Mein Mann und ich sind schon seit der Uni ein Paar. An seinem 30. Geburtstag – vor fast drei Jahren – beschlossen wir, ein Baby zu bekommen. Ich setzte also meine Pille ab, die ich schon seit meinem 14. Lebensjahr genommen hatte. Nach etwa sechs erfolglosen Monaten wurde ich ungeduldig und machte einen Termin bei meiner Frauenärztin. Sie sagte, ich habe „ziemlich eindeutig“ das polyzystische Ovarsyndrom (PCOS), das die Fruchtbarkeit beeinträchtigen kann. Ich wusste nicht, was das bedeutete, aber sie versicherte mir, dass das Syndrom sehr verbreitet war und ich trotzdem noch schwanger werden konnte. Also versuchten wir es mit einer einer „assistierten Befruchtung“, der intrauterinen Insemination (IUI).
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Unsere ganze Familie fragte uns schon zu dem Zeitpunkt andauernd, warum wir eigentlich noch keine Kinder hatten. Meine Mutter erzählte mir, dass sie „beim ersten Versuch“ schwanger geworden sei. Meine jüngere Schwägerin heiratete etwa zu dieser Zeit, und meine Mutter sagte mir, dass die im Rennen um die Schwangerschaft bestimmt gegen mich „gewinnen“ würde. Dadurch fühlte ich mich ziemlich mies. Auf dem Heimweg von der Hochzeit hatte ich meine erste Panikattacke. Nachdem ich mich von dieser Erfahrung erholt hatte, beschloss ich, eine Therapie anzufangen. Die hielt aber nicht lang, weil ich mich mit meiner Therapeutin nicht so richtig wohl fühlte. Mich mit den Fruchtbarkeitsbehandlungen auseinanderzusetzen, löste bei mir so viel Stress aus, dass ich schließlich zugunsten meiner geistigen Gesundheit meinen Job kündigte.
Die erste Befruchtung (mit dem Fruchtbarkeitsmedikament Clomifen) fand im Februar 2020 in einer Klinik statt. Während der Behandlung hatte ich nicht das Gefühl, dass sich jemand vom medizinischen Personal wirklich die Zeit nahm, mir genau zu erklären, was da gerade gemacht wurde, und wieso. Mir wurde bloß gesagt: „Nehmen Sie dieses Medikament.“
Die erste Befruchtung klappte nicht, und auch die zweite war erfolglos. Also entschieden für uns für In-Vitro-Fertilisation (IVF) – die „künstliche Befruchtung“. Im Juni 2020, nach Monaten der coronabedingten Wartezeit, ging es dann endlich los. Mir wurden Eizellen entnommen, und am Ende hatten wir elf Embryos mit guter Qualität. Wir beschlossen, zwei Embryos gleichzeitig einzusetzen, weil uns die Ärzt:innen sagten, dadurch sei die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft größer.
Wir unterschrieben unzählige Einverständniserklärungen, auf denen stand, sie hätten uns empfohlen, nur einen Embryo [gleichzeitig] einzusetzen, aber alles, woran ich denken konnte, war mein Babywunsch. Wir hatten nur wenige lange Gespräche mit dem medizinischem Personal darüber, was es eigentlich bedeuten würde, wenn ich mit Mehrlingen schwanger wurde; wir wurden bloß gewarnt, es sei ein bisschen „riskanter“. Ich dachte, das würde schon alles gut gehen.
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Nach kurzer Zeit fand ich heraus, dass ich schwanger war – mit Zwillingen, beide männlich. Ich platzte fast vor Freude, doch meine Frauenärztin warnte mich davor, dass eine Zwillingsschwangerschaft das Ganze schwieriger gestalten könnte und ich zwischen der 20. und 26. Schwangerschaftswoche in der „Gefahrenzone“ sein würde. Sie bat mich, es ruhig angehen zu lassen und viel Zeit auf der Couch zu verbringen, weil es schlecht wäre, während dieser Gefahrenzone Wehen zu bekommen.
Etwa in der 21. Schwangerschaftswoche, an Halloween, fing ich an, den Nachbar:innen davon zu erzählen. Wir waren neu in der Gegend, und es fühlte sich an, als würden wir ein neues, tolles Leben beginnen. Am nächsten Abend fühlte ich mich aber plötzlich sehr unwohl. Ich hatte gerade ein Kohl-Gratin mit jeder Menge Käse gegessen und glaubte, das Problem sei die Laktose, die ich nur schlecht verdaue. Nach dem Abendessen rannte ich aufs Klo, aber es war nichts, und mir ging es auf einmal besser. Dann passierte es wieder – und wieder. Ich krümmte mich vor Schmerzen, und mein Rücken tat höllisch weh. Mir war klar, dass hier irgendwas nicht stimmte. Wir rasten mit 100 km/h durch eine 50er-Zone, um schnell zum Krankenhaus zu fahren. Als wir dort ankamen, fragte mich die Krankenschwester, in welcher Schwangerschaftswoche ich sei. Als ich antwortete: „Morgen in der 22.“, verblasste ihr Lächeln.
Die Assistenzärztin, die mich betreute, sagte dauernd Sachen wie: „Falls wir die Wehen aufhalten können“, und: „Wir können Ihnen Medikamente geben, die die Wehen vielleicht stoppen.“ Ich antwortete: „Okay, geben Sie sie mir. Worauf warten wir noch?“ Sie zögerte. Dieses Zögern hieß, wie ich heute weiß, dass es einfach zu spät war. Diese Babys kamen jetzt. Sie traute sich bloß nicht, es mir zu sagen. Als dann endlich die Bereitschaftsärztin kam, sagte sie mir die Wahrheit. Wir unterhielten uns über meine Optionen. Mir wurde gesagt, dass die beiden Kinder – vorausgesetzt, dass sie lebendig zur Welt kamen und überlebten – mit großer Wahrscheinlichkeit schwere gesundheitliche Probleme haben würden. Nachdem ich mich dazu entschlossen hatte, keine weiteren Maßnahmen einzuleiten, vergingen etwa fünf Minuten, bis jemand ins Behandlungszimmer kam und uns fragte: „Welches Bestattungsinstitut sollen wir für Sie anrufen?“
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Sie hatten mir ja schon die Medikamente gegeben, um die Wehen zu verlangsamen; also saß ich stundenlang einfach da, in dem Wissen, meine Zwillinge zur Welt zu bringen, die daraufhin ziemlich sicher sterben würden. Wir riefen meinen Onkel an, einen Pfarrer, der uns anbot, sie noch vor der Geburt zu taufen, also machten wir das.
Am nächsten Morgen kam einer der Zwillinge ohne Herzschlag zur Welt. Der zweite, der eine Stunde später kam, hatte zwar einen, doch verlor ich plötzlich extrem viel Blut. Der Junge wurde mir aus dem Arm genommen, an meinen Mann weitergereicht, und ich wurde für eine Not-OP aus dem Raum geschoben. Es blieb keine Zeit, um mich zu narkotisieren, und ich sah so viel Blut. Mir war so kalt, dass meine Zähne klapperten. Es waren wohl so 30 Leute im Raum, aber niemand sprach mit mir oder erklärte, was hier gerade passierte. Und sie hatten mich von meinem Sohn getrennt – ich war also nicht dabei, als er aufhörte zu atmen.
Nachdem ich all das durchgemacht hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, das körperliche und emotionale Trauma einer künstlichen Befruchtung ein zweites Mal durchzustehen. Trotzdem wurde ich immer wieder gefragt, wann wir es „nochmal probieren“ würden. Meine Schwiegermutter sagte immer wieder Sachen wie: „Es liegt in Gottes Händen.“ Ich dachte mir nur: Fickt euch doch alle. Kann ich vielleicht mal bitte fünf Minuten haben, um dieses welterschütternde Erlebnis zu verarbeiten?
Ich postete online, was ich durchgemacht hatte, damit ich es nicht immer und immer wieder würde erzählen müssen. Alle waren superlieb. Eine ältere Nachbarin, die ich erst vor Kurzem kennengelernt hatte, sagte mir, sie hätte sechs Fehlgeburten gehabt – und dass ich jederzeit Bescheid sagen sollte, wenn ich jemanden zum Reden brauchte. Als ich sie einlud, saßen wir daraufhin drei Stunden lang schluchzend auf meiner Veranda. Mit meiner eigenen Mutter konnte ich kaum darüber reden; das Gespräch mit dieser Fremden hingegen war unfassbar tröstlich. Sie verstand all diese komplizierten Gefühle rund um meine Trauer.
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Ich suchte mir eine Therapeutin, die sich auf perinatalen Kindstod spezialisiert hat – und diese Therapie veränderte mein Leben. Gleichzeitig waren mir auch mein Mann und mein Glaube große Stützen. Wir fingen an, jeden Abend laut gemeinsam zu beten. Er frisst vieles in sich rein und redet nicht so offen über seine Gefühle. Deswegen dachte ich anfangs, dass er nicht so tief trauerte wie ich – was nicht stimmte. Das Beten brachte uns einander näher. Wir kennen uns schon so lange, aber erst das zeigte uns so richtig, dass wir auch unbedingt mehr über seine Gefühle reden müssen. Das stärkte uns irgendwie. Seitdem wissen wir, dass wir zusammen alles durchstehen können.
Im Januar 2021 beschlossen wir, es dann doch nochmal mit einer künstlichen Befruchtung zu versuchen. Die Ärzt:innen erklärten mir, meine Zwillingsschwangerschaft sei so ausgegangen, weil ich eine „Gebärmutterhalsschwäche“, eine Zervixinsuffizienz, habe. Das heißt, dass sich mein Muttermund unter dem Gewicht der Babys zu früh geöffnet hatte, woraufhin die Kinder runtergerutscht waren; das hatte dann die Wehen ausgelöst. Für diese zweite Schwangerschaft, sagten sie, würden sie mir in der zwölften Schwangerschaftswoche den Muttermund zunähen. Diese Nähte würden dann in der 36. SSW entfernt werden. Meine Ärztin hatte großes Verständnis für das, was ich durchgemacht hatte, und versicherte mir, ich könne jederzeit für eine Untersuchung vorbeikommen, um sicherzugehen, dass alles nach Plan lief.
Nach 21 Wochen und sechs Tagen – also genau zu dem Zeitpunkt, an dem letztes Mal die Wehen eingesetzt hatten – ließ ich mich untersuchen. Mir wurde gesagt, mein Muttermund habe eine kleine Öffnung, die eine Woche vorher noch nicht da gewesen war. Sie schickten mich nach Hause und versicherten mir, das sei alles noch okay, und sie würden es im Auge behalten. In derselben Nacht hatte ich das Gefühl, Krämpfe zu haben, also fuhr ich ins Krankenhaus. Es war traumatisch, wieder da zu sein. Ich überstand die Nacht, und sie versprachen mir, mich regelmäßig zu untersuchen.
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Bis das Baby wirklich kam, wollte ich mir keine zu großen Hoffnungen machen. Die 26. SSW – das Ende der „Gefahrenzone“ – kam und ging, und ich schaffte es tatsächlich bis in die 38. Woche, bevor ich schließlich ein kleines Mädchen zur Welt brachte. Mein Mann und ich konnten gar nicht aufhören zu weinen. Ich hatte das Gefühl, nach wochenlangem Luftanhalten endlich tief durchatmen zu können. Wegen alldem, was ich mit den Zwillingen durchgemacht hatte, hatte ich aber keine sofortige Beziehung [zu meiner Tochter]. Natürlich vergötterte ich sie – aber es fiel mir schwer, sie anzuschauen und zu wissen, was hätte sein können. Sie hätte die kleine, nicht die große Schwester sein können. Es brauchte viele Therapiesitzungen, bis ich das verarbeitet hatte.
Es waren auch viele andere, kleinere Dinge, die mir schwer fielen. Zum Beispiel, wenn mich jemand fragte: „Ist das dein erstes Kind?“ Ja, sie ist das erste Kind, das ich mit nach Hause nehmen kann. Die Leute, die mich sowas fragten, wollten keine lange, traurige Antwort von mir hören – aber gleichzeitig hatte ich das Gefühl, die Zwillinge zu missachten, wenn ich sie gar nicht erwähnte. Das fällt mir immer noch schwer.
Rückblickend wünsche ich mir, ich hätte mehr recherchiert. Ich war so verzweifelt darauf aus, möglichst schnell schwanger zu werden, dass ich mir nicht die Zeit nahm, um mich über unsere Optionen zu informieren. Wenn ich einen oder zwei weitere Monate damit verbracht hätte, mehr zu erfahren, hätte ich mir rückblickend vielleicht viel Zeit und Leid ersparen können. Vor allem hätte ich gern mehr über die Risiken des Einsetzens von zwei Embryos gewusst. Ich hatte durchgehend das Gefühl gehabt, überhaupt nichts zu verstehen.
Abgesehen von den Kosten für die Befruchtungen (von denen in Deutschland drei Behandlungszyklen zur Hälfte von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden – aber auch nur, wenn gewisse Bedingungen erfüllt werden) gab es aber auch noch andere Ausgaben, die emotional belastend waren. Ich hatte zum Beispiel für rund 1.700 Euro diesen riesigen Zwillings-Kinderwagen gekauft, den der Laden nicht zurücknehmen wollte. Ich hasste den Anblick.
Was meine Tochter angeht, fällt es mir inzwischen immer leichter, mich an ihr zu erfreuen, anstatt immer daran zu denken, was ich verloren habe. Sie ist total entspannt, wie ihr Vater. Bisher lacht sie nur für mich, was für mich etwas ganz Besonderes ist. Sie zum ersten Mal lächeln zu sehen, war unfassbar erfüllend. Das war, als würde die Sonne aufgehen.
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