Der in London ansässigen norwegischen Fotografin Nora Nord wurde 2018 ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung) diagnostiziert. Damals war sie Anfang 20. Sie empfand die Diagnose als ungemein befreiend, da so einige Aspekte ihrer Persönlichkeit endlich einen Sinn ergaben. Diese Zeit fühlte sich aber auch frustrierend an. „Den Großteil meines Lebens hatte ich das Gefühl, dass etwas nicht mit mir stimmt“, erinnert sie sich. „Ich fragte mich, warum ich mich nicht konzentrieren oder Dinge zu Ende bringen konnte und warum ich alles immer in letzter Minute tat. Ich glaube, dass sich viele Menschen mit ADHS darin wiedererkennen können. Da es sowohl an Verständnis als auch an leicht zugänglicher Unterstützung mangelt, müssen wir unsere eigene Ausdrucks- und Lebensweise finden und herausfinden, wie wir mit dieser Störung umgehen können.“
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Als sie begann, ihre Krankheit zu recherchieren, wurde Nord schnell klar, dass Stimmen wie ihre, einer queeren Frau, in der Diskussion besonders untergehen. Deshalb beschloss sie, etwas dagegen zu unternehmen. Das Ergebnis ist eine Porträtserie, in der sie andere unterrepräsentierte Menschen mit ADHS und deren Geschichten vorstellt.
Nord startete das Projekt kurz vor dem ersten Lockdown in Großbritannien und wollte mit ihren Porträts die vielen verschiedenen Gesichter von ADHS zeigen. „Es gibt dieses Klischee, dass ADHS ein rowdyhafter Junge in einem Klassenzimmer ist, der nicht stillsitzen kann. Die Anzeichen dieser Störung unterscheiden sich aber von Person zu Person. Das versuche ich in dieser Fotoserie zu zeigen. Schubladendenken und die Tatsache, dass es Menschen gibt, die nur in Stereotypen denken und nicht über den Tellerrand hinausschauen, sind der Grund dafür, dass es bei manchen Betroffenen so viele Jahre dauern kann, bis sie endlich (richtig) diagnostiziert werden. Nach meiner Diagnose stieß ich bei meiner Recherche auf Studien und Projekte, die hauptsächlich von weißen, cis Männern durchgeführt worden waren. Das hat mich dazu bewegt, die Darstellweise zu ändern“, sagt sie. „Es war mir auch wichtig, darüber zu sprechen, wie ADHS aussehen kann – von unseren lustigen Angewohnheiten und Ärgernissen bis hin zu unserer Kreativität. Es gibt nämlich so viele Menschen, die nicht den allgemeinen Klischees entsprechen. Das ist jedenfalls bei mir so und es gibt so viele andere, die davon profitieren könnten, zu wissen, dass ihr Gehirn Dinge nicht auf eine konventionelle Art und Weise verarbeitet und lernt, sondern ungewöhnlich funktioniert.“ Sie begann damit, Freund:innen und Bekannte zu fotografieren, und später auch Menschen, mit denen sie im Internet ins Gespräch gekommen war. Bislang stammen alle Teilnehmer:innen aus dem Vereinigten Königreich, aber mit der Zeit, so Nord, hofft sie, mit Personen aus anderen Ländern sprechen zu können. Sie möchte nämlich gerne herausfinden, ob bzw. wie sehr sich deren kulturelle Einstellungen in Hinblick auf Neurodiversität im Vergleich dazu unterscheiden.
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Dem Diagnostiksystem für psychische Störungen (DSM 5) zufolge sind circa 2,5 Prozent der erwachsenen Allgemeinbevölkerung von einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung betroffen, während laut einer weiteren repräsentativen Studie etwa 4,7 Prozent der erwachsenen Deutschen ADHS haben. Außerdem scheint es im Kindesalter mehr männliche als weibliche Betroffene zu geben. Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede sind bei Erwachsenen hingegen deutlich geringer bzw. beinahe ausgeglichen. Wie sich zeigt, nimmt die Anzahl der Fälle der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung außerdem seit Jahren stetig zu. Es ist nicht eindeutig, was die Gründe für diese Entwicklung sind. Kritiker:innen weisen aber darauf hin, dass Ärzt:innen heutzutage Patient:innen viel zu schnell mit ADHS diagnostizieren.
Im Gespräch mit Nord wird deutlich, dass einige der Gründe für die geschlechtsspezifische Diskrepanz bei der Diagnose sozial konstruiert sein könnten. Dazu gehört die Tatsache, dass die Kennzeichen neurodynamischer Vielfalt oft übermäßig auf äußere Faktoren ausgerichtet sind (sich bewusst quer stellen oder Streite anzetteln). Mädchen, die streng darauf konditioniert werden, diese Art von störendem Verhalten nicht an den Tag zu legen, lernen so möglicherweise, ihre ADHS besser zu verbergen. Unabhängig vom Geschlecht kann es schwieriger sein, eine Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung zu erkennen, wenn sie überwiegend internalisiert ist. „Die meisten ADHS-Forscher:innen haben erst in den 1990er Jahren damit begonnen, zu glauben, dass Frauen überhaupt von einer Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung betroffen sein können. Aus diesem Grund herrscht immer noch ein großer Nachholbedarf“, sagt Nord und fügt hinzu, dass es anderen unterrepräsentierten Gruppen, einschließlich queerer Menschen, ähnlich ergeht. „Ich denke, es gibt viele Verbindungen zwischen ADHS und Queerness: Wir müssen erkennen, dass das, was für die Mehrheit richtig ist, nicht unbedingt auch für uns richtig ist, und wir müssen unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen leben.“
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„Für Personen mit psychischen Problemen, die ausgegrenzt werden, zur Arbeiterschicht gehören und es mit einem System zu tun haben, das keine Zeit für sie hat, ist es eine Herausforderung, die nötige Hilfe zu erhalten, um zurechtzukommen“, fährt Nord fort. Denjenigen, bei denen vor Kurzem eine Diagnose gestellt wurde, empfiehlt Nord, gründlich zu recherchieren, was es in Sachen Unterstützung für Angebote gibt und wo sie zu finden ist, und empfiehlt außerdem das Buch ADHS ist kein Makel: Hilfreiche Strategien für Kinder und Erwachsene. Sie weist auch darauf hin, dass es Alternativen zur medikamentösen Behandlung gibt: „Manche Ärzt:innen verschreiben Medikamente und sagen, das sei die einzige Behandlungsmöglichkeit. In Wirklichkeit sind sie aber nur eine von vielen wichtigen Behandlungsformen.“
Die bei natürlichem Licht aufgenommenen Bilder von Nord sind schöne, intime Porträts von Personen mit ADHS in ihren Schlafzimmern, begleitet von ihren Zitaten und mäandernden Gedanken. „Ich habe alle darum gebeten, nicht aufzuräumen und alles so zu belassen, wie es ist, weil ich Dinge so einfangen wollte, wie sie wirklich sind; das Zimmer einer Person sagt so viel über sie aus“, erklärt sie. „Dieser Punkt war auch deshalb wichtig für mich, weil sich Betroffene oft dafür schämen, wie unordentlich sie sein können, und ich finde es interessant, zu sehen, wie jede einzelne Person damit umgeht.“ Nord ist sich dessen bewusst, wie wichtig es ist, die Menschen, die sie fotografiert, zuerst kennenzulernen. Aus diesem Grund verbringt sie die ersten ein bis zwei Stunden damit, sich mit den Porträtierten über ADHS zu unterhalten, bevor sie mit den Aufnahmen beginnt. Dabei nimmt sie die Gespräche auf.
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Neben ihren bisherigen Porträts hat Nord kürzlich den Podcast You & Me: Let's Talk About ADHD (ADHD, zu Deutsch: ADHS) herausgebracht. „Es machte einfach Sinn, die Gespräche, die ich führte, für ein breiteres Publikum zugänglich zu machen“, sagt Nord, „Das war ein ganz natürlicher nächster Schritt im Prozess.“ Der Podcast besteht fast ausschließlich aus Interviews, in denen Nord und ihre Gäst:innen offen über die verschiedenen Aspekte von ADHS sprechen – von der Erkrankung über die Diagnose bis hin zur Wertschätzung der Krankheit. Er hat sich zu einer unschätzbaren Ressource entwickelt. „Ich spreche darin mit vielen Menschen, die ich fotografiere, aber auch mit meiner Partnerin und bahnbrechenden Trans-Fotografin Heather Glazzard, und einem ADHS-Mentor mit 25 Jahren Erfahrung im Bereich der Diagnose. Alle zwei Wochen gibt es neue Folgen.“ Den Podcast kannst du dir auf der Website dieser Fotoserie sowie auf den meisten großen Podcast-Plattformen, einschließlich Spotify, anhören.
Für Nord war die Entstehung dieses Projekts mit dem Bau eines chaotischen, großen, schönen Hauses vergleichbar. „Es war wie ein Ort, an dem sich jede Person selbst finden kann – in den Ecken und Schubladen, in den Zimmern und manchmal auf dem Dach“, sinniert sie. Auf einer persönlichen Ebene hat sie gelernt, sich in eine neue Form der Selbstakzeptanz hineinzuversetzen, zu der sie vorher keinen Zugang hatte, worüber sie sich sehr freut. „Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse ist, dass ich mich wohlfühle, wenn ich über meine Neurodivergenz spreche und anderen von meinen Bedürfnissen nach Barrierefreiheit erzähle – egal, ob es sich dabei um eine:n Freund:in, meine Partnerin oder jemanden handelt, mit dem:der ich zusammenarbeite“, sagt sie. Letztendlich hofft sie, dass jene Menschen, die ihre Fotos sehen und den Podcast hören, erkennen, dass ADHS eine Gabe oder, besser noch, eine Superkraft ist. Letztendlich dient ihre Arbeit dazu, eine neue Gemeinschaft zu bilden. Gemeinschaften und der Austausch von Erfahrungen kann so heilsam sein, sagt sie. „Ich hoffe sehr stark, dass wir auf diese Weise mehr solche Geschichten zu hören bekommen und mehr Menschen einen Weg finden, sie zu teilen.“
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