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So fühlt sich eine körperdysmorphe Störung wirklich an

Illustration: Abbie Winters.
Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Essstörungen und ein gestörtes Körperbild.
Das erste Gefühl, an das ich mich im Zusammenhang mit meinem Aussehen erinnern kann, ist Panik.
Solange ich denken kann, finde ich, dass meine Ohren viel zu stark vom Kopf abstehen. Als ängstliche, untergewichtige Siebenjährige starrte ich im Badezimmerspiegel meine Ohren an und drückte sie mit meinen Handflächen flach gegen den Kopf. Mit neun Jahren fing ich an, mich zu weigern, einen Zopf zu tragen, damit ich meine Haare nicht hinter meine Ohren schieben musste. Und ich weiß noch, wie ich mit elf im Badezimmer saß, meine Ohren zurückschob und sie mit Klebeband an meinen Kopf drückte. In meinen frühen Teenie-Jahren wurde alles nur noch schlimmer, als ich bei MSN gemobbt wurde und von einer Gruppe Mädchen zu hören bekam, ich sähe wie Dumbo aus. Erniedrigt beklagte ich mich jeden Tag bei meinen Eltern über meine Ohren und flehte sie an, mir eine ohrenkorrigierende OP zu erlauben, weil ich sie „brauchte“. 
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Mit der Zeit ließ all das nach, als ich älter wurde und mich mit meinen Ohren besser fühlte. Dann fand ich jedoch heraus, dass ich mein erstes Loch im Zahn hatte. „Hast nicht so gut geputzt, hm?“, witzelte die Zahnärztin rum, während ich vor Schreck erstarrte. Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen um meine Ohren gemacht, dachte ich. Und dabei habe ich meinen Mund komplett vergessen.
Ab diesem Punkt hatte ich panische Angst vor Mundgeruch, und meine Besessenheit verlagerte sich von meinen Ohren auf meinem Mund. Ich fing an, mir zwanghaft sieben- bis neunmal pro Tag die Zähne zu putzen. Ich verdeckte meinen Mund mit meinem Oberteil, wenn ich sprach – und wenn das nicht ging, biss ich mir auf den Zeigefinger, um immer eine Blockade vor meinem Mund zu haben. Am Ende der achten Klasse war mein Zahnfleisch wund und mein Zeigefinger voller Schorf. Ich aß jeden Tag eine Packung Pfefferminzbonbons, obwohl mir davon übel wurde.
Es war mir peinlich, wie stark ich mit mir selbst beschäftigt war, und wenn mich meine Freund:innen fragten, wieso ich so an meiner Bluse rumzupfte oder auf meinem Finger rumkaute, machte ich selbstironische Witze darüber, eine Zwangsstörung zu haben, damit niemand weiter nachfragte. Mein Plan, einfach nicht aufzufallen, ging allerdings nicht auf. In der zehnten Klasse meinte ein älterer Junge beiläufig zu mir: „Du hast echt haarige Arme für ein Mädchen.“
Obwohl ich mir vorher nie Gedanken über meine Körperbehaarung gemacht hatte, stürzte ich daraufhin in ein tiefes Loch, riss mir zwanghaft die Haare von den Armen und rasierte sie fast täglich. Ich war wie besessen davon, den „Flaum“ auf meiner Oberlippe zu wachsen. In jedem Spiegel untersuchte ich mich auf sprießende Härchen, und wenn sich die Lichtverhältnisse änderten, suchte ich mir den nächsten Spiegel, um zu prüfen, ob das neue Licht Haare aufzeigen würde, die mir vorher nicht aufgefallen waren.
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Illustration: Abbie Winters.
Aus all diesen Zwängen wurde allmählich eine ausgewachsene Essstörung, sobald ich die Pubertät erreichte und nicht mehr das untergewichtige Mädchen von früher war. Meine Dünnheit war eine meiner wenigen körperlichen Eigenschaften gewesen, die mir zuvor Selbstbewusstsein verliehen hatten; als mir auffiel, dass ich plötzlich größere Jeans brauchte, verlagerte sich meine Besessenheit auf meine Oberschenkel. Weil ich davon überzeugt war, dass meine Beine verglichen mit dem Rest meines Körpers überproportional dick waren, weinte ich auf dem Weg zur Schule. Meine Makel kamen mir wie eine bizarre Form von Hau-den-Maulwurf vor: Sobald sich eine Besessenheit zeigte, kloppte ich rauf – um festzustellen, dass direkt danach eine andere auftauchte. 
Mit 18 nahm mein Leben eine Wende, als meine beste Freundin während meiner ersten Uniwoche unerwartet verstarb. Trauer und die immer häufigeren Gedanken über meine Oberschenkel zwangen mich dazu, quasi im Fitnessstudio auf dem Campus zu leben und täglich stundenlang zu trainieren. Anfangs joggte ich bloß ein paar Kilometer am Tag; daraus wurden aber schnell so extreme Strecken, dass die wohl kein:e Trainer:in erlaubt hätte. Ich redete mir ein, dass ich sicher selbstbewusster wäre, wenn ich die Kontrolle über meinen Körper hätte – und mich dann auch garantiert weniger einsamer fühlen und den Verlust meiner Freundin besser verkraften würde. Ich verschwendete jeden Tag mehrere Stunden damit, mir auszumalen, wie viel besser es mir wohl ginge, wenn ich mir doch einfach einen Staubsauger ins Bein stecken und das Fett aus meiner Oberschenkelinnenseite saugen könnte.
Meine Beine versinnbildlichten für mich meinen Ehrgeiz und verhüllten meine Trauer. Ich fing an, mich runterzuhungern, um die „perfekte Figur“ zu bekommen, von der ich glaubte, sie bekommen zu können, wenn ich doch nur hart genug arbeitete. Ich nahm ab – war aber der festen Meinung, dass meine Oberschenkel immer dicker wurden. Mir ging es nicht besser. Völlig am Ende hatte ich Fressattacken auf dem Küchenboden und hasste mich selbst für meine Ohren, meine Armhaare und Oberschenkel.
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In meiner Jugend kam es mir ganz normal vor, dass alle behaupteten, sie „fühlten sich fett“. Ich glaubte also, jede:r könne den eigenen Körper nicht leiden.

Mental konnte ich mich meiner Trauer nicht einfach so hingeben; körperlich standen mir meine Oberschenkel im Weg. Ich hatte immer Albträume von meiner besten Freundin und meinen Oberschenkeln. Nachts wachte ich auf und tastete meine Beine ab, um zu prüfen, ob sie plötzlich gewachsen waren. Wenn mir jemand auf dem Bürgersteig entgegenkam, hatte ich sofort Angst, dass wir nicht aneinander vorbeipassen würden. Nach und nach vermied ich es immer mehr, mich in der Bahn zwischen andere Passagiere zu setzen, weil ich befürchtete, meine Oberschenkel würden nicht dazwischenpassen. Stattdessen blieb ich stehen, starrte das Spiegelbild meiner Beine im Bahnfenster an und überlegte, ob sie anders aussahen als noch vor 30 Minuten in meinem Badezimmerspiegel, im Schlafzimmerspiegel, in der Spiegelung in meinem Ofen, im Fenster meiner Nachbar:innen, im Ladenfenster.
Nach meinem Abschluss nahm ich meinen Traumjob in einem Verlag an, verlor aber schon nach wenigen Monaten komplett mein Interesse daran. Es war, als sei ich gar nicht mehr anwesend; meine Arbeit litt natürlich darunter. Alles drehte sich um meine Beine. In Meetings legte ich mir einen Mantel in den Schoß, damit ich mich auf das Treffen konzentrieren konnte, ohne immer wieder nach unten zu schauen. Ich hörte auf, regelmäßig zu duschen und zu baden, weil ich währenddessen immer mit dem Fett an meinen Beinen herumspielte und überlegte, wie viel ich wohl abnehmen müsste, um mich besser zu fühlen. Ein Jahr später wurde ich gefeuert, und mein Verhalten wurde immer chaotischer. Ich zwang mir selbst die Regel auf, mehrmals am Tag joggen zu gehen – oder mich zu übergeben. Ich hörte auf, mich mit Freund:innen zu treffen, weil sie mir immer wieder sagten, ich sähe „krank“ aus.
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In meiner Jugend kam es mir ganz normal vor, dass alle behaupteten, sie „fühlten sich fett“. Ich glaubte also, jede:r könne den eigenen Körper nicht leiden. Haben wir nicht alle sowas wie diesen verhassten Leberfleck auf der Wange? Oder diesen einen Winkel, aus dem wir einfach unschmeichelhaft aussehen?
Illustration: Abbie Winters.
Meine Besessenheit erreichte ihren Höhepunkt, als ich im Herbst bei einer Hochzeit war. Es war mit über 26 Grad ungewöhnlich heiß, und dennoch bestand ich darauf, einen Mantel über meinem Kleid zu tragen. Ich war untergewichtig und weigerte mich zu essen, trank aber doch fünf Gläser Wein auf leeren Magen und konnte irgendwann kaum noch stehen. Meine Eltern redeten am selben Abend auf mich ein. Tränenüberströmt ließ ich mich zu einer Therapie überreden.
Wenige Tage vor Weihnachten 2013 checkte ich also in einer Klinik für Essstörungen ein. Abgesehen von einer generalisierten Angststörung wurde mir eine ernsthafte körperdysmorphe Störung (kurz „BDD“ für „body dysmorphic disorder“) diagnostiziert. „Ist das nicht einfach nur ein Synonym für ‚egozentrisch‘?“, jammerte ich in der Therapie. Trotzdem lernte ich während der Behandlung (und seitdem), dass eine BDD so viel mehr ist als bloß ein „Ich fühle mich so fett“ nach einer großen Mahlzeit oder der Wunsch nach Komplimenten und Aufmerksamkeit. Eine Körperbildstörung zeichnet sich durch eine hartnäckige Besessenheit mit eingebildeten oder kleinen äußerlichen Makeln aus und fühlt sich ungefähr so an, als würde dir eine Mücke am Ohr herumschwirren – ein aufdringliches Summen, das dich den kompletten Tag über verfolgt.
Als ich die Behandlung für meine BDD begann, war ich total schockiert darüber, dass meine besessenen Kindheitsrituale nicht normal gewesen waren. Ich hatte mich selbst so lange belogen, dass ich irgendwann gar nicht mehr wusste, was an meinem Körper real war – und was nicht. Bei einer Übung forderte mich eine Therapeutin dazu auf, ein Garnknäuel zu nehmen und mithilfe der Schnur einzuschätzen, wie dick meine Oberschenkel waren. Nach mehreren Minuten des Grübelns schnitt ich das Garn ab. Ich war entsetzt, als ich die Schnur zweimal um meine Schenkel wickeln konnte. Diese Schnur trage ich jetzt in meiner Tasche mit mir herum, um mich daran zu erinnern, dass meine Einschätzung oft völlig verzerrt ist und überhaupt nicht der Realität entspricht.
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Durch die Therapie habe ich verstanden, dass meine Dysmorphophobie bloß ein Versuch ist, mich von etwas Innerem abzulenken. Ich muss sehr tief in mich hineinschauen, um zu erkennen, was mich wirklich bedrückt. Das kann unangenehm sein – vor allem, wenn ich den Auslöser dafür nicht kontrollieren kann. Ich habe aber begriffen, dass die Heilung erfolgreich sein kann, wenn du zu deiner eigenen Wahrheit stehst – selbst wenn du Angst davor hast, dich dadurch verletzlich zu machen. Zur Heilung gehören aber eben auch schlechte Tage; diesen schweren Weg musst du akzeptieren. Im September postete ich selbstbewusst ein paar Fotos von mir im Bikini. Nur einen Monat später weigerte ich mich, mich mit anderen in einen Whirlpool zu setzen. Für eine körperdysmorphe Störung gibt es kein „Wunderheilmittel“.
Je mehr ich aber versuche, anderen zu helfen, und je mehr bedeutsame Beziehungen ich aufbaue, desto gesünder werde ich. So viele BDD- oder Essstörungs-Betroffene fühlen sich durch ihre Krankheit definiert – so muss es aber nicht sein. Ich schreibe über Essstörungen und BDD, bin aber mehr als nur diese Krankheiten. Ich bin ein offener Mensch, liebevoll und abenteuerlustig, aber auch chaotisch und ein Kontrollfreak. Ich bin nicht perfekt, und das ist okay. Heute bin ich auf dem Weg der Besserung und zufrieden mit dem Menschen, zu dem ich werde – mit all meinen Makeln.
Wenn du selbst an einer Essstörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe braucht, kannst du dich beispielsweise per Email, Chat, Video-Beratung oder Telefon an das ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen wenden.

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