Die Klitoris – die Hälfte der Weltbevölkerung hat eine, und doch scheint kein anderes Körperteil so geheimnisumwittert zu sein wie der Kitzler.
Obwohl die detaillierte Anatomie der Klitoris schon 1844 vom deutschen Anatom Georg Ludwig Kobelt geschildert wurde, wurde dieses Wissen erst 2005 durch die Arbeit der australischen Urologin Helen O’Connell wirklich bekannt.
Und daher wissen wir jetzt: Die Klitoris ist deutlich größer als der erbsengroße Knopf, den du von außen sehen kannst; der Großteil davon verbirgt sich unter der Hautoberfläche. Dieser innere Teil ist erigierbar und schwillt bei Erregung an. Die Klitoris verfügt über mindestens doppelt so viele Nervenenden wie der Penis und wird deswegen zurecht das weibliche Lustzentrum genannt.
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So weit, so gut. Trotzdem wissen wir immer noch „überraschend wenig“ über die Klitoris, meint Dr. Janet Barter, Fachärztin für Sexual- und Fortpflanzungsmedizin. „Ich bin seit 30 bis 40 Jahren Ärztin und habe erst vor Kurzem von der Anatomie der Klitoris gelesen, wie wir sie heute kennen – also von ihren versteckten zwei Enden innerhalb der Vulvalippen“, sagt Dr. Barter. „Mein erster Gedanke dabei war: Oh mein Gott, ich muss der einzige Mensch sein, der davon nichts weiß! Aber ich glaube, das stimmt überhaupt nicht. Diese Anatomie wurde uns definitiv nicht während des Studiums vermittelt – ich hatte die echte Form des Organs nie gesehen. Wenn davon sogar die meisten Mediziner:innen nichts wissen, halte ich es für wahrscheinlich, dass auch die meisten anderen Menschen keine Ahnung haben.“
Damit liegt sie nicht falsch. Eine Studie der Wohltätigkeitsorganisation The Eve Appeal für gynäkologische Krebserkrankungen ergab 2016, dass eine erschreckende Anzahl an Frauen nicht einmal den Unterschied zwischen der Vagina (die inneren Geschlechtsteile) und der Vulva (die externen Geschlechtsteile) kennt.
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Ich bin seit 30 bis 40 Jahren Ärztin und habe erst vor Kurzem von der Anatomie der Klitoris gelesen, wie wir sie heute kennen – also von ihren versteckten zwei Enden innerhalb der Vulvalippen.
Dr. Janet Barter
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Woran liegt das? Ich vermute schon lange, dass das mit den hartnäckigen Tabuthemen rund um weibliche Körper, weibliche Sexualität und weibliche Masturbation zu tun hat. Dabei sind die Lust und der Orgasmus ja die einzigen biologischen Funktionen dieses mysteriösen Organs – der Kitzler hat keinen anderen Zweck. „Wenn Gynäkolog:innen über die Vagina sprechen, geht es dabei viel zu oft darum, einen Penis rein- und ein Baby rauszubekommen. Das ist alles, was ihnen beigebracht wird – und demnach alles, woran in diesem Zusammenhang gedacht wird“, erklärt Dr. Barter. „Ich glaube, das liegt daran, dass weibliches Sexualvergnügen aus medizinischer Sicht als unwichtig empfunden wird.“
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Mit dieser Einstellung ist eindeutig jede Menge alter Sexismus verwoben – mal ganz abgesehen von der heteronormativen Annahme, dass sich jeder Mensch mit einer Klitoris Penisse und/oder Babys in der Vagina wünschen müsse. In der Medizin werden Frauen auch heute noch als Baby-Brutkästen und Zielscheiben männlicher Lust betrachtet, nicht als eigenständige sexuelle Wesen.
Das hat enorme Auswirkungen auf die (Nicht-)Behandlung weiblicher Sexualprobleme wie Vaginismus oder Genitalverstümmelung. „Ich glaube, viele Allgemeinmediziner:innen würden sich in einem Gespräch über klitorale Stimulation nicht einmal wohl fühlen, sofern sie kein spezielles Interesse an gynäkologischen Themen haben“, mutmaßt Dr. Barter. Das steht im starken Kontrast zu Erektionsstörungen, die nicht bloß recht offen diskutiert und gut erforscht sind, sondern sich beispielsweise durch Viagra oft auch gut behandeln lassen.
„Zumindest oberflächlich betrachtet sind männliche Sexualprobleme leichter zu behandeln, weil es häufig einen körperlichen Auslöser gibt und dagegen Viagra verabreicht werden kann. Das funktioniert nicht für alle Betroffenen – aber männliche Sexualfunktionsstörungen werden definitiv öffentlicher diskutiert“, meint sie.
Weiblichen Sexualproblemen liegen hingegen öfter psychologische Ursachen zugrunde. Dr. Barter zufolge wäre die ideale Lösung dafür eine Kombinationstherapie mit einem:einer Allgemeinmediziner:in und einem:einer Psycholog:in, bei der Patient:innen beispielsweise auf körperliche Probleme mit der Klitoris oder der umliegenden Haut untersucht, aber auch psychosexuell sowie zu Werkzeugen und Techniken beraten werden.
„Bei der klitoralen Stimulation ist es wichtig, zu verstehen, wer wem was antut – vor allem, wenn etwas wehtut. Auch die richtige Gleitfähigkeit ist entscheidend; manche Gleitmittel sind besser als andere. Bei einer Psychosexualtherapie würde dann auch darüber gesprochen werden, wie der eigene Körper besser erkundet werden kann, um sexuelle Vorlieben herauszufinden“, erklärt Dr. Barter.
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Eines der wenigen medizinischen Mittel, die bei Erregungs- und Orgasmusproblemen helfen können – Testosteron –, ist noch dazu bisher nicht speziell für Frauen zugelassen. Obwohl bei Hormontherapien nach den Wechseljahren manchmal Testosteronpräparate zum Einsatz kommen, sind das ausschließlich für Männer entwickelte Medikamente. Prämenopausalen Menschen mit sexuellen Problemen wird außerdem kein Testosteron verabreicht.
Wir brauchen eindeutig weitere Studien und medizinische Bildung rund um die Klitoris; auch dieser Gender Health Gap fußt auf einem deutlichen Unterschied bei der Menge an Forschungsergebnissen zu männlicher vs. weiblicher Sexualität. Das ist erschreckend – nicht nur, weil wir alle dieselbe Informationsvielfalt zu unseren Körpern verdienen. Ein besseres Verständnis der komplexen Nervenstruktur der Klitoris könnte außerdem bei Gender- und Geschlechtsangleichungen sowie wiederherstellenden Operationen nach Genitalverstümmelungen helfen. In den USA setzt sich zum Beispiel die Gesundheitsaktivistin Jessica Pin dafür ein, die Nervenstruktur der Klitoris zum amerikanischen Gynäkologie-Lehrplan hinzufügen zu lassen, nachdem sie selbst nach einer Vulvalippenkorrektur sämtliches Empfinden in ihrer Klitoris verloren hat.
Fernab der Praxen-Sprechzimmer fehlt die Klitoris aber auch im Klassenraum: Sexualkunde ist bis heute vielerorts enorm heteronormativ und konzentriert sich größtenteils auf die Mechanik hinter Penis-in-Vagina-Sex – und das, obwohl die meisten Frauen nicht von Penetration allein zum Orgasmus kommen können, sondern dafür direkte Klitorisstimulation brauchen. „Die traditionelle Sexualkunde behandelt das Thema Lust leider kaum. Der Fokus liegt eindeutig auf der Prävention von Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten“, meint die Sexologin Megwyn White, die bei der Sextoy-Marke Satisfyer als Bildungsdirektorin arbeitet.
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Die Klitoris ist zum Großteil ein inneres Lustorgan, doch wird uns vermittelt, sie sei nur diese kleine Perle, die oft schwer zu sehen (und zu finden) sein kann.
Megwyn White
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Wohingegen männliche Masturbation, Erektionen und feuchte Träume zwar recht häufig unter Teenagern besprochen werden, wird die weibliche Lust meistens verschwiegen. Dadurch glauben viele Mädchen, ihr Vergnügen sei weniger wichtig als das ihrer (männlichen) Partner. Und was wir dann doch lernen – typischerweise über Freund:innen, im Internet oder durch Pornos –, vermittelt oft den vereinfachten Glauben, die Klitoris sei eine Art „magischer Orgasmus-Knopf“.
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„Die Klitoris ist zum Großteil ein inneres Lustorgan, doch wird uns vermittelt, sie sei nur diese kleine Perle, die oft schwer zu sehen (und zu finden) sein kann. Dabei ist das nur die Spitze des Eisbergs“, erklärt White. „Weil sie aus Schwellgewebe besteht, muss die Klitoris ebenso stimuliert werden wie ein Penis – nur liegt sie eben innen und muss daher häufig von verschiedenen Winkeln aus stimuliert werden. Wer eine Klitoris hat, kann das eigene Lustvermögen durch einen Überblick über die gesamte anatomische Struktur des Kitzlers besser zu verstehen lernen“, ergänzt sie.
Aber wie soll das in unserer scham- und tabubelasteten Gesellschaft gehen? „Wenn nicht einmal Ärzt:innen wissen, wie sie diese Gespräche führen sollen, wie zur Hölle können wir das dann von Lehrer:innen und einander erwarten?“, meint Dr. Barter. Sie hat aber einen Vorschlag: „Mediziner:innen sollten schon während des Studiums alles über die Klitoris lernen und beigebracht bekommen, wie sie darüber auf einfühlsame, professionelle Art sprechen können, um ihren Patient:innen wirklich zu helfen.“
Ein besseres Verständnis der zentralen Rolle der Klitoris lohnt sich nicht zuletzt auch im Schlafzimmer. Studien zufolge schneiden heterosexuelle Frauen im „Gender Orgasm Gap“ am schlechtesten ab: Nur 65 Prozent von ihnen kommen bei sexuellen Aktivitäten normalerweise oder immer zum Höhepunkt – verglichen mit 95 Prozent aller heterosexuellen Männer, 89 Prozent aller homosexuellen Männer und 86 Prozent aller lesbischen Frauen.
Menschen mit Penis zum Orgasmus zu bringen, ist kein großes Mysterium. Bei Menschen mit Vulva – insbesondere in heterosexuellen Beziehungen – sieht das aber anders aus. Die Klitoris könnte der Schlüssel zu ganz neuen Ebenen der weiblichen Lust sein; dazu müssen wir aber häufiger darüber sprechen, bessere Sexualkunde einfordern und Mediziner:innen zu weiteren Studien bewegen.
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