäftigt mich bis heute. Selbst wenn du noch nie etwas von diesem Persönlichkeitstest gehört hast, sind dir die Bezeichnungen „introvertiert“ und „extrovertiert“ sicherlich ein Begriff und du kannst deine Persönlichkeit wahrscheinlich der einen oder anderen Kategorie zuordnen. Das Ganze stellt das Spannungsfeld zwischen genetischer Anlage und Umwelt in den Vordergrund. Wie sehr definieren uns diese Bezeichnungen und wie sehr definieren wir uns durch sie? Es ist wie mit dem Huhn und dem Ei.
In meinen frühen 20ern glaubte ich, dass ich ein extrovertierter Mensch sei und deshalb nicht allein sein könne. Ich war ständig von Menschen umgeben. Jetzt frage ich mich aber, ob das vielleicht daran lag, dass ich tatsächlich ein extrovertierter Mensch bin, oder daran, dass ich unbewusst glaubte, ständig mit anderen zusammen sein zu müssen?
Ein extrovertierter Mensch wird als jemand definiert, der:die Energie aus dem Zusammensein mit anderen bezieht und der:die Probleme laut mit anderen durchdenken muss. Solche Personen gelten als gesprächig und kontaktfreudig. Im Gegensatz dazu ist ein introvertierter Mensch jemand, der:die Energie aus dem Alleinsein bezieht und Dinge allein durchdenken muss. Solche Personen gelten als eher ruhiger und nachdenklicher. Damit ist ein implizites Werturteil darüber verbunden, welcher „Persönlichkeitstyp“ besser ist.
Im Grunde genommen handelt es sich bei Introvertiertheit und Extrovertiertheit um eine stark vereinfachte Art zu verstehen, wie wir mit anderen Menschen und mit uns selbst umgehen. Ich denke, es sagt viel über uns als Menschen aus, dass Introvertiertheit und Extrovertiertheit die beliebtesten und meistdiskutierten Persönlichkeitsbereiche des Myers-Briggs-Tests sind.
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Als ich älter wurde, änderte sich mein Leben und damit begann ich, meine Überzeugung, dass ich ein extrovertierter Mensch sei, von Tag zu Tag in Frage zu stellen. Ich zog in eine größere Stadt, wo ich nur wenige Freund:innen hatte, in kleineren Unternehmen arbeitete und viel Zeit allein verbrachte, da ich beruflich viel unterwegs war. Ich wurde immer mehr zu jemandem, die sich durchs Alleinsein gestärkt fühlte und eine Auszeit von anderen Menschen brauchte, um neue Energie tanken und nachdenken zu können.
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Persönlichkeitstypen sind ein guter Ausgangspunkt dafür, uns mit uns selbst zu beschäftigen, aber sie können uns auch davon abhalten, tiefer zu gehen und zu ergründen, was wir wirklich fühlen.
Jodie Cariss
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Dann, mit 29, wurde ich gefeuert, machte mich selbstständig und mochte nichts lieber, als den ganzen Tag allein zu arbeiten. Für mich war das ein eindeutiger Beweis dafür, dass ich nicht wirklich extrovertiert bin. Also machte ich einen weiteren Persönlichkeitstest, und dieses Mal stufte mich das Ergebnis in eine neue, dritte Kategorie ein, von der ich noch nie gehört hatte: Ambiversion.
Das ergab Sinn. Ich passte nicht mehr in das Schema der Extrovertiertheit, aber ich identifizierte mich auch nicht mit dem Introvertiertsein. Deshalb fühlte es sich nicht richtig an, mich weder als ‚introvertiert‘ noch als ‚extrovertiert‘ zu bezeichnen. Mir meines neuen Labels bewusst blickte ich auf mein Leben zurück, und auf einmal wurde mir alles klar. Ich liebe Gruppenreisen und Solo-Trips gleichermaßen, ich verlasse das Haus oft und gehe viel aus, verbringe aber auch gerne viel Zeit allein zu Hause. Ich bin gerne die ganze Nacht unterwegs und lasse mich von der Energie der anderen berauschen. Wonach mir ist, hängt einfach von den Leuten, der Situation und manchmal sogar von meinem Menstruationszyklus ab. Die Erkenntnis, dass das daran liegt, dass ich sowohl introvertiert als auch extrovertiert bin, fühlte sich befreiend an. Es ergab auch deshalb Sinn, weil ich Zwilling bin (falls Astrologie eine Rolle für dich spielt). Jetzt hatte ich ein neues Label, das wirklich zu mir passte.
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Obwohl ich jetzt ein besseres Verständnis meiner Persönlichkeit hatte, fühlte ich mich ein wenig im Regen stehen gelassen. Intro- und Extrovertiertheit erhielten immer mehr Aufmerksamkeit, da sich immer mehr Menschen als das eine oder das andere identifizierten, was sich in unterschiedlichen Diskussionen widerspiegelte.
Ambivertiertheit ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das jemanden beschreibt, der:die sich in der Mitte des Spektrums von Introversion und Extroversion befindet. Der Begriff wurde 1923 von einem Psychologen namens Edmund Smith Conklin geprägt.
Laut Conklin sind ambivertierte Personen manchmal Anführer:innen und manchmal Mitläufer:innen. Ambivertierte Menschen können extrovertiert aufwachsen und später im Leben introvertiert werden. Sie können sich auch je nach Situation verändern. „Diese Fähigkeit, zwischen dem, was eindeutig introvertiert ist, und dem, was ebenso eindeutig extravertiert ist, hin- und herzuschwanken, ist, was ich als ‚Ambiversion‘ bezeichne“, schrieb Conklin 1924 in einem Aufsatz.
Die Pandemie hat das Ganze nur noch komplizierter gemacht. Mit jedem Lockdown verlangsamte sich unsere hektische Welt, die extrovertierte Menschen begünstigt. Leute begannen mit der Idee um sich zu werfen, dass der Lockdown introvertierten Personen die Möglichkeit gäbe, sich zu entfalten.
Die durch das Coronavirus verursachte Unterbrechung unseres Arbeits- und Soziallebens könnte ein Beweis dafür sein, dass es vielleicht an der Zeit war, diese Bezeichnungen ein für alle Mal fallen zu lassen. Egal ob introvertiert, extrovertiert oder ambivertiert: Die Realität ist, dass die Lockdowns für uns alle beschissen waren.
Es scheint jedoch, dass wir jetzt mehr als je zuvor wissen wollen, ob wir nun extro- oder introvertiert sind, vor allem, weil die Lockdowns mittlerweile aufgehoben worden sind und wir uns immer mehr bewusst werden, wie wir in die Welt zurückkehren wollen. Überall, wo ich hinschaue, gibt es Artikel und Instagram-Posts zu diesem Thema.
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Dafür gibt es einen guten Grund. Jodie Cariss, Therapeutin und Gründerin von Self Space, meint Folgendes dazu: „Wenn wir in unserem Leben nicht mehr weiter wissen, suchen wir nach Stabilität, und diese Labels geben sie uns.“ Sie fährt fort: „Wir sind komplex und suchen nach einem Konzept, um uns selbst zu verstehen. Es ist wie bei Kindern, die nach Grenzen suchen, weil sie sich dort am sichersten fühlen.“
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„Diese Fähigkeit, zwischen dem, was eindeutig introvertiert ist, und dem, was ebenso eindeutig extravertiert ist, hin- und herzuschwanken, ist das, was ich als ‚Ambiversion‘ bezeichne.“
Edmund Smith Conklin
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Es ist Teil unseres Überlebensinstinkts, uns ganz genau vor Augen zu führen, wie wir mit anderen interagieren und in welcher Beziehung wir zu ihnen stehen. Daher ist es nur logisch, dass wir uns an ein Konzept klammern, das unser Verständnis für etwas, das uns bewusst oder unbewusst ist, fördern kann.
Jodie fügt hinzu, dass dieses Persönlichkeitstypen-Konzept mit Vorsicht zu genießen sei. Sie sagt, dass Labels als Ausgangspunkt dafür dienen können, uns mit uns selbst zu beschäftigen, sie uns aber auch davon abhalten können, tiefer zu gehen und zu ergründen, was wir wirklich fühlen. Sie erklärt: „Manchmal suchen wir außerhalb von uns selbst nach Antworten, wenn wir sie nicht in uns selbst finden können.“
Jodie meint auch, dass diese Bezeichnungen zu einem Trostpflaster werden können, das uns davon abhält, uns selbst zu hinterfragen. „Darüber nachzudenken, wie wir uns in sozialen Situationen fühlen oder wie es um unser Selbstvertrauen bestellt ist, ist mit mehr Arbeit verbunden, als uns einer Kategorie zuzuordnen, was eine Form von Vermeidung sein kann“, fügt sie hinzu.
Damit konnte ich mich identifizieren, und als jemand, die Persönlichkeitstests liebt, fragte ich mich, ob der Begriff, mit dem wir uns selbst beschreiben, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. Ich leide häufig unter sozialen Ängsten, die sich verschlimmert haben, seitdem die Lockdowns vorbei sind. Kürzlich ging ich allein auf eine Party und fühlte mich furchtbar unwohl und hatte schreckliche Angst. Deshalb konnte ich mich kaum vom Sofa losreißen. Aber zu wissen, dass ich ambivertiert bin und dass ich auf Partys extrovertiert sein kann, hat mich dazu motiviert, zuzusagen und hinzugehen. Ich blieb nicht lange dort, aber ich fühlte mich durch die Gespräche mit neuen Leuten danach sehr gestärkt. Durch die Lockdowns war mir meine soziale Welt klein vorgekommen, und es fühlte sich gut an, meine Komfortzone zu verlassen. Vielleicht kann also ein flexiblerer Ansatz nützlich für diesen „Persönlichkeitstyp“ sein.
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Jodie erzählt, was das Gute daran ist, ambivertiert zu sein. „Du kannst zwischen allen Aspekten des Intro- und Extrovertiertseins wählen, sodass sich beide Seiten wieder ausgleichen. Dich als eine Mischung zu sehen, ist produktiver, weil du dich so nicht selbst polarisierst. Es überlässt dir die Wahl. Das Ambiversions-Label ist befreiender, da es besagt, dass alles möglich ist.“
Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte mir die Bezeichnung, über die ich zufällig gestolpert war, eine Wahl überlassen. Die Überzeugung, dass ich ambivertiert bin, bedeutet, dass ich keine Entscheidungen treffen muss, die darauf beruhen, ob ich introvertiert oder extrovertiert bin. Deshalb muss ich nun jedes Mal, wenn ich etwas tun möchte, abwägen und eine Entscheidung treffen, die darauf beruht, ob ich glaube, dass etwas nützlich für mich sein wird oder nicht. Jodie erklärt, dass es besser wäre, unser Schubladendenken beiseitezuschieben und uns stattdessen zu fragen, ob uns etwas nährt. „Wenn das nicht der Fall ist, dann wird die Entscheidung, es nicht zu tun, zu einer Wahl und nicht zu einer auferlegten Vorstellung, die wir über uns selbst haben.“
Jodies Erfahrung nach sind wir ein bisschen von allem. „Wenn wir in der Lage sind, Herausforderungen auf einer tieferen Ebene zu bewältigen, würden Menschen feststellen, dass sie Zugang zu sowohl extrovertierten als auch introvertierten Facetten haben, wenn sie es wollen.“
Jodie ermutigt uns dazu, uns zu fragen, wie wir uns wirklich fühlen. „Frag dich, was sich hinter deiner Angst verbirgt.“ Sie rät dazu, darüber nachzudenken, ob wir die nötige Energie haben, um mit der Situation in Frage umzugehen, und zu überlegen, wie sie uns von Nutzen sein kann.
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„Wir können uns nicht immer aussuchen, wohin wir gehen, aber wir können uns andere Fragen stellen und darüber nachdenken, was wir tun können, wenn wir dort sind, damit diese Erfahrung uns nicht unsere Kräfte raubt“, fügt sie hinzu.
Indem wir uns nicht durch Labels definieren, haben wir die Möglichkeit zu überlegen, wie es uns in einer bestimmten Situation gutgehen kann, die wir sonst vielleicht einfach aufgrund unseres „Typs“ als schwierig abgetan hätten.
„Wir müssen weiter und tiefer gehen, aber das Gute an diesen Konzepten ist, dass sie unsere Neugierde auf uns selbst wecken“, sagte Jodie. „Sie sind ein guter Anfang, aber wir sollten nicht bei der Definition Halt machen.“ Sie fügt hinzu, dass die Tatsache, dass wir uns überhaupt zu einer bestimmten Bezeichnung hingezogen fühlen, etwas über uns selbst aussagt.
Das veranlasste mich dazu, darüber nachzudenken, warum ich unbedingt wissen wollte, ob ich nun extrovertiert oder introvertiert bin.
Ich erinnerte mich daran, dass wir den Myers-Briggs-Test bei der Arbeit vor all den Jahren auch für andere gemacht hatten, und alle schätzten mich auf der Extrovertiertheitsskala höher ein, als ich es selbst getan hätte. Die anderen hielten mich für extrovertierter, als ich es tatsächlich bin, und das tun sie wahrscheinlich immer noch. Vielleicht rührt meine eigene Faszination für dieses Thema also von dem Wunsch her, besser verstanden zu werden.
Ich hatte oft das Gefühl, dass meine innere Welt und die Wahrnehmung durch andere nicht übereinstimmen. Vielleicht nehme ich deshalb all diese Konzepte so ernst, vor allem dieses hier. Für mich werden Persönlichkeitstests immer ein guter Ausgangspunkt für persönliches Wachstum bleiben, aber ich denke, dass es eine gute Idee sein kann, sich von Labels zu befreien, da sie uns nicht definieren sollten. Wenn du noch nicht dazu bereit sein solltest, das zu tun, kannst du dich auch gerne als „ambivertierter“ Mensch bezeichnen, der die Fähigkeit hat, in unterschiedlichen Momenten mal extrovertiert und und mal introvertiert zu sein.