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Das Absetzen der Pille ist für mich keine Option, also lasst mich in Ruhe

Design: Alexandra Koster.
Es ist 22:30 Uhr an einem Montagabend, als ich mich durch TikTok scrolle (und mir damit einen schlechten Schlaf quasi garantiere). Auf meiner For You Page tauchen die üblichen Videos auf: Matty Healy aus der Band The 1975 isst auf der Bühne rohes Fleisch; in pseudowissenschaftlichen Videos wird mir erklärt, wie ich meinen Reizdarm „heilen“ soll; und ein paar Swifties nehmen mich in die zweite Reihe eines Konzerts auf Taylor Swifts „Eras“-Tour mit.
Seit einiger Zeit hat sich zu dieser bunten Mischung aber auch ein neuer, unwillkommener Gast gesellt: Videos aus der Kategorie „PillTok“.
PillTok ist genau das, was du dahinter vermutest: eine Ecke von TikTok, in der Frauen, die die Anti-Baby-Pille abgesetzt haben, andere dazu aufrufen, dasselbe zu tun. In einigen dieser Videos geht es um all die Vorteile des Pillen-Verzichts, der oft als „die beste Entscheidung meines Lebens“ bezeichnet wird. „Das war f*cking lebensverändernd“, erzählt mir eine Person, die seit vier Wochen pillenfrei ist. In einem anderen TikTok verrät mir ein selbsternannter „Perioden-Coach“, „was dir deine Ärzt:innen nicht über die Pille gesagt haben“.
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Diese Videos sind gerade überall und wollen uns einreden, die Pille sei für unsere Körper extrem schädlich. „Das sind einige potenzielle gesundheitliche Risiken“, sagt eine Creator, bevor sie eine lange Liste von Nebenwirkungen runterrattert. „Hormonelle Beschwerden wie unregelmäßige, kurze oder schwere Periodenblutungen, Untfruchtbarkeit, Verdauungsprobleme, durchlässige Darmwände, entzündliche Darmerkrankungen.“ Und zack, schon ist sie da, die neue Ära der Pillen-Panik.
Wie viele andere Verschwörungstheorien in den sozialen Medien setzt sich auch diese gerade durch, weil sie einer gewissen Logik und Wahrheit entspringt. Manche Nebenwirkungen der Pille, wie Stimmungsschwankungen und empfindliche Brüste, sind gründlich dokumentiert. Dasselbe gilt für ein gesteigertes Thromboserisiko in sehr seltenen Fällen. Genau deswegen ist die Pille ja auch verschreibungspflichtig.
Obwohl bestimmte Bedenken rund um die Anti-Baby-Pille also durchaus gerechtfertigt sind (und wir dürfen uns bitte um alle Medikamente Gedanken machen, die wir in unsere Körper aufnehmen!), hat sich diese Angst auf TikTok zu einer fast schon holistischen Hetzkampagne entwickelt, in der „natürlich“ über alles geht. Und obwohl Beauty- oder Bodyshaming auf der Plattform schnell kritisiert und verurteilt werden, wird das „Pillshaming“ derjenigen, die die Pille weiterhin einnehmen, gerade zu einer Art Trend – und das ohne große Fakten-Checks.
Natürlich freut sich kaum jemand darüber, irgendein Medikament einzunehmen oder gar einnehmen zu müssen. Und dennoch: Einige von uns können diese Medikamente einfach nicht absetzen.
Lass mich dir eine kleine Geschichte erzählen. Als ich 20 Jahre alt war, wurde ich mit heftigen Schmerzen im Beckenbereich ins Krankenhaus gebraucht – und solche Schmerzen hatte ich davor noch nie erlebt. Nachdem ich zu Hause stundenlang zusammengekauert darauf gewartet hatte, dass sie nachließen, entschied sich meine Mutter endlich dazu, mich in die Notaufnahme zu bringen. Es stellte sich heraus, dass bei mir eine Eierstockzyste geplatzt war. Eine Ultraschalluntersuchung ergab, dass ich noch dazu eine andere Zyste im Unterleib hatte, die so groß war wie eine Orange und kurz vorm Platzen stand. Sie musste operativ entfernt werden.
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Wir tauften diese Phase meines Lebens liebevoll die „Ära der explodierenden Eierstöcke“, und ich musste mich an eine neue Diagnose gewöhnen, die erklärte, was in meinem Körper passierte: Ich hatte das polyzystische Ovarsyndrom (PCOS). Wie andere Betroffene wissen, lässt sich PCOS kaum kontrollieren. Es gibt kein Heilmittel – doch kommt schon seit Langem die Anti-Baby-Pille (dank ihrer Mischung aus Östrogen und Progesteron) bei der PCOS-Behandlung zum Einsatz, weil sie dabei helfen kann, das hormonelle Ungleichgewicht zu regulieren, das mit dem Syndrom einhergeht.
Demnach ist meine Langzeitbeziehung zur Pille die längste, die ich bisher hatte. Die Pille beseitigte das überschüssige Haarwachstum, das mir das PCOS beschert hatte (und vor allem meinen Oberlippenbart, der für mich schon seit der 10. Klasse ein sensibles Thema gewesen war, als ein Junge einen Kommentar dazu abgelassen hatte). Die Pille schenkte mir reine Haut und volles, glänzendes Haar – ein willkommener Nebeneffekt des neuen Hormon-Cocktails, der mir durch die Venen schoss. Und vor allem gewährte mir die Pille ein Leben, das nicht voller lähmender Schmerzen oder Sorgen darüber war, wann wohl die nächste orangengroße Zyste auftauchen und explodieren würde. Für mich war die Pille nicht bloß eine spontane Idee, sondern eine gesundheitliche Entscheidung, die sich drastisch auf meinen Alltag auswirkte.
Natürlich bin ich nicht die Einzige, die der Pille einen Großteil der eigenen Lebensqualität zu verdanken hat. Es besteht kein Zweifel, dass die Erfindung der Pille das Zeitalter der sexuellen Freiheit von Frauen einleitete; eine kleine, informelle Umfrage im Refinery29-Büro ergab aber auch, dass viele Leute die Pille aus einem Grund nehmen, der mit Verhütung nichts zu tun hat. Akne ist ganz vorn mit dabei. Viele der Frauen in unserem Büro fingen im Teenager-Alter mit der Einnahme an, um ihre Hautprobleme in den Griff zu bekommen, ohne dabei die Nebenwirkungen stärkerer Akne-Medikamente ertragen zu müssen. Andere entschieden sich für die Pille, um ihre heftigen Menstruationsbeschwerden zu reduzieren – wie Übelkeit, Schmerzen oder andere Abnormalitäten. Eine Mitarbeiterin gab an, die Pille einzunehmen, um mit den Symptomen nach einer Endometriose-OP klarzukommen. Seitdem wurde ihre gesundheitliche Entscheidung aber von vielen hinterfragt. Einmal fragte sie jemand sogar: „Aber du bist doch lesbisch, warum brauchst du dann ein Verhütungsmittel?“
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Für viele ist die Entscheidung zur Pille keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit.

Obwohl das sicher ein extremes Beispiel ist, ist das nur eine Form der endlosen Fragen, die viele Frauen während der Einnahme der Pille immer wieder gestellt bekommen – vor allem im Zeitalter der Pillen-Panik auf Social-Media-Plattformen wie TikTok. Der Unterton vieler Anti-Pillen-Videos ist klar: Sie suggerieren, die Pille habe zu viele Nachteile, und es gäbe ja Alternativen. Für manche von uns gibt es die aber eben nicht. Die Pillen-Panik geht davon aus, jede:r habe den Luxus, sich für oder gegen die Pille zu entscheiden; dass wir sie nur als Bonus zu unserem Sexleben einnehmen würden. Für viele ist die Entscheidung zur Pille aber eben keine Wahl, sondern eine Notwendigkeit.
Mit der Pillen-Panik geht ein großes Privileg einher: Nur manche Körper haben wirklich die Option, pillenfrei leben zu können. Einige von uns können sich das aber nicht mal erhoffen. Jedes Mal, wenn ich durch Zufall über ein PillTok-Video stolpere, kann ich nicht anders, als mich zu fragen, ob diese Person wirklich nur aus Sorge die „dunkle Seite“ der Pille teilt – oder ob da nicht doch ein Hauch Elitedenken mitschwingt. Immerhin ist es naiv, zu denken, jede:r könne die Pille einfach so absetzen. Glaub mir: Ich hab’s selbst schon versucht.
Weil sich ein großer Teil der Pillen-Panik auf die negativen Nebenwirkungen der Pille sowie auf die Freiheit eines Lebens ohne Pille fokussiert, bringen mich diese Videos ins Grübeln. Jedes Mal, wenn ich TikTok öffne, erklärt mir dort irgendjemand anderes, ich würde durch der Pilleneinnahme riskieren, unfruchtbar zu werden. Dass die Pille meine Persönlichkeit verändern würde und mich davon abhielte, mein wahres Ich zu kennen. Ich weiß aber auch: Als ich versuchte, die Pille abzusetzen, fiel mir mein Haar plötzlich büschelweise aus, ich entwickelte zystische Akne und riskierte laut meiner Gynäkologin, wieder eine „Ära der explodierenden Eierstöcke“ zu erleben.
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Jedes Mal, wenn ein weiteres PillTok-Video in meinem Feed auftaucht, zwingt mich dieses Video zu psychologischer Gymnastik. Ich muss damit klarkommen, indirekt dafür beschämt zu werden, eine gesundheitliche Entscheidung zu treffen – die für mich aber nicht optional, und somit keine echte Entscheidung ist. 
Ich habe es satt, vom pillenfreien Erfolg anderer Leute zu hören, die mir herablassend und mit falscher Empathie erzählen, ich solle es ihnen gleichtun. Es macht mich wütend, andauernd daran erinnert zu werden, wie sehr die Pille meinem Körper schadet, obwohl ich keine wirkliche Alternative habe. Mir reicht es mit der Pillen-Panik. Denn die gibt mir ein schlechteres Gefühl als die Pille selbst.
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