Ich hatte gerade mit der Oberschule angefangen, als eine Mitschülerin zu mir meinte: „Ich weiß nicht, wie du das schaffst. Wenn ich du wäre, würde ich mich umbringen.“ Ich wusste direkt, was sie damit meinte. Ich habe Autismus – eine Diagnose, die ich schon als junges Kind bekam – und eine genetische Bindegewebserkrankung namens Ehlers-Danlos-Syndrom, deren schleierhafte Symptome sich schon lange vor meiner Diagnose mit 25 zeigten.
Aufgrund meiner Behinderungen wurde ich zwischen meinem 5. und 14. Lebensjahr regelmäßig gemobbt. Ich blieb wegen Magen-Darm-Beschwerden oft krank zu Hause, hatte in der Schule bestimmte Sonderrechte und war dauernd bei der Physio- und Ergotherapie. Die meisten Mitschüler:innen und Bekannten waren zwar lieb zu mir, aber die meisten von ihnen bemitleideten mich auch. Selbst wenn sie mir das nie ins Gesicht sagten, spürte ich es doch.
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Ich bin längst nicht die einzige Person mit einer Behinderung, der schon mal gesagt wurde, ihr Leben sei für andere so schwer vorstellbar, dass der Tod wie die bessere Option klinge. Unsere Gesellschaft ist zutiefst ableistisch – also diskriminierend gegenüber Menschen mit Behinderungen –, und das zeigt sich unter anderem in den Serien und Filmen, die wir schauen, bis hin zu Worten, die wir im Gespräch verwenden, selbst als Kinder. Das beeinflusst unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, inklusive unserer Freundschaften, ganz unabhängig davon, ob es diese Leute eigentlich gut mit uns meinen oder nicht.
„Ich habe über die Jahre hinweg schon oft von Leuten gesagt bekommen, dass sie dankbar dafür seien, nicht in meiner Situation zu sein“, erzählt Ariel Henley, die Autorin von A Face for Picasso, in dem sie über ihre Jugend mit dem Crouzon-Syndrom schreibt. „Freund:innen haben mich schon gefragt, ob ich glaube, ich wäre hübsch geworden, wenn ich nicht mit einer Schädelerkrankung zur Welt gekommen wäre. Manche haben mir gesagt, sie könnten niemals mein Leben führen. Aber was ist denn die Alternative?“
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Freund:innen haben mich schon gefragt, ob ich glaube, ich wäre hübsch geworden, wenn ich nicht mit einer Schädelerkrankung zur Welt gekommen wäre. Manche haben mir gesagt, sie könnten niemals mein Leben führen. Aber was ist denn die Alternative?
Ariel Henley, Autorin von A Face for Picasso
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Uns allen wird von der Gesellschaft vermittelt, eine Behinderung als etwas Negatives zu betrachten – etwas, bei dem wir uns davor fürchten sollten, es könnte unsere Körper, unseren Geist betreffen. Und etwas, das wir bemitleiden sollten. Das kann sogar zu einer Angst davor führen, überhaupt mit Menschen mit sichtbaren Behinderungen zu sprechen, weil eine Behinderung als „anders“ gilt. Stacey Torres, Professorin für Soziologie an der University of California in San Francisco, erklärt, dass wir in unserer individualistischen Kultur klare „Gewinner:innen“ und „Verlierer:innen“ haben. Wenn du den strikten Standards der „Gewinner:innen“ nicht entsprichst – zu denen meist Privilegien wie weiße Haut oder fehlende Behinderungen zählen –, giltst du automatisch als „Verlierer:in“.
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„Das beeinträchtigt Beziehungen und Freundschaften zwischen Menschen mit und ohne Behinderung“, meint Torres, „vor allem im jüngeren Alter, wenn alle noch total mit ihrem eigenen Selbstbild beschäftigt sind.“ Manche Leute betrachten Freundschaften außerdem als Statussymbol – vor allem während der Jugend –, was dazu führt, dass sie sich eher Freund:innen suchen, die ihnen ähnlich sind oder aufgrund ihrer Privilegien einen sogar höheren gesellschaftlichen Status haben. Als Kind und Jugendliche hatte ich deswegen nicht viele Freundschaften, und die meisten meiner Freund:innen waren die Kinder mit Behinderung aus meinem Sonderunterricht oder der Physio- bzw. Ergotherapie.
Weil wir in einer Kultur leben, die Menschen mit Behinderungen diskriminiert, entwickeln viele von ihnen einen internalisierten (verinnerlichten) Ableismus und glauben bewusst oder unbewusst das negative Messaging, das ihnen von der Gesellschaft über Behinderungen vermittelt wird. Das kann zu Selbstzweifeln, einem schwachen Selbstbewusstsein und -wertgefühl führen.
„Ich finde, diese gesellschaftlichen Einstellungen erschweren es Menschen mit Behinderungen, Freundschaften zu knüpfen, weil uns eingeredet wird, wir seien diese Freundschaften gar nicht wert und würden keine Liebe, Aufmerksamkeit oder Freude verdienen“, erzählt Keah Brown, Creator des viralen Hashtags #DisabledAndCute („behindert und süß“) und Autorin von The Pretty One und Sam’s Super Seats. Brown erklärt, sie habe sich deswegen von ihren Freund:innen schon oft versichern lassen müssen, sie sei etwas wert und keine Last, weil ihr die ableistischen Systeme ihres Alltags das Gegenteil einreden. Es ist schwerer, deinen eigenen Wert zu kennen und darauf zu vertrauen, wenn zum Beispiel die Medien behaupten, jemand wie du sei nicht schön oder liebenswürdig, oder wenn Gebäude so entworfen werden, dass du sie nicht einmal betreten kannst.
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Ich selbst hatte bis in meine mittleren Zwanziger große Probleme mit meinem internalisierten Ableismus, weil ich mich nicht aktiv an der Community von Menschen mit Behinderung oder ihrer Pride-Bewegung beteiligte; zumindest nicht so aktiv, wie ich es als offen bisexuelle Frau in der LGBTQIA+-Community tue. Obwohl die meisten meiner Kindheitsfreund:innen ebenfalls Behinderungen hatten, hatte ich zu Beginn meiner Studienzeit doch auch diverse Freundschaften mit Menschen ohne Behinderung. Oft beschloss ich, denen gar nichts von meiner zu erzählen; gleichzeitig entwickelten sich die Symptome meines Ehlers-Danlos-Syndroms aber immer weiter: Es fiel mir zunehmend schwerer, Dinge zu tun, die ich früher problemlos geschafft hatte – wie ein Clubbesuch bis 3 Uhr morgens.
Torres, die selbst eine Autoimmunerkrankung namens Sjögren-Syndrom hat, meint, dass Menschen mit weniger sichtbaren Behinderungen „diese vielleicht innerhalb ihrem Umfeld lieber geheim halten. Vielleicht haben sie auch Freund:innen, die zwar davon wissen, aber nicht, wie weit die Behinderung wirklich geht. Vor allem, wenn du jünger bist, willst du ja auch schließlich nicht die Person sein, die allen Plänen einen Dämpfer verpasst.“
Die Person mit Behinderung in einer nichtbehinderten Freundschaft zu sein – oder auch nur in einem nichtbehinderten Freundeskreis –, bedeutet oft, dass es an mir liegt, meine Freund:innen über meine Behinderungen aufzuklären oder ihnen zu erklären, wieso mir manches jetzt oder in Zukunft schwer fallen könnte. Als ich damit anfing, ab und zu einen Gehstock zu benutzen, glaubte ich, langfristig auch gelegentlich einen Rollstuhl oder ein Gehgestell zu brauchen. Das war dann doch nicht nötig – aber ich erinnere mich immer noch an die Angst, die ich empfand, als ich meinen Freund:innen erstmals von meiner Mobilitätshilfe erzählte. Was, wenn sie mich dafür verurteilen, dass ich einen Gehstock brauche? Was, wenn sie nirgendwo mehr mit mir hin wollen, wenn ich einen Rollstuhl oder einen Walker brauche? Werden sie aufhören, mich zu Treffen einzuladen, weil viele Orte nicht behindertenfreundlich sind, oder weil ein Rollstuhl nicht in ihr Auto passt?
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Weil Ableismus immer im Hintergrund meiner Freundschaften lauert, bin ich quasi durchgehend angespannt: Ich habe Angst davor, dass meine Freund:innen irgendwann damit aufhören, den Bars die Schuld zu geben, die keine behindertengerechten Sitzmöglichkeiten anbieten, und stattdessen mir Vorwürfe machen, weil ich nicht stehen kann. Ich habe Angst davor, dass sie es irgendwann satt haben, mit mir nach Bus- und Bahnverbindungen zu suchen und mir anzubieten, bei ihnen zu übernachten, und stattdessen einfach lieber Auto fahren, was mir manchmal schwerfällt.
Tiefe Freundschaften erfordern Vertrauen und offene Kommunikation, selbst in schwierigen Situationen. Ich musste im Laufe der Jahre schon einige unangenehme Gespräche mit meinen Freund:innen führen – nicht nur über Behinderungen und Ableismus, sondern auch über Trauer, Fatphobia, Rassismus, Acephobia (die Diskriminierung von asexuellen Menschen) und Finanzen. Es gehört zum Mensch- und Freund:insein dazu, auch den Blickwinkel meiner Freund:innen zu verstehen, selbst dann, wenn er sich von meinem unterscheidet – und darauf zu vertrauen, dass sie dasselbe auch für mich tun.
Das Schönste, das sich aus meinen Freundschaften mit Menschen ohne Behinderung ergeben hat, ist das Wissen, dass ich meinen Freund:innen wirklich wichtig bin und sie aktiv an mich denken. Das zeigt sich zum Beispiel daran, wenn mir eine Freundin anbietet, das Fahren in die Stadt zu übernehmen, weil sie weiß, dass das für mich schwer ist; oder daran, dass ein Freund bei einem Konzert mit mir eine Pause einlegt, damit ich mich hinsetzen und kurz erholen kann. Mia Mingus hat bereits über dieses Phänomen geschrieben, das sie „access intimacy“ (zu Deutsch so viel wie „Barrierefreiheits-Intimität“) nennt: das Gefühl, dass die eigenen behinderungsbedingten Bedürfnisse wortlos von einer anderen Person verstanden und berücksichtigt werden. Genau dieses Gefühl kenne ich aus meinen fürsorglichsten Freundschaften, und dafür bin ich unheimlich dankbar.
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Tiefe Freundschaften erfordern Vertrauen und offene Kommunikation, selbst in schwierigen Situationen.
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Torres kennt das auch. Sie sagt, wir Menschen mit Behinderungen müssen hinsichtlich unserer Freundschaften genau deswegen ein bisschen „Gatekeeping“ praktizieren – wir können nicht „jede:n reinlassen“, sozusagen. Bevor es nämlich zu einer tiefen Freundschaft kommen kann, müssen wir darüber nachdenken, wie diese Person auf unsere Behinderungen oder Behinderungen allgemein reagiert. „Ich glaube, dass Menschen mit Behinderungen ihre Freundschaften gezielter angehen müssen. Leute ohne Behinderung nehmen diese Freundschaften oft für selbstverständlich“, meint sie.
Das entspricht auch Ariel Henleys Erfahrung. „Weil mein Gesicht anders aussieht, habe ich authentischere Freundschaften und Beziehungen geknüpft“, erzählt sie. „Es hat mir ermöglicht, über oberflächliche Bindungen hinauszugehen und die Leute wirklich kennenzulernen – und sie wiederum mich. Weil ich anders aussehe, habe ich mich immer auf meine Persönlichkeit verlassen und darauf, was mich als Person ausmacht. Nicht auf mein Aussehen.“
Ich empfinde es immer als beruhigend, wenn mir ein Mensch – vor allem zu Beginn einer Freundschaft – zeigt, dass er oder sie meine Barrierefreiheit zur Priorität und mich nicht für den Ableismus verantwortlich macht, der uns bei unseren Treffen definitiv entgegenschlägt. Ich liebe es, wenn mir meine Freund:innen zeigen, dass das auch nicht einseitig ist: Bloß, weil jemand keine diagnostizierte Behinderung hat, heißt das nicht, dass dieser Mensch niemals Hilfe braucht oder nie Feindseligkeit erlebt. Leute ohne Behinderung, die gute Freund:innen und Unterstützer:innen sein wollen, sollten mit ihren Worten und Taten beweisen, dass sie ableistische Vorurteile ablehnen und uns, wenn nötig, den Rücken stärken – zum Beispiel, indem sie bei einem Event nach einer Sitzgelegenheit suchen, während wir in einer Schlange stehen.
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Keah Brown erzählt, dieses Level an Ehrlichkeit innerhalb ihrer Freundschaften habe „unsere Beziehungen gestärkt und uns einander näher gebracht, weil wir das Gefühl haben, darin wirklich wir selbst sein zu können. Und ist das nicht genau das, was wir uns in dieser Welt alle wünschen: Räume, in denen wir voll und ganz wir sein können, ohne uns dafür zu entschuldigen?“
Alaina Leary ist Program Manager bei We Need Diverse Books und Mitglied der Fakultät am Emerson College. Ihre Texte wurden bereits unter anderem in der New York Times, in Good Housekeeping, dem Boston Globe Magazine, der Teen Vogue und Cosmopolitan veröffentlicht. Sie lebt in der Nähe von Boston, USA, zusammen mit ihrer Frau, drei Katzen, und einem regenbogenfarbigen Bücherregal.
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