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Warum ich es bereue, mein Leben aufgegeben zu haben, um ins „Paradies“ zu ziehen

Foto: Getty Images
Wer hat ihn nicht schon mal geträumt, diesen Traum. Alles hinschmeißen, sich von allen Pflichten verabschieden und einfach auf eine einsame Insel auswandern. Den ganzen Tag Cocktails aus Kokosnüssen trinken und ganz sicher niemals wieder Schuhe tragen. Tschüss, Großstadt! Auf Nimmerwiedersehen, Stress! Adieu, völlig aussichtslose Wohnungssuche und: Bye bye, 80-Stunden-Woche!
Für die meisten von uns bleibt das einfach nur eine Fantasie in schlechten Tagen. Ich allerdings habe es gewagt und kann sagen: Auch wenn es die unglaublichsten sechs Monate meines Lebens waren, war ich am Ende froh, als ich zu all meinen früheren Problemen wieder zurückkehren durfte.
Ich war schon immer eine typische New Yorkerin. Workaholic durch und durch. Lange Tage im Büro, die Gedanken immer bei der Arbeit und kaum Privatleben. Damals, 2003, arbeitete ich als Jungredakteurin bei style.com und war mitten in einer Quarter-Life-Crisis angekommen, was mir zum damaligen Zeitpunkt allerdings noch gar nicht bewusst war. Ich wollte einfach etwas anderes, irgendwas ändern, am besten alles. Dadurch, dachte ich, würde sich mein Leben wie durch Zauberhand plötzlich verbessern.
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Anstatt mich auf eine passende Therapie einzulassen, die vielleicht eine bessere Wahl gewesen wäre, kündigte ich meinen Job und zog Hals über Kopf nach Mal Pais in Costa Rica. Dort hatte ich sechs Monate zuvor bereits meinen Urlaub verbracht und seitdem war der Platz ein absoluter Sehnsuchtsort von mir geworden. Ich bewunderte, wie entspannt alle dort gewesen waren. Stress gab es einfach nicht, alle schienen glücklich und ich fragte mich immer öfter, ob ich dort eventuell genauso zufrieden und stressfrei leben könnte.
Im Dezember 2003 fand ich mich also am Flughafen wieder, im Gepäck ein One-Way-Ticket ins Paradies. Ich hatte fast alles verkauft, außer meiner Bücher, die ich bei meinen Eltern verstaut hatte, mein Handy hatte ich verschenkt und meine Besitztümer auf zwei Koffer verteilt. Das meiste davon waren Klamotten, ein paar DVDs und Handtücher.

Mein Vater hielt mich für verrückt und war der Meinung, ich sei im Begriff, mein Leben wegzuwerfen.

Meine Eltern konnten mich überhaupt nicht verstehen: „Da sind wir aus einem Dritte-Welt-Land ausgewandert, damit du es einmal besser haben kannst und dann willst du dahin zurück?“ Ich versuchte sie von den schönen Seiten Costa Ricas zu überzeugen – dem tollen Gesundheitssystem, dem Ökotourismus, oder dass es in Costa Rica bereits seit 1948 kein Militär mehr gab – aber nichts half, mein Vater hielt mich für verrückt und war der Meinung, ich sei im Begriff, mein Leben wegzuwerfen.
Für mich aber gab es kein Zurück mehr und das ziemlich buchstäblich, denn ich hatte bereits alle Zelte abgebrochen. Ich brauchte eine Veränderung und diese sollte einen Strand beinhalten. Natürlich hatte ich Angst vor dem, was vor mir lag, aber das Abenteuer begann.
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Recht schnell bekam ich einen Job in dem Hotel, in dem ich zuvor Urlaub gemacht hatte. Ich arbeitete an der Bar, an der Rezeption oder einfach als Kellnerin. Egal, was es zu tun gab, ich war zur Stelle. Als Barkeeperin war ich ziemlich gut, allerdings war ich eine miserable Kellnerin. Aber auch wenn häufiger etwas schief ging, für die Gäste schien es nicht weiter wichtig zu sein, sie waren einfach nur fasziniert von der Großstädterin, die alles aufgegeben hatte, um ihren Traum im Paradies zu leben. Auch mein Chef war sehr entspannt – er war meist schon glücklich, dass ich einfach nicht high war.
Ich hatte ein kleines Häuschen gemietet im Nachbarort Santa Teresa. Es war klein aber gemütlich, das Badezimmer, sowie das Schlafzimmer waren überdacht, nur zum kochen musste man in die kleine Küche nach draußen gehen. Ich fand es großartig, in der Natur zu sein und während ich meinen Kaffee trank, den Affen beim Spielen zuzusehen. Ich liebte mein kleines Paradies. Kein Handy zu haben machte mich glücklich und die Auswanderer, ein Mix aus Europäer*innen, Afrikaner*innen, Australier*innen und Südamerikaner*innen, die ich während meines Aufenthaltes traf, waren wahrscheinlich die außergewöhnlichsten Begegnungen meines Lebens. Alle verbrachten, entspannt und ohne Stress, Zeit miteinander und auf fast jede Frage bekam man die gleiche Antwort: „Pura Vida – Leben Pur!“

Ich lebte zwar im Paradies, aber das Leben war alles andere als perfekt.

Damals war mein Plan auf lange Sicht, etwas Geld zu sparen um Land zu kaufen und dann ein eigenes Hotel oder eine eigene Bar zu eröffnen. Bald musste ich jedoch lernen, dass höchstens eine Handvoll Bars in der Gegend eine echte Lizenz hatten und alle anderen illegal geführt wurden. Inklusive der, in der ich arbeitete (vielleicht hat sich das seit 2003 geändert).
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Um sich irgendetwas aufzubauen, musste man also genau wissen, wer zu bestechen war. Ich war mir nicht sicher, ob das für mich in Frage kommen würde. Je mehr Zeit verging, desto unsicherer wurde ich, was das Leben in Costa Rica anging.
Ich lebte zwar im Paradies, aber das Leben war alles andere als perfekt. Für ein verschlafenes Surfer-Eldorado, gab es hier erstaunlich wenig Gras und erstaunlich viel Kokain. Einige meiner Freund*innen schliefen mit jedem Touristen und jeder Touristin, die in den Ort kamen. Legendär waren auch die Streitgespräche zwischen meiner Chefin und ihrem Freund. Eine Bekannte von mir arbeitete als Drogenkurier, ein anderer Freund starb an einem Herzinfarkt. In Wirklichkeit waren sie eben nicht die super entspannten Leute, ohne jegliche Probleme, sondern hatten genauso mit dem Leben zu kämpfen, wie ich.
Nach sechs Monaten kam ich zu dem Schluss, dass mein erträumtes Leben doch nicht so idyllisch war, wie ich es mir erhofft hatte. Ich wurde der immer gleichen Gespräche müde und konnte die sich ewig wiederholenden Musikplaylisten der Bar nicht mehr ertragen. Ich vermisste echte Unterhaltungen und echtes Interesse an meiner Person. Seit meiner Ankunft hatte ich kaum Zeitungen gelesen, geschweige denn die Nachrichten gesehen. Sich so völlig abgeschnitten zu fühlen fing an, mich verrückt zu machen.

12 Jahre später kann ich ehrlich sagen, dass ich immerhin eine sehr wichtige Lektion lernen durfte: Vor den meisten Problemen lässt sich nicht einfach davonlaufen.

Im Mai dann, zu Beginn der Regenzeit, musste ich mich entscheiden, ob ich bleiben oder meinen Aufenthalt abbrechen würde, um nach New York zurück zu gehen. Ich ging nach Chicago. Ich war noch nicht bereit nach Hause zurückzukehren, aber immerhin in die Nähe davon. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis ich schließlich wieder nach New York zog, wo zu meinem Glück meine Karriere auf mich gewartet hatte und ich somit dort weitermachen konnte, wo ich zuvor aufgehört hatte.
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War es das wirklich wert? Na klar. Es war eine Auszeit, die ich damals dringend brauchte. Ich hatte direkt nach der Uni angefangen zu arbeiten und stieg sofort in eine 60-Stunden-Woche ein. Im Nachhinein wünschte ich aber, ich hätte etwas Sinnvolleres mit der Zeit angefangen. Vielleicht etwas gemacht, dass eine größere Veränderung bedeutet hätte.
Würde ich den Schritt weiterempfehlen? Schon, aber man sollte sich im Vorfeld klar machen, dass man sich selbst – und all die persönlichen Konflikte, die das mit sich bringt – immer mitnimmt, egal wo man hingeht. Es sind mittlerweile über zwölf Jahre vergangen, seitdem ich meine Auszeit genommen habe, und ich kann ehrlich sagen, dass ich zwar nicht das ausleben konnte, was ich mir erhofft habe, dafür aber eine sehr wichtige Lektion lernen durfte: Vor den meisten Problemen lässt sich eben nicht einfach davonlaufen.
Im Moment stehe ich ein weiteres Mal vor einer großen Veränderung, aber diesmal begegne ich der Angst ganz anders. Auch wenn ich mich am liebsten davon machen möchte, weiß ich, dass das am Ende nicht möglich ist. Ich mag nicht mehr ganz so mutig sein wie damals, aber heute weiß ich etwas, das das Mädchen von damals nicht gewusst hat: Ich kann alles schaffen, jede Widrigkeit durchstehen, die mir das Leben in den Weg stellt. Manchmal muss man sich einfach kurz zurücklehnen und tief durchatmen, wenn der Stress droht, dich zu überrrennen. Und ein leckerer Cocktail in der Hand wird dabei schon nicht schaden.
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