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Wieso meine ADHS-Diagnose für mich kein Grund zur Freude ist

Foto: Jordan Tiberio.
Als mir eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert wurde, dachte ich, das sollte eigentlich einer der besten Tage meines Lebens sein. Schließlich hatte ich mir jahrelang den Kopf darüber zerbrochen, wieso ich eigentlich so anders war und meinen Alltag nicht so locker meisterte wie meine Freund:innen. Nachdem ich einige Zeit zuvor in einem Artikel gelesen hatte, wie sich ADHS auf Frauen auswirken kann, hatte es bei mir Klick gemacht; es dauerte aber noch mehrere Jahre, bis ich wirklich deswegen aktiv wurde. Genauer gesagt: bis mir der Corona-Lockdown einen Spiegel vorhielt und ich begriff, dass ich diese Probleme nicht mehr einfach würde ignorieren können.
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Ich war bereit, mich meiner Diagnose zu stellen, und nachdem ich im Lockdown ein bisschen Geld für eine Untersuchung bei einer Spezialistin angespart hatte, nahm ich allen Mut zusammen und buchte einen Termin. Nachdem ich ihr jede Menge Fragen beantwortet hatte, sagte mir die Psychiaterin, sie habe schon gewusst, dass ich von ADHS betroffen bin, bevor ich überhaupt angefangen hatte zu sprechen; meine vor dem Termin beschriebenen Symptome waren einfach zu schwerwiegend. 
Dieser Termin ist nun ein Jahr her, und ich bin sehr froh, endlich meine Diagnose zu haben und in Behandlung zu sein. Trotzdem fällt es mir schwer nachzuvollziehen, wieso einige Betroffenen den Tag der Diagnose als einen der glücklichsten ihres Lebens empfinden.
Klar, es fühlte sich erleichternd an, eine Antwort darauf zu bekommen, warum ich so bin, wie ich bin, und Bewältigungsmöglichkeiten für meine Symptome zu erlernen. Trotzdem blieb das Gefühl der Freude aus, von dem ich so oft gehört hatte.
Tatsächlich bedeutete dieser Tag nämlich für mich den Anfang der Bewältigung einer weiteren chronischen Krankheit, deren Behandlung teuer und die noch immer nicht gründlich erforscht ist. Einer Krankheit, die sich so gut versteckt hatte, dass sie nicht mal meinen engsten Freund:innen und Verwandten aufgefallen war.
Wie wir über ADHS nachdenken und sprechen, hält viele Betroffenen lange davon ab, sich eine Diagnose zu holen. Dadurch bekommen sie eine solche oft erst recht spät – wenn überhaupt. Bis zu 75 Prozent aller Betroffenen haben tatsächlich gar keine offizielle Diagnose und bringen ihre Probleme daher gar nicht mit der Störung in Verbindung; stattdessen tun sie (und andere) ihre Beschwerden häufig als Faulheit, Zerstreutheit oder „Macken“ ab. 
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Leider helfen die Medien auch nicht groß dabei, über die Störung aufzuklären. Das erste Mal, dass ich ADHS auf einem Bildschirm repräsentiert sah, war in Sex and the City, als Carrie Bradshaw den Jazz-Musiker Ray King datete, der nicht länger als drei Sekunden still sitzen konnte – und sie damit total abtörnte. Diese Abscheu nahm ich natürlich in mir auf und verweigerte mich daraufhin jahrelang einer Diagnose meiner Symptome. 
Und damit bin ich nicht allein; genau diese Stereotypen schrecken viele Betroffenen davor ab, sich Hilfe zu suchen. ADHS gilt immer noch für viele als Problem hyperaktiver Jungs und Männer, die lieber ein Zimmer verwüsten, als mal still zu sitzen. Dieser Stereotyp ist einer der größten Gründe dafür, warum Jungen dreimal so häufig eine ADHS-Diagnose bekommen wie Mädchen
Das liegt auch an den verschiedenen geschlechtsspezifischen Ausprägungen der Störung. ADHS bei Frauen äußert sich häufig unauffälliger, nämlich als Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität; die Symptome sind daher weniger deutlich erkennbar, weil sie sich innerlich abspielen, und nehmen zum Beispiel die Form von Desorganisation, Tagträumerei, Entscheidungsschwierigkeiten, Zurückgezogenheit und Problemen bei der Informationsverarbeitung an.
„Weil ein von ADHS betroffenes Mädchen häufig ruhiger und weniger störend auftritt, werden dessen Symptome oft übersehen oder nur mild in Schulzeugnissen kritisiert. Oft heißt es dann, sie solle besser aufpassen“, erklärt Dr. Rachel Glow, Spezialistin für neurologische Entwicklung. „Das bedeutet leider oft, dass die Mädchen still leiden, sich zurückziehen, unruhig werden, ein geringes Selbstwertgefühl haben, sich vor der Schule fürchten oder, in den schlimmsten Fällen, sich sogar selbst verletzen.“
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Wie mir wurde auch vielen anderen Frauen gesagt, sie könnten wegen ihres Geschlechts gar kein ADHS haben, weswegen wir uns daran gewöhnt haben, für unsere Symptome nicht ernst genommen zu werden, bis die sexistischen medizinischen Diagnoserichtlinien endlich auf den neuesten Stand gebracht werden.
Als ich einen Termin mit meinem Hausarzt vereinbarte, um meine Diagnose und Behandlungsoptionen zu besprechen, bemerkte ich: Ich kämpfte hier gerade darum, einfach endlich als ADHS-Betroffene anerkannt zu werden – anstatt ganz natürlich davon auszugehen, dass ich selbstverständlich Hilfe bekommen würde. „Ich glaube, geistige Erkrankungen bei erwachsenen Frauen werden generell als Neurosen abgetan. In der medizinischen Denkweise ist noch immer viel Frauenfeindlichkeit verankert; Erkrankungen, die nur Frauen betreffen, werden daher oft nicht ernst genommen. Sieh dir doch nur mal die Behandlung von PMS oder der Menopause an“, meint Dr. Alison McClymont, die schon seit einem Jahrzehnt mit Frauen und Kindern mit ADHS arbeitet. „Ich glaube, Frauen wird außerdem gesellschaftlich eingeredet, sie sollten nicht anecken oder sich beschweren. Deswegen kann es manchmal Jahre dauern, bis sie eine Diagnose einfordern.“
Wer erst später im Leben eine ADHS-Diagnose bekommt, gilt oft als „hochfunktional“; das heißt, dass er:sie nach außen hin nicht so „betroffen“ wirkt. Die Realität ist dabei aber häufig eine ganz andere: ADHS-Betroffene, die nicht früh genug diagnostiziert wurden, haben durch die fehlende professionelle Hilfe vielleicht zwangsweise Bewältigungsmechanismen entwickeln müssen, die ihre Symptome kaschieren. Noch dazu werden die Symptome, die Betroffene offenbar bis ins Erwachsenenalter hinein „ertragen“ konnten, oft als vermeintlich beherrschbar abgestempelt.  
„Die hochfunktionale ADHS ist keine Diagnose, sondern heißt einfach, dass du gesellschaftlich darauf trainiert wurdest, deine Störung gut genug zu kontrollieren, dass sie sich nicht dramatisch auf gewisse Lebensbereiche wie die Arbeit oder Bildung auswirkt“, erklärt Dr. McClymont. „Effektiv heißt das, dass du genügend Bewältungsstrategien entwickelt – oder, was noch wahrscheinlicher ist, dass du gelernt hast, durch die Störung verursachten Stress runterzuschlucken, anstatt ihn nach außen hin zu zeigen, obwohl du das vielleicht gern getan hättest.“
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Noch dazu erfordert die Behandlung von ADHS meistens jede Menge Mühen und Kosten, zum Beispiel für Behandlungen in Krankenhäusern, durch Psychiater:innen und für Medikamente. Im Durchschnitt hat ein:e Betroffene:r jährlich um rund 1.508 Euro höhere medizinische Kosten als Nicht-Betroffene, ergab eine Studie des Universitätsklinikums Frankfurt. Das setzt natürlich voraus, dass man überhaupt einen Therapieplatz bekommt; in Deutschland warten etwa 40 Prozent der Patient:innen mindestens drei bis neun Monate auf den Behandlungsbeginn
Dieser Prozess entspricht außerdem nicht gerade den Stärken von ADHS-Betroffenen. Wer eine:n Therapeut:in zu finden, muss zuallererst mal daran denken, die Suche aktiv voranzutreiben – eine schwierige Aufgabe, wenn das eigene Gedächtnis so schlecht ist, dass es dem von Demenz-Patient:innen im frühen Erkrankungsstadium ähnelt. 
Aber selbst, wenn du deinen Therapieplatz ergattert hast, sind noch nicht alle Hürden bewältigt. Da wäre zum Beispiel noch das Problem der Medikation. Viele ADHS-Patient:innen, die sich mit Medikamenten behelfen wollen, bekommen dafür nämlich keine Unterstützung.
„Wenn du dich für die medikamentöse Behandlung entscheidest, sei stolz. Niemandem, der:die körperliche Beschwerden mit Medikamenten lindern will, werden dafür Scham- und Schuldgefühle eingeredet – und das sollte in deinem Fall genauso gelten“, findet Dr. McClymont. „ADHS wird oft im selben Atemzug wie die ‚Medikamenten-Debatte‘ erwähnt – also die Diskussion darüber, ob Leute gegen Aufmerksamkeitsprobleme Medikamente  einnehmen sollten. Oft wird diese Debatte mit der Andeutung verknüpft, ADHS sei nur deswegen heute so weit verbreitet, weil diese Medikamente inzwischen leichter erhältlich sind und die Pharma-Branche von der Diagnose profitiert. Diese Argumente lenken vom Hauptthema ab – nämlich davon, dass sich ADHS-Betroffene in vielen Lebensbereichen schwertun, nicht bloß in Sachen Bildung und Arbeit. Die Störung kann sich auf Freundschaften, romantische Beziehungen und die Gesundheit auswirken“, ergänzt sie.
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Für einige Betroffenen scheitert die Behandlung der Krankheit auch nach der Diagnose womöglich an den Finanzen. Viele wissen über ihre Störung Bescheid, können sich deren Behandlung aber einfach nicht leisten: Studien haben ergeben, dass ADHS-Betroffene wahrscheinlicher als Nicht-Betroffene aus einem benachteiligten sozioökonomischen Umfeld stammen. Trotzdem wird die gesellschaftliche Schicht noch immer häufig fälschlicherweise mit der Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Erkrankung in Verbindung gebracht. Dr. Gow zufolge ist es „sehr schade“, dass die Störung und ihre Behandlung selbst im 21. Jahrhundert noch nicht gut erforscht sind.
„Um es mal klarzustellen: ADHS betrifft nicht bloß Kinder alleinerziehender Eltern, entsteht nicht durch zu viel Fernsehen während der Kindheit, bedeutet keine geringere Intelligenz, ist kein Synonym für ‚Zappelphilipps‘ und keine Erfindung der Pharma-Industrie“, betont sie. 
Du merkst also: Selbst nach der ADHS-Diagnose folgt für Patient:innen in den meisten Fällen noch jede Menge Frust. Ein Grund für diesen Frust wird aber häufig übersehen: wie sich die Störung auf das Selbstbild auswirkt. 
ADHS wird oft als Konzentrationsschwäche abgetan, dabei schürfen ihre mentalen Konsequenzen noch viel tiefer. Spezialist:innen kategorisieren ADHS daher oft als geistige Störung. Betroffene haben ein deutlich höheres Risiko für Angststörungen und Depressionen.
Für viele bedeutet die Diagnose, dass sie erstmals begreifen, dass ihre hohe Sensibilität für Abweisung jeder Art so ADHS-spezifisch ist, dass es dafür sogar einen Namen gibt: Rejection Sensitive Dysphoria, kurz RSD
„Die RSD betrifft einige ADHS-Leidenden, die emotionale Reaktionen nur ‚schwer verkraften‘. Die Synapsen des ADHS-Gehirns reagieren manchmal besonders stark, wodurch das chaotische oder vernebelte Denken entsteht“, erklärt Dr. McClymont.
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„Deswegen machen sich einige Betroffene viel zu viele Gedanken zu dieser oder jener Interaktion oder haben Schwierigkeiten dabei, sich von den negativen Gedanken über einen solchen Kontakt zu lösen. Dazu kommen häufig ein impulsives Verhalten und der Druck, gemocht zu werden. Dadurch fühlen sich Betroffene gegebenenfalls dazu gezwungen, andere Menschen regelrecht zu ‚bombardieren‘, in der Hoffnung, nicht von ihnen abgewiesen zu werden, und machen sich selbst dafür fertig, das Gegenüber womöglich gekränkt oder genervt zu haben. Das kann Beziehungen zu Nicht-Betroffenen belasten, die sich eventuell fragen, wieso der:die ADHS-Erkrankte so launisch wirkt, in einer Minute noch wütend scheint und in der nächsten schon wieder verzweifelt versucht, alles wiedergutzumachen“, erklärt sie weiter. „Betroffenen von RSD hilft eine dialektische Verhaltenstherapie aber oft sehr gut.“
Was muss sich also ändern, damit das Leben nach der ADHS-Diagnose einfacher verläuft? Nachdem sie inzwischen seit über einem Jahrzehnt mit betroffenen Kindern und Erwachsenen zusammenarbeitet, meint Dr. McClymont, dass es Patient:innen oft viel besser geht, wenn sie sich gehört und verstanden fühlen. „Eine tolle Sache an der Diagnose ist, dass sie einem Menschen das Gefühl geben kann, endlich verstanden zu werden. Das kann aber gleichzeitig von einer Welle des Traumas begleitet werden, weil du feststellst, dass du dir jahrelang fälschlicherweise eingeredet hast, du seist an deinen Symptomen schuld – obwohl du einfach ADHS hast“, sagt sie. „Sei gut zu dir selbst. Liebe dein ADHS-Gehirn genau so, wie es ist, und bringe ihm Verständnis entgegen.“
Dr. Gow zufolge kann es ADHS-Patient:innen helfen, die eigene Erkrankung gründlich zu recherchieren, um besser zu begreifen, wie sie ticken – und wieso –, und wie sie damit am besten umgehen. Selbst, wenn du noch keine offizielle Diagnose hast. „Recherchiere erstmal ein bisschen, wenn du glaubst, Symptome zu haben, damit du gut vorbereitet zum ärztlichen Termin gehst“, rät sie. „Arbeite dazu mit einem:einer Psycholog:in zusammen, der:die deine Symptome mit dir durchgeht und einen professionellen Brief an deinen Hausarzt oder deine Hausärztin verfasst, in dem die Befunde klar dargestellt werden. Und am wichtigsten ist es, mit anderen ADHS-Betroffenen zu sprechen – zum Beispiel auf Social Media. Gib nie die Mühe auf, dir Gehör zu verschaffen!“
Niemand sollte sich dafür schämen müssen, sich über eine ADHS-Diagnose zu freuen; aber ich finde, wenn wir das Ganze zu positiv ausschmücken, übertünchen wir damit womöglich die unangenehmeren Aspekte einer lebensverändernden Diagnose und blenden somit aus, was sich in der neurotypischen Welt so alles verändern muss, damit Betroffene mit dieser Krankheit besser klarkommen. 
„Fröhliche“ Diagnose-Storys sind wichtig, keine Frage. Aber solange die Welt Frauen mit ADHS noch immer nicht genug Aufmerksamkeit oder Anerkennung entgegenbringt, ist diese Diagnose nur der erste Schritt auf einem weiten, weiten Weg.
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