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Wie ich lernte, meinen Körper auch im Rollstuhl zu lieben

Ich erinnere mich noch daran, dass ich mich schon mit acht Jahren nicht hübsch fühlte. Ich war nicht sonderlich groß, hatte keine grünen oder blauen Augen, und mein Haar war nicht blond. Stattdessen hatte ich braune Augen und Haare. Es war nicht so, als fand ich mich hässlich – bloß durchschnittlich, vielleicht noch ein bisschen weniger als das. Dachte ich damals zumindest. Ich konnte meine Figur nicht leiden, vor allem meine Beine, die ein bisschen kräftiger waren, insbesondere im Vergleich zu den meisten meiner größeren, dünneren Freund:innen.
Als ich auf die Oberschule kam, fing mein Körper aber allmählich an, sich zu verändern. In der Schule musste ich eine Uniform tragen, und mein Rock war meistens ein bisschen kürzer als der meiner Mitschülerinnen. Plötzlich bekam ich lauter Komplimente zu meinen kräftigen Beinen. Ich weiß noch, dass mich das anfangs ein bisschen verwirrte. Ich hatte diesen Teil meines Körpers immer gehasst; dass ich jetzt von anderen Leuten – insbesondere von Jungs – hörte, sie fänden meine Beine wunderschön, ließ sie mich in einem anderen Licht betrachten.
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Als meine Familie und ich mit 13 von Mexiko in ein anderes Land umzogen, veränderte sich meine Beziehung zu meinen Beinen. Das Leben im neuen Land war schwierig. Die Kultur war eine andere, und ich hatte noch keine Freund:innen gefunden. Ich werde nie meinen ersten Tag an der neuen Schule vergessen. Ich war aufgeregt, aber auch total nervös. Es war ein heißer Tag, also machte ich etwas, was mir damals sehr mutig vorkam: Ich zog mir sehr kurzeShorts an. Und daraufhin war ich eben ein durchschnittlich großes Mädchen mit dickeren Beinen – das wurde zu meiner Identität. 

Dieser Tag veränderte nicht bloß meinen Körper, sondern auch mich für immer sowohl emotional als auch mental.

Im Laufe meiner Teenager-Jahre entdeckte ich meine Beine immer wieder neu, wenn ich anfing, sie neu zu nutzen. In der Oberschule fing ich mit Sport an, stemmte Gewichte, schaffte es sogar ins Lauf-Team meiner Schule. Mit 19 wurde ich zu einem Bikini-Kalender-Wettbewerb eingeladen. Ich dachte mir: Warum nicht? Ich beschloss, es einfach mal zu versuchen, hatte aber keine großen Erwartungen. Zwar landete ich nicht auf dem Cover, war aber doch eins der zwölf Mädchen aus Hunderten Bewerberinnen, die es in den Kalender schafften. Diese Chance war der erste Schritte auf einem neuen Karrierepfad: dem Modeln.
2005 kam dann der Autounfall, der alles veränderte. Ich war erst 19, als ich plötzlich von der Brust abwärts gelähmt war. Bei dem Unfall war außerdem mein Freund Patrick gestorben – der Mann, von dem ich damals geglaubt hatte, ich würde ihn eines Tages heiraten. Urplötzlich war ich nicht mehr die junge Erwachsene, die die Welt erobern und ihre greifbaren Träume in die Realität umsetzen wollte, sondern lebte nur noch im Survival-Modus. Ich war völlig am Boden zerstört.
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Dieser Tag veränderte nicht bloß meinen Körper, sondern auch mich für immer sowohl emotional als auch mental. Mein Körperbild, das ich so lang- und mühsam aufgebaut hatte, war zutiefst erschüttert worden. Ich werde nie vergessen, wie ich nach dem Unfall zum ersten Mal meine Beine sah. Sie hatten sehr schnell abgebaut, weil ich im Krankenhaus ja nur im Bett gelegen hatte. Ich war schockiert und todunglücklich darüber, wie dünn sie plötzlich waren. Wo waren die starken Beine hin, die mich über Kilometer hinweg hatten rennen lassen? Wo waren die starken Beine hin, die Schönheitswettbewerbe gewonnen hatten? Sie sahen jetzt so leblos aus.
Das erste Mal, als ich mich selbst aus dem Rollstuhl heraus im Spiegel anschaute, ging es mir furchtbar mit dem, was ich da sah. Ich fühlte mich überhaupt nicht hübsch, geschweige denn sexy. Es war außerdem total merkwürdig, den Großteil meines Körpers einfach nicht mehr spüren zu können. Mein Körper stand unter Schock – und ich auch. Ich hatte vorher endlich gelernt, meinen Körper zu lieben. Jetzt hasste ich ihn wieder, kritisierte ihn, hatte Angst vor ihm.
Gott sei Dank hatte ich meine Mutter.

Die Welt kam mir nicht mehr zum Greifen nah vor. Sie war nicht mehr für mich geschaffen – dachte ich zumindest.

Ich habe das unglaubliche Glück, von einer starken alleinerziehenden Mutter großgezogen worden zu sein. Solange ich denken kann, war meine Mutter immer für mich da und ermutigte mich: „Hijita, tú puedes“ – „Tochter, du kannst das“. Sie half mir, an mich selbst zu glauben, um mich selbst voranzubringen. Weil sie damit so oft Recht hatte, lernte ich, ihrer Meinung zu vertrauen, selbst als ich älter und mein Leben komplizierter wurde. Nach meinem Unfall, als sie rund um die Uhr an meiner Seite war, meine Hand hielt und mir versprach, dass alles gut werden würde, schenkte sie mir dadurch den Frieden und die Kraft, die ich brauchte, um das durchzustehen. Wenn Mama das sagte, würde es schon stimmen!
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Diese Magie meiner Mutter schien auf sie aber nicht dieselbe Wirkung zu haben. Wie zu viele von uns hat auch sie schon lange Probleme mit dem Selbstbewusstsein und Körperbild. Ich weiß noch, dass sie immer sehr kritisch zu sich selbst war und sich darüber beschwerte, wie sie aussah – während ich dachte: Was redet sie? Sie sieht doch toll aus. Während ihrer Jugend in Mexiko stand sie immer unter Druck, dünner sein zu müssen. Sie und meine Tanten machten dauernd irgendwelche Diäten und zogen für jedes Foto den Bauch ein. In meiner Heimat ist es üblich, dass die Familie deine Figur, dein Gewicht und deine Größe frei kommentiert – und vor allem, wie sich all das im Laufe der Zeit verändert. Wenn du zunimmst, sagen die Leute quasi: „Du hast es dir ja gut gehen lassen.“ Und wenn du abnimmst, wirst du gelobt. Meine Mutter hat verinnerlicht, dass „dünn“ automatisch „schön“ bedeutet, und dass diese Schönheit deinen Wert steigert. Das hat sie davon abgehalten, sich selbst die Liebe zu schenken, die ich von ihr immer bekam.
Mitanzusehen, wie hart meine Mutter immer mit sich ins Gericht gegangen ist, treibt mir die Tränen in die Augen, motiviert mich aber gleichzeitig dazu, mich selbst mehr zu lieben. Sie hat so viele tolle Eigenschaften, die ich auch gern hätte; in dieser Hinsicht möchte ich es ihr aber nicht gleichtun. Trotzdem bin ich unfassbar dankbar dafür, dass sie mir ihre endlose Mutterliebe schenken konnte, als ich die am meisten brauchte.
Sie war da, als ich darüber weinte, wie mich andere im Rollstuhl ansahen – als hätten sie Mitleid mit mir. Viele warfen mir Blicke zu, die zu sagen schien: Armes Mädchen. Aber meistens schauten sie nicht mal in meine Richtung, als sei es höflicher, mich gar nicht erst zu sehen, meine Existenz gar nicht erst anzuerkennen. Die Welt kam mir nicht mehr zum Greifen nah vor. Sie war nicht mehr für mich geschaffen. Das tat weh und drückte auf mein Selbstwertgefühl. Vor meinem Unfall war ich eine selbstbewusste Frau gewesen, die sich in ihrer eigenen Haut wohl gefühlt hatte. Doch dann wurde ich plötzlich zu jemandem, deren Unsicherheit und Bestürzung ihr schon am Körper abzulesen waren, wann immer sie in einen Raum gerollt kam.
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Veränderungen aller Art sind schwer zu akzeptieren. Das heißt aber nicht, dass wir nicht irgendwann wieder neues Selbstbewusstsein schöpfen können – oder überhaupt zum ersten Mal. Im Laufe der Zeit habe ich gelernt, mich selbst zu sehen und zu lieben. Ich bin stolz auf den Menschen, der ich bin, und darauf, wie ich aussehe. Ich weiß, dass mir meine Be_hinderung weder die Schönheit noch den Sexappeal geraubt hat. Wie auch vor meinem Unfall fing ich irgendwann damit an, wieder im Bikini zu posieren und zu Model-Castings zu gehen. Mit einem großen Unterschied: Heute mache ich das alles im Rollstuhl – und für große Zeitschriften wie die Sports Illustrated.

Der Wert unserer Körper verändert sich aber nicht, nur weil sie sich verändern.

Egal, wo ich auftauche – ob in Restaurants oder am Strand: Ich fühle mich selbstbewusst, im Rollstuhl, in meinem Körper mit Be_hinderung, in den Klamotten, die ich liebe. Und ich möchte all diejenigen, die ebenfalls mit einer Be_hinderung leben oder deren Körper sich in irgendeiner Form verändert haben, dazu ermutigen, es mir nachzumachen. Dazu habe ich ein eigenes Projekt gestartet – Embrace You, das Leuten helfen soll, zu ihren Unterschieden zu stehen. Ich selbst habe seit meinem Unfall auch bei Schönheitswettbewerben wie Nuestra Belleza Latina mitgemacht, auf Catwalks der Mailänder und New Yorker Fashion Weeks gemodelt und die TV-Sendung Beauty on Wheels moderiert und mitproduziert.
Wenn mir jemand direkt nach meinem Unfall erzählt hätte, dass mein Leben eines Tages so aussehen würde wie heute, hätte ich das nicht geglaubt. Ich dachte damals nicht, dass ich meine Träume weiter würde verfolgen können, weil ich nicht daran glaubte, ich hätte noch das dafür nötige Aussehen oder die entsprechenden Fähigkeiten. Damit lag ich total falsch. Es kann furchteinflößend und frustrierend sein, wenn sich unsere Körper verändern. Es kann schwierig sein, uns selbst Liebe zu schenken, wenn unsere Körper nicht mehr so aussehen oder sich nicht mehr so bewegen wie früher, oder wenn sie nicht dem entsprechen, was uns in den Medien vermittelt wird. Der Wert unserer Körper verändert sich aber nicht, nur weil sie sich verändern. Wir sind alle wunderschön, stark und toll – immer. Genau, wie meine Mutter immer an mich glaubte, solltest du auch den Worten glauben, die sie mir immer sagte: „Tú puedes.“
Du kannst das.

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