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Deine Allergien sind außer Kontrolle? Vielleicht sind Mastzellen schuld

Foto: Pexels.
Die 34-jährige Krankenschwester Amy Lochtie saß gerade in einem Meeting über Infektionsbekämpfung, als sie zum ersten Mal eine Anaphylaxie erlebte – eine starke körperliche Reaktion, meist im Zusammenhang mit einer Allergie und potenziell lebensgefährlich. Nur konnte sich in ihrem Fall niemand erklären, was die Anaphylaxie ausgelöst hatte, obwohl sie in einem Krankenhaus arbeitete.
Nach drei anaphylaktischen Reaktionen innerhalb einer Woche wurde Amy schließlich stationär aufgenommen und daraufhin zwei Wochen lang mit einer Kombination aus Nebulisatoren, Steroiden und Antihistaminika behandelt, bevor sie entlassen und an eine Allergiefachklinik überwiesen wurde. Ohne erkennbaren Grund für diese lebensbedrohlichen Anfälle half das aber überhaupt nicht. „Niemand verstand wirklich, was mit mir los war, und in der Allergieklinik war es furchtbar“, erzählt Amy. „Ein Assistenzarzt meinte, ich hätte bloß eine Panikattacke und würde mir das alles nur einbilden. So nach dem Motto: ‚Es gibt keinen Grund dafür, warum das passiert, also lügst du offensichtlich.‘“ 
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Erst zwei Jahre später, als Amy einen sehr seltenen anaphylaktischen Schock nach einer Grippeimpfung entwickelte – die sie sich, als Krankenschwester, schon vorher problemlos jedes Jahr hatte spritzen lassen –, bekam sie endlich erste Antworten. Wegen ihres Schocks weigerten sich ihre Ärzt:innen nämlich, sie auch gegen Corona zu impfen. „Ich dachte, ich könnte nie wieder das Haus verlassen“, erinnert sie sich.
Vor lauter Verzweiflung wandte sich Amy an ihre örtliche Abgeordnete, die sie mit einem Immunologen in Kontakt brachte. „Der Immunologe war fantastisch. Er meinte: ‚Das ist doch absurd! Kommen Sie vorbei und wir finden raus, was da los ist.‘ Er schaffte es nicht nur, mich problemlos gegen Corona zu impfen, sondern lieferte mir auch meine Diagnose.“ 
Amy bekam schließlich die Diagnose Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS), eine kaum bekannte Erkrankung, die im ganzen Körper aufgrund einer überaktiven Immunreaktion Entzündungen auslösen kann.

Was sind Mastzellen?

Mastzellen sind eine Form der weißen Blutkörperchen, die im ganzen Körper zu finden sind, und spielen eine entscheidende Reaktion bei unserer Immunabwehr. Wenn sie normal funktionieren, reagieren Mastzellen auf Bedrohungen wie Bakterien, Parasiten, Viren, Stiche und Wunden, indem sie sogenannte Mastzell-Mediatoren ausschütten, die Entzündungen bekämpfen und die Heilung fördern sowie andere Zellen benachrichtigen.
Bei MCAS-Betroffenen werden die Mastzellen allerdings zu stark aktiviert oder reagieren auf Trigger, die normalerweise nicht als schädlich gelten – wie Duftstoffe, Sport, Stress, Vibrationen oder Temperaturveränderungen. Selbst dann, wenn die Heilung bereits erledigt ist, kehren die überaktiven Mastzellen bei dieser Krankheit nicht zu ihrem normalen Ruhezustand zurück. Stattdessen schütten sie ihre zahlreichen Chemikalien vielleicht weiter aus und halten das Immunsystem somit in konstanter (und anstrengender) Alarmbereitschaft.
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Das MCAS wurde erst vor relativ kurzer Zeit entdeckt: Der Name wurde erstmals 2007 verwendet, und die Kriterien für die Erkrankung wurden 2013 veröffentlicht – obwohl sich die medizinische Community bis heute noch nicht komplett darin einig ist, ab wann man als betroffen gilt, erklärt Dr. Emma Reinhold, ehemalige Allgemeinmedizinerin, Forscherin und klinische Beraterin zum Thema MCAS.
Aufgrund all dessen gibt es bisher nur sehr wenige Daten zum MCAS. Die wenigen Forschungsergebnisse, die schon vorliegen, lassen vermuten, dass Frauen und Menschen, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugeordnet wurde, deutlich öfter betroffen sind – tatsächlich sogar dreimal so häufig wie Männer. Die Medizin kann sich das aktuell noch nicht erklären.
„Fast alle meiner Patient:innen sind Frauen, aber ich bin mir nicht sicher, ob die Medizin schon viel darüber weiß, wieso das so ist“, erzählt auch die Hämatologin Dr. Bethan Myers. „Es gibt da eine hormonelle Verbindung, weil Mastzellen über Östrogen- und Progesteronrezeptoren verfügen. Ich glaube aber nicht, dass sich die Forschung damit bisher im Detail befasst hat.“

Mein MCAS entwickelt sich immer weiter. Manchmal reagiere ich sehr schlecht auf irgendwas und weiß dann nicht, wieso.

Sophia, 25
Was das Ganze noch komplizierter macht, ist die Tatsache, dass sich die Symptome des MCAS (Erschöpfung, niedriges Fieber und generelles Unwohlsein) einfach wie eine Erkältung oder Grippe anfühlen können. Noch verwirrender: Mastzellenhyperaktivität kann im ganzen Körper eine Vielzahl scheinbar zusammenhangsloser Symptome verursachen – beim Atmen, im Verdauungstrakt und im Gehirn –, sowie auch typische allergieähnliche Beschwerden wie eine verstopfte Nase, tränende Augen und Hautreaktionen wie Ausschläge, Schwellungen und Juckreiz. Frustrierenderweise können all diese Beschwerden jederzeit auftauchen und sich im Laufe der Zeit verändern.
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Auch die 25-jährige Sophia, die vor drei Jahren die Diagnose MCAS bekam, hat eine ganze Liste verschiedener Symptome. „Ich entwickle meist Reaktionen auf verschiedene Nahrungsmittel – dann bekomme ich Ausschlag – oder sehr starke allergische Symptome, wie Heuschnupfen hoch zehn. Noch dazu habe ich schweres Asthma. Diese Reaktionen beeinflussen also auch meine Fähigkeit zum Atmen, und deswegen lag ich schon oft auf der Intensivstation.“
Wegen ihrer Diagnose muss Sophia eine (immer länger werdende) Liste an Lebensmitteln vermeiden, inklusive Milchprodukte, Soja, und neuerdings auch Reismehl, das in vielen „Frei von…“-Lebensmitteln enthalten ist, die sie vorher oft aß, weil sie als „histaminarm“ gelten. „Mein MCAS entwickelt sich immer weiter“, sagt sie. „Manchmal reagiere ich sehr schlecht auf irgendwas und weiß dann nicht, wieso.“
Genau diese Unberechenbarkeit unterscheidet das MCAS von „normalen“ Allergien. „Bei Allergien kommt es zu einer anpassungsfähigen Immunreaktion auf ein spezifisches (Protein-)Allergen – eine durch vorherigen Kontakt ‚erlernte‘ Reaktion, die sich allerdings immer voraussagen lässt. Wenn zum Beispiel jemand mit einer Erdnussallergie in Kontakt zu Erdnüssen kommen, reagiert die Person darauf innerhalb von Sekunden oder Minuten“, erklärt Dr. Reinhold. „Beim MCAS kommt aber der angeborene, primitivere Teil des Immunsystems zum Einsatz. Dabei bestimmen mehrere Faktoren – inklusive der Hormone, des Stresspegels und anderer Trigger, denen du an diesem Tag ausgesetzt warst – die Reaktion der Mastzellen.“
Weil das MCAS eben so komplex und eine Multisystemerkrankung (den ganzen Körper betreffend) ist, lässt sich das Syndrom nur schwer diagnostizieren. Dazu kommen leider noch die großen Forschungs- und Datenlücken, die Schwierigkeit von MCAS-Tests und die Tatsache, dass viele Ärzt:innen davon bisher noch nicht einmal gehört haben. Das kann zum Teil mit seiner relativ kurz zurückliegenden Entdeckung zusammenhängen. Trotzdem liegt die Frage nahe, ob hierbei auch die Tatsache eine Rolle spielt, dass davon vorrangig Frauen betroffen sind – die, wie Amy, vielleicht als „hysterisch“ abgestempelt werden oder sich anhören müssen, sie würden es sich nur einbilden.
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Eine weitere häufige Verbindung ist Long-COVID. Einige Long-COVID-Betroffene beklagen sich unter anderem über MCAS-Symptome. Auch hierzu gibt es bisher nur wenige Forschungsergebnisse; eine kleine Studie fand aber eine „hohe Prävalenz“ von MCAS-Symptomen unter Long-COVID-Patient:innen. Das hat, laut Dr. Myers, zumindest dabei geholfen, das MCAS in der medizinischen Community bekannter zu machen – und könnte langfristig hoffentlich dazu führen, dass das Syndrom gründlicher erforscht wird.

Wie lässt sich das Mastzellaktivierungssyndrom behandeln?

Bis es aber soweit ist, geht es bei den Behandlungsoptionen – von Antihistaminika bis hin zu stärkeren Corticosteroiden – hauptsächlich um die Symptombewältigung, sagt Dr. Myers.
„Vielleicht verstehen wir das Syndrom in Zukunft besser und können dann auch genauer vorhersagen, welche Medikamente vermutlich am besten funktionieren. Bis dahin müssen wir aber weiterhin oft viel ausprobieren, um eine Lösung zu finden, die für die individuellen Patient:innen funktioniert“, ergänzt Dr. Reinhold.
Amy – die heute nicht mehr in der Klinik arbeitet – hat selbst schon diverse Behandlungsmethoden probiert. Heute lässt sie sich viermal die Woche eine Spritze verabreichen, die die Mastzellaktivierung unterdrückt. Vor allem musste sie aber lernen, eben mit dem MCAS zu leben, sagt sie.
„Ich habe einen anstrengenden Job und ein dreijähriges Kind. Es ist also immer unpraktisch, wenn ich eine Reaktion entwickle. Ich habe nicht die Zeit, um krank zu sein! Bei so einer Reaktion können andere aber wenigstens erkennen, dass es dir nicht gut geht, wenn du anschwillst oder überall Ausschlag kriegst“, sagt sie.
„Ich glaube, was dabei aber nicht klar ist, ist die Tatsache, dass dich dein Körper unterhalb dieser äußeren Symptome die ganze Zeit selbst angreift und dich das total erschöpft. Das sieht eben niemand, und du musst einfach weitermachen. Ich denke mir gerne, dass es meine persönliche Superkraft ist, dass ich nicht sterbe, obwohl mich mein Körper regelmäßig umzubringen versucht.“
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