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Warum Aufgeben manchmal gut ist

Photographed by Rochelle Brock.
Ich war noch nie jemand, die schnell aufgibt. Damit will ich nicht angeben: Ich gebe mich viel zu lange mit beschissenen Jobs zufrieden, mache nicht Schluss, wenn Beziehungen eigentlich bereits ihr Ablaufdatum erreicht haben und verschwende so viel Zeit damit, mich anderen sinnlosen Verpflichtungen zu widmen, die mir nicht mehr dienlich sind. Ich ziehe Dinge durch, auch wenn alles darauf hindeutet, dass ich es nicht tun sollte. Das ist ein echter Fluch und hat für viel unerwünschtes Drama in meinem Leben gesorgt. Wenn ich mich dann aber frage, warum es mir so verdammt schwerfällt, mich von bestimmten Menschen zu trennen oder in speziellen Situationen die Flinte ins Korn zu werfen, ist meine einzige Antwort darauf, dass ich Angst habe. Nicht davor, dass ich etwas Gutes verlieren könnte, sondern davor, dass ich als „Aufgeberin“ abgestempelt werden könnte.
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Dr. Ellen Hendriksen, klinische Psychologin der Bostoner Universität und Autorin von How to Be Yourself: Quiet Your Inner Critic and Rise Above Social Anxiety, erklärt Folgendes zu diesem Thema: Sie sagt, dass die Angst vorm Aufgeben oft mit etwas zusammenhängt, das Psycholog:innen als „Fehlschluss der irreversiblen Kosten“ bezeichnen. Dieser Begriff bezieht sich auf unsere Tendenz, ein Verhalten fortzusetzen oder in einer Situation zu bleiben, da wir bereits erhebliche, unwiederbringliche Anstrengungen in eine Sache oder Beziehung investiert haben. Wenn du beispielsweise nicht erstattungsfähige Flugtickets für eine Urlaubsreise hast und dir dann kurz vor der Reise ein Bein brichst, würdest du wahrscheinlich die „irreversiblen Kosten“, also den Preis der Tickets, bei der Entscheidung berücksichtigen, ob du die Reise dennoch antreten solltest. Das Geld für die Tickets ist so oder so weg. Deshalb könnte es mehr Sinn ergeben, dir zu überlegen, ob du den Trip mit gebrochenem Bein auch tatsächlich genießen könntest. Außerdem würden in diesem Fall zusätzliche Kosten vor Ort anfallen (für Transport, Essen und Unterhaltung).
Das Konzept des Fehlschlusses der irreversiblen Kosten kann sich sowohl auf persönliche als auch auf finanzielle Situationen beziehen. Vielleicht möchtest du ja mit jemandem Schluss machen, zögerst aber, weil ihr schon so lange zusammen seid. Du willst schließlich nicht, dass all die vielen Monate oder Jahre, die du bereits investiert hast, „umsonst“ waren. Das gleiche Prinzip kann auch auf die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz angewendet werden. Möglicherwiese bleibst du in deiner Position und rechtfertigst dein Verhalten damit, dass du all die Mühe und Zeit, die nötig waren, um so weit zu kommen, nicht vergeuden willst. Da du aber bereits Zeit und Mühe aufgewandt hast, handelt es sich dabei um irreversible Kosten. Schau also lieber nach vorn: Wenn du das Geld, die Zeit oder die Energie, die du bisher in eine Situation gesteckt hast, beiseite lässt, macht es dann überhaupt noch Sinn, ein weiteres Jahr mit jemandem zu verbringen oder etwas zu tun, das dich nicht erfüllt?
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Die Angst davor, die Flinte ins Korn zu werfen, könnte also mit der Angst, irreversible Kosten zu „verschwenden“, zusammenhängen. Sie lässt sich aber auch auf die einfache Angst vor Veränderungen zurückführen, die viele von uns im einen oder anderen Maße verspüren. „Unabhängig von der jeweiligen Interpretation ist es eine natürliche menschliche Tendenz, das fortzusetzen, was wir bisher getan haben“, sagt Dr. Hendriksen. „Veränderungen an sich können schon beängstigend sein. Anstatt aufzugeben oder eine andere Art von Veränderung vorzunehmen, ziehen wir oft Beständigkeit vor, selbst wenn eine Situation nicht gut für uns oder unangenehm ist.“ Wenn du beispielsweise mit dem Gedanken spielst, deinen Job zu kündigen, machst du dir vielleicht Sorgen darüber, dass du eine neue Stelle möglicherweise genauso wenig mögen würdest. Vielleicht redest du dir auch ein, dass es besser ist, dich mit einer mittelmäßigen Situation, die dir dafür aber vertraut ist, zufriedenzugeben, als Neuland zu betreten und ein Risiko einzugehen.
Was die Angst davor betrifft, als Aufgeber:in abgestempelt zu werden, so herrscht häufig der Glaube vor, dass durch harte Arbeit alles erreicht werden kann. „Ganz nach dem Motto: ‚Du kämpfst, erleidest irgendwann Rückschläge, aber gehst am Ende schließlich siegreich hervor‘“, sagt Dr. Hendriksen. „Manchmal ist das eben nicht der Fall.“
Ob es nun an meiner Erziehung, dem Fehlschluss der irreversiblen Kosten, der Angst vor Veränderung oder einer Kombination aus allen drei Faktoren ist, irgendwann habe ich scheinbar damit angefangen, Aufgeben mit Versagen gleichzusetzen. Glücklicherweise gibt es laut Dr. Hendriksen Möglichkeiten, diese Denkweise zu ändern. Sie schlägt vor, dich zunächst einmal selbst zu fragen: „Wer beobachtet tatsächlich meinen beruflichen Werdegang und beurteilt meine Karriereentscheidungen? Wer macht sich eigentlich Sorgen darüber, ob ich mit meinem Langzeitpartner oder meiner Langzeitpartnerin zusammenbleibe oder nicht?“
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Manchmal fühlt sich Angst so an, als ob eine dunkle Gestalt über unseren Schultern lauert und jede unserer Bewegungen als falsch oder peinlich beurteilt. Manchmal kommt dieses Gefühl aber eher von innen als von außen. Nehmen wir an, ich melde mich bei einem Sportteam für Erwachsene an, erzähle all meinen Freund:innen davon und stelle dann nach zwei Spielen fest, dass ich das Ganze hasse und aufhören möchte. Mein Kopf sagt mir: „Sei keine Aufgeberin.“ Wer denkt aber wirklich so über mich? Meine Freund:innen urteilen jedenfalls nicht darüber, was ich in meiner Freizeit mache. Sollten sie mich aber trotzdem für eine Aufgeberin halten, stellen sich folgende Fragen: „Was ist mir wichtiger, glücklich zu sein oder ihnen das Gegenteil zu beweisen? Wenn nur ich denke, dass ich eine Aufgeberin bin, kann ich dann diesen Gedanken ändern? Warum sehe ich mich nicht als abenteuerlustig und flexibel an? Immerhin traue ich mich, etwas Neues ausprobieren.“ Durch gedankliche Umkehrung wird das Aufgeben einfacher und kann sich sogar befreiend anfühlen.
Wenn du eigentlich keine Angst davor hast, jemanden in deinem Leben zu enttäuschen, solltest du dir trotzdem folgende Fragen stellen: „Was genau, glaube ich, wird wirklich passieren, wenn ich mit dieser Sache aufhöre? Ist das überhaupt ein realistischer Gedanke?“ „Wir können herausfinden, weshalb wir uns vor dem Handtuchwerfen fürchten, und unsere Überzeugungen oder Wahrnehmungen in Frage stellen oder trotz unserer Angst oder Unsicherheit aktiv werden“, sagt Dr. Hendriksen.
Für mich ist ein:e „Aufgeber:in“ eine Person, die keine Kontrolle über ihre eigene Zukunft hat. Im wirklichen Leben hat mir die Erfahrung des Aufgebens jedoch gezeigt, dass ich so mehr Einfluss auf mein zukünftiges Leben habe.
Dr. Hendriksen meint zwar, dass es gut sei, sich von Dingen zu trennen, die einem nicht mehr dienlich sind, warnt aber vor der schlechten Form von Aufgeben, die für gewöhnlich impulsiv und nicht gut durchdacht ist, wie z. B. eine spontane und wütende Kündigung, ohne ein Finanzpolster parat zu haben. „Wenn eine Entscheidung sowohl vernünftig als auch richtig erscheint, dann handelt es sich dabei meiner Meinung nach um eine gute Art von Aufgeben“, sagt sie. Sie weist auch darauf hin, dass die Frage, ob du etwas beenden solltest oder nicht, in der Regel schwieriger ist als der Akt und die Folgen des Beendens. „Normalerweise fühlen wir uns dann am schlechtesten, bevor wir eine Entscheidung treffen oder etwas tun. Sobald der Beschluss getroffen ist, fühlen wir uns oft weniger ängstlich, weil wir dann mehr Kontrolle über die Situation haben“, sagt sie. „Es ist entschieden. Wir denken also nicht mehr länger über mögliche Szenarien nach und hören auf, zu grübeln. Stattdessen sind wir mitten im Moment und können aktiv werden.“
Wenn du also gerade nicht weiterweißt, hat Dr. Hendriksen folgenden Ratschlag: Wir bedauern oft das, was wir nicht tun. Wenn du also eine Beziehung, einen Job oder eine andere Situation, die dich auslaugt, beenden willst, solltest du dich fragen, was dich wirklich davon abhält. Es könnte nämlich sein, dass der Strohhalm, an den du dich gerade klammerst, viel dünner ist, als du denkst.
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