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Ich kann keine Mutter werden – aber ich liebe es, Tante zu sein

Es ist 14:30 Uhr und mein Hund bellt ganz aufgeregt die Wohnungstür an. Ich beende schnell meine Arbeit und klappe den Laptop zu. Saya und Henry sind aus der Schule zurück – und plötzlich steht die Zeit still. Meine Nichte (11) und mein Neffe (6) sind das Zentrum meines Universums. Ihre Mutter ist meine Schwester Jennifer. Zwischen ihr und mir liegen nur 18 Monate, und seit ihrer Geburt sind wir unzertrennlich. Unsere jüngste Schwester, Julissa, holt die Kinder jeden Tag von der Schule ab. Sie laufen zusammen den Kilometer von Schule zu mir, fangen unterwegs ein paar Pokémon und spekulieren, was ich wohl zum Essen bestellt oder gekocht haben könnte. Die Kinder verbringen jeden Nachmittag hier bei mir, bis mein Schwager sie drei Stunden später abholt. Danach ist die Wohnung wieder ganz still, und nur die überall herumliegenden Spielsachen erinnern mich noch an ihre Gesellschaft. Die Routine meines Lebens hängt voll und ganz von diesen Kindern ab, und ich liebe sie.
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Ich bin im letzten Jahr meiner Dreißiger und habe selbst keine Kinder. Oft sage ich, das sei meine eigene Entscheidung gewesen; in Wahrheit hat mir mein Körper die Entscheidung jedoch abgenommen, in Form mehrerer Fehlgeburten. Ich bin über meine Unfähigkeit, biologische Kinder zu gebären, nicht so traurig, wie es andere von mir erwarten. Es ist nicht so, als würde ich Kinder nicht lieben – ich vergöttere sie. Aber ich habe meinen ganz persönlichen Cheat-Code gefunden: Ich bin eine Tante.
Es ist noch nicht so lange her, dass sich Henry regelmäßig zu mir in meinen großen Ledersessel setzte und mich fragte, wieso ich eigentlich keine Kinder habe. Seine Frage entsprang nicht dem sozialen Quatsch, der uns allen irgendwann eingetrichtert wird; sie war selbstsüchtig auf eine Art, wie es nur Kinder sein können: Er wünscht sich Cousins und Cousinen zum Spielen. Meine Antwort auf seine Frage war immer dieselbe: „Ich habe versucht, eigene Kinder zu bekommen, und es hat nicht geklappt. Dann sah ich, wie perfekt ihr beide wart, als ihr zur Welt kamt. Also fragte ich eure Mama, ob wir uns euch teilen könnten. Sie sagte Ja. Also bist du auch mein kleiner Junge.“ Diese Antwort hat ihm immer ausgereicht, und irgendwann konnte er sie auswendig und sprach sie mit mir mit. Dann vergrub ich mein Gesicht in seinen Haaren, um meine Tränen der Freude vor ihm zu verbergen.
Bevor meine Schwester Kinder bekam, waren meine Cousins und Cousinen dran. Auf deren Kinder passte ich immer auf, wenn ich darum gebeten wurde. Meine Wochenenden gehörten ihnen, und ich verwöhnte sie mit dem wenigen Geld, das ich verdiene. Diese Kinder sind inzwischen Jugendliche, und obwohl ich sie nicht mehr so abknutschen kann wie früher, geben sie mir doch weiterhin auf ihre eigene Art das Gefühl, von ihnen lieb gehabt zu werden. Andrew und Rozy mögen keine Umarmungen, geben mir aber High-Fives, wenn ich sie darum bitte. Wir unterhalten uns heute über Musik, über Filme, über unsere Familie. Becky und Kique sind ebenfalls Teenies. Ich sehe sie nicht mehr so oft, wie ich es gern tun würde, aber wenn wir uns doch treffen, umarmt mich Becky die ganze Zeit. Meine Cousins und Cousinen sagten mir immer: „Warte mal ab, bis deine Schwestern Kinder bekommen. Das ist eine ganz neue Form von Liebe.“ Ich glaubte damals, es sei unmöglich, jemanden mehr zu lieben, als ich diese vier Kinder schon liebte. Aber wow, lag ich falsch!
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Ich bin über meine Unfähigkeit, biologische Kinder zu gebären, nicht so traurig, wie es andere von mir erwarten. Es ist nicht so, als würde ich Kinder nicht lieben – ich vergöttere sie. Aber ich habe meinen ganz persönlichen Cheat-Code gefunden: Ich bin eine Tante.

YESIKA SALGADO
Jennifer, Julissa und ich sind inzwischen erwachsen, stehen uns aber immer noch extrem nah. Schon von Anfang an hieß es bei uns: „Wir gegen den Rest der Welt.“ Gemeinsam kämpften wir gegen Nachbar:innen, gegen Sozialarbeiter:innen, gegen unseren eigenen Vater. Unsere Mutter zog uns identische Outfits an und ging jeden Sonntag mit uns in die Kirche. Wir waren Schlüsselkinder, die jeden Nachmittag allein klarkommen mussten. Wir überstanden den Alkoholismus, das Temperament, die Krankheit, und sogar den Tod unseres Vaters zusammen. Unseren Gruppenchat nannten wir „Die Macht der Drei“.
Dann erzählte mir Jennifer eines Tages, sie sei schwanger. Sofort fing ich an, Babyklamotten, Babysitze fürs Auto und einen Kinderwagen zu kaufen. Wir bekamen ein Baby! Als Saya zur Welt kam, nahm ich mir Urlaub. Ich bekam einfach nicht genug von ihren großen Augen und ihrer klitzekleinen Faust, die sie um meinen Finger ballte. Wenn ich sie im Arm hielt, kamen mir oft die Tränen. Ich konnte einfach nicht fassen, dass es dieses Wunder gab: eine Mini-Jennifer. Als Saya dann Kleinkind war, „lieh“ ich sie mir tagelang aus. Wir gingen zusammen in den Park und fütterten die Enten. Wir fuhren zusammen mit dem Bus ins Shoppingcenter. Ich nahm sie mit zur Arbeit, um vor meinen Kolleg:innen mit ihr anzugeben. Ich verkündete, sie sei die Liebe meines Lebens.
Eines Tages bat mich Jennifer dann um ein Gespräch und erzählte mir, ein weiteres Baby sei unterwegs – diesmal ein kleiner Junge. Henry kam schon mit einem breiten Lächeln auf die Welt. Wir waren sofort die besten Freund:innen. Als er fast ein Jahr alt war, hatte ich meine dritte Fehlgeburt. Daraufhin lag ich mit Henry auf meiner Brust auf der Couch und weinte stundenlang. Er quietschte, lachte, und legte mir seine kleinen Hände aufs Gesicht. Je älter er wurde, desto strahlender wurde seine Persönlichkeit. Er ist ein freches Kind mit einer lebhaften Fantasie und einem riesigen Herzen. Er weigert sich nie, sich küssen zu lassen – selbst wenn er mies drauf ist. Gleichzeitig ist er völlig furchtlos und springt vom Sofa auf den Stuhl, auf den Sessel, in meine offenen Arme. Wenn er mal nicht zu Besuch ist, ruft er mich via FaceTime an und stellt mir Tausende Fragen, die ich ihm alle gerne beantworte.
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Das Muttersein war wohl einfach nichts für mich. Es ist aber kein Trostpreis, eine Tante zu sein.

YESIKA SALGADO
Meine Schwester Jennifer hat mich ihre Kinder grenzenlos lieben lassen. Sie sind eine Erweiterung von ihr. Sie hat all meine Geheimnisse für sich behalten und meine Hand gehalten, wann immer ich glaubte, ein gebrochenes Herz würde mich umbringen. Und wenn Julissa und ich einen unserer unzähligen dramatischen Streits hatten, schlug sich Jennifer auf keine Seite. Sie hörte sich beide Seiten an und versicherte uns jeweils insgeheim, sie gebe uns Recht.
Sie ist meine Seelenverwandte. Gleichzeitig ist sie jemandes Frau, jemandes Mutter. Früher hatte ich Angst davor, dass sie sich dadurch von mir entfernen würde, aber wir stehen uns näher denn je.
Meine Beziehung zu meinen Schwestern baut auf alldem auf, was wir gemeinsam überlebt, aufgegeben und uns erkämpft haben. Zusammen ziehen wir zwei Kinder groß, die Liebe als etwas Bedingungsloses empfinden. So viele von uns können nur davon träumen, ein generationenüberdauerndes Trauma abzulegen; diese kleinen Menschen schaffen genau das. Ich weiß nicht, welche Wunder das Leben sonst noch für mich parat hat – aber ich weiß sehr wohl, dass die größte Liebe, die ich je empfunden habe, die ist, die mich mit meinem eigenen Fleisch und Blut verbindet. Das Muttersein war wohl einfach nichts für mich. Es ist aber kein Trostpreis, eine Tante zu sein – sondern eine Ehre, die ich mir jeden Tag verdienen möchte.
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