Als Corona so richtig losging, zog die 24-jährige Stacy Li wieder bei ihren Eltern ein. Mit ihrer geistigen Gesundheit ging es daraufhin bergab. Um sich irgendwie über Wasser zu halten, schaute sie sich massenweise Selbsthilfe-Content auf TikTok an und postete auch eigene Videos, in denen sie ihren „#personalgrowth“ dokumentierte. Sie bewertete Selbsthilfebücher, erzählte davon, dass sie direkt nach dem Aufstehen erstmal Tagebuch schrieb oder jeden Tag ihre „Spiegel-Affirmationen“ durchzog.
Selbsthilfe ist eine boomende, milliardenschwere Industrie. Und wie auch Stacy verließen sich Tausende andere während der Pandemie darauf, um ein besseres Gefühl der Kontrolle über ihre Leben zu entwickeln – in einer Welt, die völlig außer Kontrolle zu geraten schien.
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Dann, Anfang 2021, als die Pandemie immer noch in vollem Schwung war, geriet Stacy an ihre Grenzen. Sie fühlte sich plötzlich total „übersättigt“ von Selbsthilfe-Content und kam zu der Erkenntnis, dass sie diese Videos zunehmend ängstlicher machten. Von diesen Gefühlen erzählte sie in einem viralen Video. Ihrer Meinung nach sorgt diese krampfhafte Suche nach Selbstverbesserung dafür, dass „wir uns oft so fühlen, als seien wir nicht genug“, sagte sie darin.
„Ich war an einem Punkt angekommen, an dem ich mein komplettes Verhalten hinterfragte – jede einzelne Handlung“, erzählt mir Stacy. „Der Glaube, ich könnte dies und jenes tun, um mich selbst zu ‚optimieren‘, gab mir dauernd das Gefühl, etwas stimme nicht mit mir.“
In der Welt der Selbsthilfe gibt es unzählige „Tricks“ oder „Lifehacks“ – Manifestation, Tagebuchschreiben, Meditation, und so weiter –, die aber alle auf derselben Überzeugung aufbauen: dass individuelle Mühe immer belohnt wird. Jen Sincero, Autorin des Selbsthilfebuchs Du bist der Hammer!, schreibt zum Beispiel: „Wenn du dir etwas stark genug wünschst und beschließt, dass du es bekommen oder schaffen wirst, klappt das auch.“
Und obwohl das sicher in einigen Fällen stimmen mag, garantiert harte Arbeit für die meisten Menschen eben nicht zwangsläufig den Erfolg. Diese Tatsache wird in den Selbsthilfemedien allerdings gerne ausgeblendet. Stattdessen stellen sie es so dar, als seien es nicht soziale Ungerechtigkeiten – wie Vorurteile aufgrund des eigenen Genders, des persönlichen Hintergrunds oder der Hautfarbe –, die die Leute vom Erfolg, Reichtum oder Glück abhalten, sondern ein Mangel an positivem Denken, Selbstbewusstsein und Hartnäckigkeit. Wie Stacys Erfahrungen zeigen, ist das eine Fantasie, die meistens mehr Schaden anrichtet, als dass sie wirklich hilft.
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@internetstacy the most important relationship to you have is the one with urself 💖 #affirmations #selflove ♬ original sound - bella dior
Obwohl Selbsthilfebücher in der Vergangenheit meistens so dargestellt wurden, als seien die nur was für alleinstehende Frauen mittleren Alters, die kurz davor stehen, ihr Leben auf den Kopf zu stellen (denk nur an die Szene in Eat Pray Love, in der Julia Roberts als Liz Gilbert dem Verkäufer im Buchladen ihre Kreditkarte in die Hand drückt, als sie quasi ein ganzes Regal davon kauft), werden sie mittlerweile auch unter jüngeren Leser:innen immer beliebter.
Auf TikTok kommen die Thesen dieser Bücher extrem gut an: Der Hashtag #selfimprovement hat atemberaubende 8,5 Milliarden Views, und auch #selfhelp bringt es auf beachtliche 868 Millionen. Selbsthilfe-„Bibeln“ wie Sinceros Buch (das 2017 erschien), James Clears Die 1%-Methode (2018), Rhonda Byrnes The Secret – Das Geheimnis (2006)und Mark Mansons Die subtile Kunst des Daraufscheißens (2016) werden auf TikTok für ihre lebensverändernde Macht angepriesen, oft in Form von #BookTok-Reviews oder Morgenroutinen.
Ein neuerer Selbsthilfetrend auf TikTok ist die sogenannte Manifestation (eine Strategie, mit der ein persönliches Ziel erreicht werden soll, indem man die eigenen Gedanken darauf richtet). Dieser New-Age-Spiritualismus nimmt dabei oft ziemlich neoliberale Formen an, weil er sich für ein größtenteils unreguliertes kapitalistisches System einsetzt.
Wie die TikTokerin @abbiemilytaylor111 in ihrem Best-of ihrer liebsten Manifestations-Selbsthilfebücher sagt: „Das motiviert dich, den Hintern hochzukriegen und was aus deinem Leben zu machen.“ Wie auch sie erinnern uns Selbsthilfe-Gurus gern daran, dass es nicht reicht, uns ein besseres Leben zu wünschen; dazu braucht es „harte Arbeit“.
Genau diese Einstellung hat vielen Promis wie Kim Kardashian (die in ihrem Variety-Interview gerade erst sagte, Frauen müssten quasi „einfach mal hart arbeiten“, um Erfolg zu haben) und Molly Mae (die betonte, unsere „Tage [seien] schließlich alle 24 Stunden lang“) allerdings schon jede Menge Shitstorms eingebracht, weil sie dabei überhaupt nicht berücksichtigen, welche Rolle ihr persönliches Privileg in ihrem Erfolg spielte.
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Und so befeuert die Beliebtheit von Selbsthilfe-TikToks weiter den Mythos der Meritokratie unter jüngeren Generationen, die weiterhin daran glauben, Erfolg sei nur eine Frage von Ehrgeiz. Das ist wenig überraschend, wenn wir daran denken, wie schlecht viele jüngere Menschen finanziell gestellt sind, ohne Aussicht auf Besserung. Kein Wunder also, dass solche Selbsthilfethesen immer beliebter werden, wenn sie all denjenigen Erfolg versprechen, die gewillt sind, einfach hart genug dafür zu schuften.
Fakt ist: Diese Selbsthilfe ist ein Hoffnungsschimmer in einer finsteren sozioökonomischen Welt, in der es nur wenige wirkliche Erfolgschancen gibt. Leider wird genau dieser daraus entstehende unersättliche Appetit nach Selbstoptimierung auf TikTok brutal von „Life-Coaches“ ausgenutzt, die versprechen, die nötigen Skills vermitteln zu können.
Eine davon ist Izzie Miller, eine 23-jährige selbsternannte „Mindset-Strategin“, die letztes Jahr damit anfing, Selbstverbesserungs-Videos zu posten. Ihr wurde schnell klar, dass sich dieses Hobby zu Geld machen ließ; seitdem bietet sie persönliche Coaching-Sessions an. Eine erste Beratung ist gratis. Was das Coaching nach dieser ersten Sitzung kostet, gibt sie auf ihrer Website nicht an.
Die Leichtigkeit, mit der Izzie ihr Business startete, zeigt, dass dieses „Life-Coaching“ eine komplett unregulierte Industrie ist. Es gibt keine Vorgaben, wie ein solches Coaching aussehen sollte, keine behördliche Überwachung, keinen Moralkodex. Auf TikTok wimmelt es daher inzwischen vor Leuten, die sich unter dem vagen Begriff des „self-empowerment“ als Coaches ausgeben.
Izzies eigene Lehren basieren auf Selbsthilfe-Bestsellern (sie empfiehlt für gewöhnlich Good Vibes, Good Life von Vex King und Happy Sexy Millionaire von Steven Bartlett). „Wenn du zulässt, dass dir das Leben ein Bein stellt und dich runterzieht, wirst du niemals die Erfüllung finden“, sagt sie – ein Mantra, das sich wie ein roter Faden durch den meisten Selbsthilfe-Content zieht.
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@internetstacy ✨spiritual awakening✨ #personalgrowth #meditate #journaling ♬ wtf happened - lukas/locust
Izzie ergänzt, dass sie ihren Klient:innen dabei helfe, „sich selbstbewusster zu fühlen“, indem sie ihnen dazu rät, 20 Minuten früher als sonst aufzustehen, um „in sich selbst hineinzuschauen“ – durch Techniken wie Tagebuchschreiben, Affirmationen und das Setzen von Zielen.
Unter Izzies Videos sammeln sich häufig Kommentare an, in denen ihre Techniken gelobt werden. „Ich habe das mehr gebraucht, als du vielleicht denkst“, schreibt jemand, und jemand anderes schwärmt: „So toll!“ Allein diese Aufforderung zum Selbstbewusstsein ist allerdings schon kritisch. Izzie ist nicht die einzige junge Frau, die online „Selbstbewusstsein-Coaching“ anbietet.
„Es ist auffällig, dass sich die Selbsthilfe insbesondere an Frauen richtet“, meinen Rosalind Gill und Shani Orgad, Soziologinnen und Autorinnen von Confidence Culture – einem Buch, in dem sie sich mit der prominenten Rolle von Selbstbewusstsein in der öffentlichen Debatte rund um das Körperbild, den Arbeitsplatz, Beziehungen und das Muttersein beschäftigen. „Was viele Selbsthilfe-Inhalte gemeinsam haben, ist, dass sie die Herausforderungen von Frauen in einer ungerechten Gesellschaft oft als private, persönliche und psychologische Probleme abstempeln, an denen die Frauen individuell zu arbeiten haben.“
Indem Selbstbewusstsein als etwas dargestellt wird, das durch intensive Arbeit an sich selbst gewonnen werden kann – wie auch Izzie behauptet –, kehrt die Selbsthilfe unsere Aufmerksamkeit nach innen. Dabei ignoriert sie die Tatsache, dass es vor allem das Patriarchat, der Kapitalismus und der systemische Sexismus sind, die uns Frauen unterdrücken. Dadurch verhindert diese Selbsthilfe die Zusammenschlüsse, die wirkliche Veränderungen bewirken könnten.
Shani und Rosalind erklären das so: „Selbsthilfe beginnt natürlich erstmal bei dir. Es ist aber problematisch, wenn es da auch aufhört.“ Dabei geht es nicht darum, Selbstbewusstsein als solches zu verdammen, sondern darum, dass der Fokus aufs Selbstbewusstsein „andere Fragen und wichtige Auseinandersetzungen verdrängt – insbesondere in Bezug darauf, die Strukturen zu verändern, die Frauen von vornherein weniger selbstbewusst sein lassen“.
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Es ist besorgniserregend, dass uns dieser Fokus aufs „Mindset“ davon abhalten kann, uns für Veränderungen einzusetzen. In einem Video betont Izzie sogar, wir sollten uns nicht über Probleme beschweren, die uns bei der Arbeit oder in der Schule begegnen. „Sowas überstehst du am besten, indem du den Kopf einziehst und arbeitest“, sagt sie. „Sorg dafür, dass es der Schmerz wert ist.“
Dieses Unterdrücken von negativen Gefühlen, oder die Umdeutung von negativen Erfahrungen als positive – manchmal bezeichnet als „toxische Positivität“ –, ist ein festes Motiv der Selbsthilfe. Diese Sichtweise betrachten Shani und Rosland als „zutiefst problematisch“, weil sie „Frauen dazu ermutigt, ihre Gedanken, Gefühle und Handlungen zu kontrollieren“. Sie ergänzen: „Viele dieser sogenannten ‚negativen‘ Gefühle – wie Wut, Enttäuschung, Verletzung, Trauer oder Verzweiflung –, die Frauen durchgehen zensieren und durch positive ersetzen sollen, sind genau die Emotionen, die die feministische Bewegung motiviert haben, ebenso wie zahlreiche andere politische Bewegungen zugunsten sozialer Gerechtigkeit. Die Frauen also dazu aufzufordern, diese politischen Gefühle abzulegen und sie durch positive Emotionen, durch Selbstbewusstsein, Hartnäckigkeit, Optimismus und Zufriedenheit zu ersetzen, hat eine entpolitisierende Wirkung.“
Innerhalb unserer hyperindividualistischen Kultur kann es außerdem absolut befreiend sein, über den eigenen Tellerrand hinwegzuschauen. Für Stacy hat die Flucht aus dem „schwarzen Selbsthilfe-Loch“ jedenfalls dazu geführt, dass sie auf ihrem TikTok-Account jetzt andere Messages verbreitet – wie „Das Leben ist kein ewiges Selbstoptimierungs-Projekt!!!“ oder „Ein Job ist nur ein Job“. Sie hat begriffen: Obwohl uns Selbsthilfe vielleicht kurzzeitig Trost schenken kann, braucht es schon mehr als individuelle Lösungen, um wirkliche Veränderungen zu bewirken.
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