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Warum hinter meiner Angst vor Ablehnung viel mehr steckt, als ich dachte

Foto: Jordan Tiberio
Mein ganzes Leben lang dachte ich, ich sei einfach zu sensibel für diese Welt. Meine Fähigkeit, Emotionen zu empfinden, kommt mir als so viel ausgeprägter vor als bei anderen Menschen. Ich habe Gefühle, die andere gar nicht kennen. Mein Gefühlsspektrum ist riesig. Meine Gefühlswelt schwankt immer schon zwischen beiden Extremen hin und her. Die kleinste Kritik kann mich dazu bringen, mich tagelang selbst zu verachten. Jede Enttäuschung oder Verärgerung löst eine körperliche Reaktion in meiner Brust aus. Ich spüre den Schmerz, der meinen Körper durchdringt. Das ist anstrengend.

Nachdem mir im Alter von 23 Jahren mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert wurde, begab ich mich auf eine wichtige Selbstfindungsreise. Ich fand heraus, dass ich mit dem intensiven emotionalen Schmerz, den ich erlebte, nicht allein war. Als ich vom Begriff „abweisungsempfindliche Dysphorie“ erfuhr, ging in meinem Kopf ein Licht auf. Ich erkannte, dass es einen Begriff für das gab, was in mir vorging, und es mit meiner ADHS zusammenhing. Zum ersten Mal fühlte ich mich nicht so, als sei ich verrückt.

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ADHS wird als eine neurologische Störung definiert, die sich auf die Teile des Gehirns auswirkt, die uns helfen, Aufgaben zu planen, uns auf sie zu konzentrieren und sie auszuführen. Nach Angaben der Harvard Medical School kann „eine Person mit dieser Störung störend oder impulsiv sein, Probleme in Beziehungen haben und zu Unfällen neigen“. Die Verbindung zwischen ADHS und Beziehungen spielt eine grundlegende Rolle, um die weite Verbreitung der abweisungsempfindlichen Dysphorie (aus dem Englischen: rejection sensitive dysphoria, kurz: RSD) zu verstehen. Bezeichnet wird sie als „immens emotionale Empfindlichkeit und emotionaler Schmerz, ausgelöst durch die Wahrnehmung, dass eine Person von wichtigen Menschen in ihrem Leben abgelehnt oder kritisiert wurde“. In anderen Worten: Expert:innen beschreiben sie als eine extrem starke Reaktion auf die reale oder irreale Wahrnehmung von Ablehnung. Personen fühlen sich überfordert, wenn sie beurteilt, ausgegrenzt oder kritisiert werden. Betroffene können sich deshalb wie Versager:innen fühlen, das Gefühl haben, dass alle gegen sie sind, oder in einen Sog unverhältnismäßiger Emotionen hineingezogen werden.
Um RSD wirklich zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass das Gehirn von Leuten mit ADHS nicht immer den Unterschied zwischen echter und vermeintlicher Kritik entschlüsseln kann. Das ist meiner Erfahrung nach ein sehr relevanter Punkt. So oft habe ich etwas als Ablehnung wahrgenommen, was in Wirklichkeit aber gar nicht gegen mich persönlich gerichtet war. Als ich 21 wurde, organisierte ich eine Geburtstagsparty mit Kostümen und lud viele Freund:innen ein. Als viele davon nicht kommen konnten – aus völlig legitimen und verständlichen Gründen –, war ich am Boden zerstört. Ich redete mir ein, dass mich niemand mochte, sich niemand für mich interessiere oder mit mir feiern wollte. Ich sagte die Party ab, um ja nicht noch mehr enttäuscht zu werden.
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Bei der Arbeit kann mich eine einzige für meinen Geschmack etwas zu kurze Slack-Nachricht in einen Zustand existenzieller Verzweiflung bringen. Ich vergleiche mich ständig mit anderen, als ob ihr Erfolg meinen eigenen schmälern würde. Ich setze so hohe Maßstäbe für mich selbst, dass es unmöglich ist, mitzuhalten. Am Ende bin ich unheimlich enttäuscht, wenn ich meine eigenen Erwartungen an mich selbst nicht erfüllen konnte. Ich liebe meinen Beruf, aber meine RSD trägt dazu bei, dass ich meine Berufswahl täglich in Frage stelle.
Beth, 34, wurde letztes Jahr mit ADHS diagnostiziert. Als sie aufwuchs, litt auch sie an einer abweisungsempfindlichen Dysphorie, hatte aber keine Bezeichnung dafür. „Ich war sehr sensibel. Wann immer mir jemand konstruktives Feedback gab, bekam ich eine Panikattacke“, erklärt sie. Im Laufe der Zeit wurde klar, dass Beth ADHS hat. Daraufhin ließ sie sich genauer untersuchen. „Meine Empfindlichkeit in Sachen Ablehnung hat einen großen Einfluss auf mich. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, hat dazu geführt, dass ich sehr empfindlich reagiere, wann immer ich mich abgelehnt fühle. Ich stelle hohe Ansprüche an mich selbst und die kritischen Stimmen in mir sind nur schwer zu ertragen“, sagt sie.
Beth weiß, dass sich ihre RSD, wie auch meine, sowohl auf ihre beruflichen als auch auf ihre privaten Beziehungen auswirkt. „Freundschaften gingen zu Ende, weil ich übertrieben emotional auf Kommentare reagierte und aus der Haut fuhr, anstatt diplomatisch zu sein. Was mein Berufsleben betrifft, so mache ich mir nonstop Sorgen, dass ich nicht gut genug bin. Ich hatte nie Vertrauen in meine Fähigkeiten. Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn habe ich sehr viel Zeit damit verbracht, auf der Toilette zu weinen und verwarnt zu werden, weil ich mich nicht ausreichend durchsetzen konnte.“
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Die 23-jährige Chloe bekam vor einem Jahr ADHS diagnostiziert. Seit drei Jahren hat sie den Verdacht, dass sie auch an RSD leidet. „Als Redakteurin erhalte ich fast täglich E-Mails mit Absagen. Meistens weiß ich, dass es nicht wirklich etwas Persönliches ist. Ich weiß jedoch, dass meine Dysphorie einsetzt, wenn es mir trotz all meiner Bewältigungsstrategien extrem schlecht geht. Dann weiß ich, dass ich mich von meinem Laptop entfernen muss“, sagt Chloe. „Zu meinen Bewältigungsstrategien gehören Gespräche mit jemandem, der:die nichts mit der Situation, die mir zu schaffen macht, zu tun hat. Eine Pause zu machen, ist ebenfalls hilfreich, denn die meisten Symptome meiner abweisungsempfindlichen Dysphorie treten dann bei mir auf, wenn ich mich überanstrenge. Mithilfe einer Auszeit kann ich mich wieder etwas beruhigen“, sagt sie abschließend.
Angela Karanja ist Psychologin, Expertin im Bereich der Erziehung von Teenagern und Gründerin von Raising Remarkable Teenagers. Außerdem ist sie Expertin in Sachen RSD und weiß, wie sehr Mädchen und Frauen darunter leiden können, die ihr zufolge überproportional davon betroffen sind und teils auch Suizidgedanken haben. „RSD steht sehr stark in einer Wechselbeziehung mit ADHS und wird damit assoziiert.“ Abgesehen von Menschen mit ADHS sind auch Autist:innen anfälliger für diese Dysphorie. RSD ist keine anerkannte Diagnose im Diagnose- und Statistikhandbuch für psychische Störungen DSM-5. Aus diesem Grund ist es nicht immer möglich, diese psychische Erkrankung professionell diagnostizieren zu lassen. „Die Symptome, die Betroffene aufweisen – auch ohne RSD-Diagnose – sind aber unbestreitbar“, sagt Angela.
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„Menschen mit einer abweisungsempfindlichen Dysphorie haben extreme Angst davor, abgelehnt, kritisiert oder ausgeschlossen zu werden“, fährt sie fort. „Wenn sie abgelehnt werden, egal, ob sie es wirklich werden oder sich das bloß einbilden, werden sie furchtbar wütend und sind verunsichert. Zu den häufigsten Symptomen gehören ein geringes Selbstwertgefühl und emotionale Ausbrüche. Außerdem denken Betroffene typischerweise, dass sie nicht gut genug seien, wenn sie ihren eigenen hohen Ansprüchen nicht gerecht werden.“
Wie können Frauen mit RSD also lernen, mit dieser Erkrankung umzugehen? „Als Erstes sollten Betroffene immer mit ihren Ärzt:innen sprechen, wenn sie diese Art von Beschwerden haben. Je nach Schweregrad und anderen Begleiterkrankungen können Fachleute entweder Verhaltensinterventionen vorschlagen oder Medikamente verschreiben“, sagt Angela.
Was kannst du aber abgesehen von herkömmlichen Therapien und Medikamenten selbst tun? Am besten ist es, deinen Lebensstil zu ändern und dich in Selfcare zu üben. Angela empfiehlt außerdem folgenden 4-Schritte-Prozess, um negative innere Stimmen verstummen zu lassen und Selbstzweifel zu besänftigen. „Erstens: Sei ehrlich zu dir selbst, sei präsent und versuch, selbstzerstörerische Gedanken zu entdecken. Zweitens: Sprich mit diesen, als wären sie eine Person, und mach ihnen klar, dass du weißt, was sie dir antun. Drittens: Fordere sie heraus! Kennzeichne all jene Gedanken, die dir nicht dienen. Viertens: Sobald du nicht dienliche Gedanken in Frage gestellt hast, wirst du dich nicht mehr länger ohnmächtig fühlen. Jetzt hast du nämlich im Griff, wer du beim nächsten Mal sein und wie du reagieren willst“, sagt sie. „Es kann hilfreich sein, dir Dinge bewusst zu machen und eine Bereitschaft dafür zu entwickeln, verschiedene Möglichkeiten zu erlernen, wie du auf bestimmte triggernde Situationen reagieren kannst. Hinterfrage und fordere den Wahrheitsgehalt deiner Gedanken heraus.“
Ich befinde mich immer noch auf meiner RSD-Reise, aber zu erfahren, dass es diese psychische Erkrankung gibt und ich mir nicht alles, was in mir vorgeht, bloß einbilde, war ein entscheidender Moment für mich. Jetzt kann ich erkennen, wann sich meine abweisungsempfindlichen Dysphorie in meinem Verhalten manifestiert – auch wenn der emotionale Schmerz bleibt. Jetzt bin ich in der Lage, zu sehen, dass es okay ist, leicht verärgert darüber zu sein, dass ein:e Freund:in vergessen hat, auf meine Nachricht zu antworten, anstatt das als eine Bestätigung zu verstehen, dass ich nicht gut genug sei. Ich bin mir meiner Verhaltensmuster bewusst und kann sie nun deshalb genau unter die Lupe nehmen, hinterfragen und gegebenenfalls verwerfen. Obwohl nichts perfekt ist – und es auch nie sein wird –, werde ich weiterhin zur Therapie gehen und meine Medikamente nehmen. In meinen dunkelsten Momenten werde ich mich an Folgendes erinnern: Mit RSD zu leben, schmälert nicht die Gültigkeit meiner Gefühle.
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