November 2020 stand die 30-jährige Jasmine Kelly* in der Küche ihrer Wohnung und starrte auf den Schwangerschaftstest in ihrer Hand. Die COVID-19-Fälle stiegen und stiegen und der zweite Lockdown war verkündet worden, der Jasmine, die als Stand-up-Komikerin arbeitete, den Großteil ihrer Einnahmen kostete. Ihr Freund, ebenfalls ein Komiker, befand sich in einer ähnlich prekären beruflichen Situation. Und nun verrieten ihr zwei blaue Linien, dass sie schwanger war. „Ich flippte einfach aus“, sagt sie.
In den darauffolgenden Wochen ging es Jasmine so, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Seit Langem hatte sich von ihren Verwandten unter Druck gesetzt gefühlt, ein Kind zu bekommen. Dieses Thema ließ ihr Inneres vor Panik brodeln, aber sie hatte immer darauf bestanden, dass sie sich auf ihre Karriere konzentrieren wollte, etwas, durch das sie ihre Verwirrung in Bezug auf Mutterschaft nicht zu hinterfragen brauchte. Aber jetzt, da sie nicht mehr auftreten konnte, schien ihr früheres Leben plötzlich so weit weg und unsicher. Mutter zu werden, war aber hingegen etwas Solides, Unbestreitbares.
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„Alles, was ich vor der Pandemie hatte, wurde mir in einem Augenblick genommen“, sagt Jasmine. „Ich dachte, dass Mutterschaft mir vielleicht dabei helfen könnte, mehr Kontrolle über mein Glück zu haben.“
Dem einflussreichen amerikanischen Psychologen Richard Tedeschi zufolge ist ein Trauma ein Ereignis oder eine Erfahrung, die unsere Grundüberzeugungen durcheinanderbringt. Diese können mit unserer Selbstwahrnehmung zusammenhängen: In Jasmines Fall hatte sie sich lange Zeit eingeredet, dass sie zuerst die Karriereleiter hinaufklettern wollte, bevor sie Mutterwerden in Betracht ziehen würde. Plötzlich war sie aber arbeitslos und dachte ernsthaft über Mutterschaft nach. Ihr Verständnis davon, wer sie war und was sie wollte, war auf den Kopf gestellt worden.
Schließlich entschied sich Jasmine für eine Abtreibung. Wieder wurden einige ihrer grundlegenden Überzeugungen über sich selbst in Frage gestellt: Sie war immer davon ausgegangen, dass sie ruhig reagieren und pragmatisch sein würde, sollte es eines Tages dazu kommen. Es kam aber anders. Sie fühlte sie sich am Boden zerstört, obwohl sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte. Aufgrund der Corona-Sicherheitsmaßnahmen musste sie allein in die Klinik fahren; danach konnte sie „nirgendwo hingehen und mit niemandem reden“. Sie wollte nicht mit ihren Freund:innen via FaceTime sprechen oder sich im Park treffen. Stattdessen machte sie endlose Spaziergänge mit ihrem Freund und weinte viel. „Ich war fix und fertig“, sagt sie.
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Oberflächlich betrachtet mag posttraumatisches Wachstum wie ein Versuch klingen, tiefen Schmerz herunterzuspielen. Tatsächlich kann es aber als Gegenpol zu toxischer Positivität verstanden werden, denn die Forschung legt nahe, dass wir negative Gefühle nicht vermeiden sollten, wenn wir posttraumatisches Wachstum erleben wollen.
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Seit der Pandemie haben viele von uns Erfahrungen gemacht, die Tedeschis Definition von Trauma entsprechen: Ereignisse, die den Bezugsrahmen, durch den wir die Welt einst verstanden, zum Einsturz bringen: Fitness-Fans hatten mit einer schweren Krankheit zu kämpfen. Engagierte Fachleute wurden entlassen. Frisch Verheiratete verloren ihr:e Ehepartner:in, die aufgrund von Corona-Maßnahmen manchmal niemand anderen als das medizinische Personal an ihrer Seite hatten, als sie von uns gingen.
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Selbst diejenigen von uns, die diese Art von „schwerem Trauma“ nicht erleben mussten, hatten einige ziemlich grundlegende Annahmen darüber, wie die Welt funktioniert, zu überdenken (zum Beispiel, dass Pandemien, die den Planeten zum Stillstand bringen, der Vergangenheit angehören). Nun hat die British Psychological Society ein Konzept vorgestellt, das Tedeschi mitentwickelt hat: posttraumatisches Wachstum. Es wird angenommen, dass viele Menschen dieses Phänomen nach der Pandemie erleben werden.
„Posttraumatisches Wachstum beschreibt die Überzeugung, dass ein Trauma tatsächlich positive Auswirkungen haben kann“, sagt Dr. Steve Taylor, Psychologiedozent an der Leeds Beckett University und Autor von Extraordinary Awakenings: Vom Trauma zur Transformation. Dieses Konzept wurde erstmals Mitte der 1990er-Jahre von Tedeschi und seinem amerikanischen Kollegen Lawrence Calhoun entwickelt. Es geht auf eine wachsende Zahl von Forschungsergebnissen zurück, die nahelegen, dass Erfahrungen großen Schmerzes und Verlustes neben intensivem Leid auch einen längerfristigen psychologischen Nutzen haben können.
Menschen, die posttraumatisches Wachstum erleben, stellen vielleicht fest, dass ihre Beziehungen enger und authentischer sind, dass sie sich ihrer eigenen Stärke bewusster sind und wissen, dass das Leben voller Möglichkeiten ist. Ihre Prioritäten können sich ändern oder klarer werden, da sie lernen, was ihrer Existenz wirklich Sinn und Zweck verleiht. Möglicherweise erleben sie sogar eine positive Veränderung ihrer philosophischen oder spirituellen Einstellung. Studien legen nahe, dass posttraumatisches Wachstum bei allen Arten von Traumata auftritt, auch bei Menschen, die extreme Gewalt oder Naturkatastrophen überlebt haben. Psychologisches und emotionales Wachstum nach einem Trauma „kann mit posttraumatischem Stress koexistieren“, sagt Taylor, „aber es beginnt sich in der Regel zu manifestieren, sobald der Stress nachlässt – was eine Weile dauern kann.“
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Jasmine glaubt, dass sie einen posttraumatischen Wachstumsprozess nach dem Schock, der durch ihre Schwangerschaft Ende 2020 ausgelöst wurde, durchlaufen hat. Die Beziehung zu ihrem Freund fühlt sich jetzt enger, ruhiger und ehrlicher an. „Wir waren gezwungen, miteinander zu kommunizieren, was im Laufe der Zeit einen großen Einfluss auf unser Verhältnis hatte.“ Und das Thema Fruchtbarkeit löst bei ihr keine Panik mehr aus. „Ich fühlte mich immer unter Druck gesetzt, ein Kind zu bekommen, wodurch ich nie richtig Ruhe finden konnte. Jetzt plagt mich diese Erwartung nicht mehr, da ich für mich entschieden habe, dass es in Ordnung ist, wenn ich nicht Mutter werde.“
Forschungsergebnisse aus Jahrzehnten sprechen dafür, dass posttraumatisches Wachstum ein echtes Phänomen ist. Einige Psycholog:innen äußerten jedoch Vorbehalte. Viele Studien über posttraumatisches Wachstum stützen sich auf selbstbeschriebene innere Veränderungen der Betroffenen; Kritiker:innen argumentieren, dass die Überzeugung, dass man sich verändert habe, nicht unbedingt bedeutet, dass man es auch tatsächlich getan hat. Die subjektive Ansicht, dass sich eine Person zum Besseren entwickelt hat, kann eine Illusion sein, eine unbewusste Art, sich vor emotionalem Schmerz zu schützen.
Dr. Sarita Robinson ist Mitglied der Krisen-, Katastrophen- and Trauma -Abteilung der British Psychological Society. Sie glaubt, dass posttraumatisches Wachstum in der Tat subjektiv sein kann, findet das aber auch in Ordnung. „Wenn jemand der Ansicht ist, dass sie nach einem traumatischen Ereignis gewachsen sind oder sich nun besser fühlen, ist es unangebracht, das in Frage zu stellen, nur weil wir objektiv gesehen möglicherweise keine Anzeichen für Wachstum feststellen können“, sagt sie.
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Andere mögen posttraumatischen Wachstum aus anderen Gründen skeptisch gegenüberstehen. In den letzten Jahren gab es berechtigte Kritik an toxischer Positivität: die Vorstellung, dass sich das Konzentrieren auf so genannte positive Emotionen bei gleichzeitiger Ablehnung von allem, was negative Gefühle auslösen könnte, die beste Art zu leben sei. Oberflächlich betrachtet mag posttraumatisches Wachstum wie ein Versuch klingen, tiefen Schmerz herunterzuspielen; eine Versicherung à la Inspo-Quotes auf Pinterest, dass das, was dich nicht umbringt, dich nur stärker macht, dass alles aus einem bestimmten Grund geschieht und am Ende alles gut ausgehen wird – und wenn das nicht passiert, ist es einfach noch nicht das Ende. Angesichts des Traumas, das so viele Menschen während der Pandemie erlitten, kann es sich wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen, wenn jemand anderer behauptet, dass etwas Gutes daraus entstehen könnte.
Posttraumatisches Wachstum gibt zwar Hoffnung, ist aber kein Versuch, emotionalen Schmerz schönzureden oder zu verharmlosen. Tatsächlich kann es als Gegenpol zu toxischer Positivität verstanden werden, denn die Forschung legt nahe, dass wir negative Gefühle nicht vermeiden sollten, wenn wir posttraumatisches Wachstum erleben wollen. Wir müssen uns mit den schwierigen Emotionen, die ein Trauma auslöst, auseinandersetzen und uns auf einen Prozess des Nachdenkens und Grübelns einlassen, um zu verstehen, was passiert ist und was es für uns bedeutet.
„Posttraumatisches Wachstum ist ein zermürbender, schrecklicher und schwieriger Prozess“, sagt Dr. Jennifer Kane, eine klinische Psychologin, die sich mit diesem Phänomen beschäftigt hatte, bevor sie eine eigene Praxis eröffnete. In einer Studie fand Kane heraus, dass Universitätsstudent:innen, die schwerwiegende Ereignisse erlebt hatten – den plötzlichen Tod eines geliebten Menschen, einen Autounfall, eine Naturkatastrophe –, seltener posttraumatischen Wachstum erlebten, wenn sie versuchten, ihre negativen Gefühle unter den Teppich zu kehren. Das Gegenteil schien der Fall zu sein: Diejenigen, die sich intensiv mit ihrem emotionalen Schmerz auseinandersetzten, wiesen später eher positive psychologische Ergebnisse auf.
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„Wenn etwas wirklich traurig, beunruhigend oder beängstigend ist, wenden sich die meisten von uns natürlich ab und versuchen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Das macht Sinn und funktioniert auch bis zu einem gewissen Grad“, sagt Kane. Im Zusammenhang mit einem schweren Trauma kann dieser Vermeidungsansatz jedoch „in der Regel seine Funktion nicht erfüllen, sagt sie. Betroffene müssen bereit dazu sein, sich auf wirklich schwierige Gefühle einzulassen und sie zuzulassen, um auf der anderen Seite herauskommen zu können. Nur dann können sie heilen und möglicherweise wachsen“.
Das bedeutet nicht, dass wir für ein Trauma dankbar zu sein haben. „Ich denke, in der Psychologie versuchen wir im Allgemeinen, anzuerkennen, dass Emotionen sehr komplex sind und dass wir nie nur auf eine bestimmte Art und Weise fühlen“, sagt Kane. „Etwas wirklich Schreckliches kann zu Wachstum und positiven Veränderungen führen. Beides kann gleichzeitig nebeneinander bestehen. Das heißt aber noch lange nicht, dass es eine gute Sache ist, dass [eine schreckliche Erfahrung] passiert ist.“
Ciara Oliver*, 29, glaubt, dass sie derzeit mitten in einem posttraumatischen Wachstumsprozess steckt. Im Jahr 2020 nahm sich Ciaras Geschwisterteil in Quarantäne das Leben. Ihr Vater erkrankte daraufhin bei der Beerdigung an COVID und kam auf die Intensivstation. Er erholte sich zwar, aber die Pandemie hat Ciaras frühere Annahmen, dass „schlimme Dinge nur anderen Menschen passieren“, erschüttert. In Anlehnung an Kanes Kommentare sagt sie jetzt, dass sie „zur gleichen Zeit in zwei Realitäten lebt. Ich glaube, dass zwei Dinge gleichzeitig wahr sein können: Dass wir glauben, dass alles gut ausgehen wird und dass gerade nicht alles gut“.
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Wachstum soll schwierig sein – es fühlt sich ein bisschen so, als würde jemand Salz in eine Wunde streuen.
ciara, 29
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Ciara findet toxische Positivität beleidigend, denn für sie ist Heilung ein qualvoller Prozess. „Wachstum soll schwierig sein – es fühlt sich ein bisschen so, als würde jemand Salz in eine Wunde streuen“, sagt sie. Wie bei Jasmine, die nichts anderes tun konnte, als spazieren zu gehen und über ihre komplexen Gefühle in Zusammenhang mit ihrer Entscheidung für eine Abtreibung nachzudenken, hatte auch Ciara wegen der Pandemie keine Ablenkung von ihrem Kummer. „Ich habe das große Glück, einen Garten zu haben, und ich habe viel Zeit damit verbracht, allein darin herumzulaufen“, sagt sie. „Ich hatte Zeit zum Nachdenken und Reden und konnte mich direkt mit diesen Gefühlen auseinandersetzen, gewissermaßen.“
Priyanka Doshi*, 29, wurde im Jahr 2020 entlassen. „Dieses Erlebnis hat mein Selbstvertrauen, meinen Glauben an mich selbst und meine Überzeugung, dass ich selbst für mich sorgen kann, erschüttert“, sagt sie. Achtzehn Monate später arbeitet Priyanka immer noch daran, den Schmerz den der Verlust ihres Arbeitsplatzes verursacht hat, zu verarbeiten. Ihre Gefühle durch Therapie und Tagebuchschreiben aufzuarbeiten, hat ihr aber geholfen, nach vorne zu schauen. „Diese ganze Erfahrung hat mich erkennen lassen, dass ich ein besseres Leben außerhalb der Branche, für die arbeitete, haben kann“, sagt sie. „Sie hat mir meine Stärken und Talente bewusst gemacht… Ich möchte etwas tun, das zielgerichteter ist und mit dem in Einklang ist, wer ich wirklich bin.“
Nicht alle haben während der Pandemie etwas Traumatisches erlebt, und daher wird auch nicht jede:r von uns nach dem Ende der Pandemie ein posttraumatisches Wachstum erfahren. Das Konzept ist aber für uns alle von Bedeutung. Tedeschi und Calhoun, die Begründer des Konzepts des posttraumatischen Wachstums, haben vorgeschlagen, dass dieser Prozess am besten durch „fachkundige Begleiter:innen“ unterstützt werden kann: Freund:innen, Verwandte, spirituelle Mentor:innen oder Fachleute (wie Therapeut:innen), die Menschen, die ein Trauma erlebt haben, zuhören. Lowri Dowthwaite, Dozentin für psychologische Interventionen an der University of Central Lancashire, meint, wir sollten uns alle wieder vor Augen führen, wie wichtig es ist, uns gegenseitig zu unterstützen. Wenn du jemanden kennst, der eine traumatische Erfahrung durchgemacht hat, kannst du dich mit dieser Person zusammensetzen und mit ihr über ihre Gefühle sprechen – von Angst über Schuldgefühle und Scham zu Verwirrung –, ohne über sie zu richten. Vermeide es auch, sie unter Druck zu setzen, sich danach unbedingt „besser fühlen“ zu müssen.
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„Zu Beginn der Pandemie war zu erkennen, dass wir alle aufeinander aufpassen und uns gegenseitig beschützen wollten“, sagt Dowthwaite. „Wenn wir uns gegenseitig auch auf einer mentalen Ebene schützen wollen, müssen wir uns stärker vernetzen. Vor allem in der westlichen Gesellschaft sind wir sehr individualistisch und denken nur an unsere eigenen Ziele und Bedürfnisse. Es fällt uns sehr schwer, negative Emotionen zu tolerieren; wir sind darauf getrimmt, immer glücklich zu sein, und wenn wir es nicht sind, dann tun wir uns schwer.“
In eher kollektivistischen Kulturen, so Dowthwaite, wird oft „akzeptiert, dass das Leben manchmal hart sein und zu einem echten Überlebenskampf werden kann. Diese Kulturen wissen aber auch, dass sie in solchen Momenten auf Unterstützung um sich herum verlassen können. Die Pandemie hat uns gezeigt, wie sehr wir dieses Gemeinschaftsgefühl brauchen, wie sehr wir einander brauchen. Das ist es, was uns durch vieles hindurchhelfen wird.“ Das ist es vielleicht, was uns auch dabei helfen wird, (auch nach einem Trauma) zu wachsen.
*Name wurde von der Redaktion geändert.
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