Als Tina*, 33, ihren Job als Social Media Director bei einem Start-up in Washington D.C. begann, war sie direkt auf einer Wellenlänge mit ihrer Chefin – nennen wir sie Sarah. Sarah war freundlich und lustig und die beiden Frauen fühlten sich auf Anhieb verbunden, weil sie die einzigen schwarzen Frauen im Unternehmen waren. „Wenn sie einen Raum betrat, erhellte sie ihn; ihre Energie war ansteckend“, erzählte mir Tina. Aber irgendwann sorgte Sarahs Verhalten bei ihr für ein ungutes Gefühl in der Magengegend.
Als Tina gerade mal ein paar Wochen in der Company arbeitete, fing Sarah an, sie nach Feierabend anzurufen, um Dampf abzulassen – „anfangs nur über die Arbeit, später auch über Privates.“ Erst war das vollkommen in Ordnung für sie, denn schließlich wollte sie sich ja auch mit ihrer neuen Chefin gutstellen. Aber dann wurde es unangenehm: „Sie rief mich oft an, um über ihre Vorgesetzten oder ihre Angestellten zu lästern, die sie nicht leiden konnte. Einmal meinte sie sogar, sie würde gern eine ihrer Kolleginnen aus dem Unternehmen drängen, wüsste aber nicht wie“. Es dauerte nicht lange, da wurde Tina klar, dass hier irgendetwas nicht stimmt.
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Genau wie Tina versuchen viele Menschen, eine Beziehung zu ihrer Chefin oder ihrem Chef aufzubauen – aber das ist manchmal gar keine so gute Idee. Auf der einen Seite kann eine tiefe freundschaftliche Beziehung der Karriere helfen und zu besserer Kommunikation und Zusammenarbeit führen. Auf der anderen Seite kann es zum Problem werden, wenn die Grenzen zwischen professionellen und privaten Beziehungen verschwimmen. Deswegen stellt sich die Frage: Wo genau solltest du die Grenze ziehen? Kann eine Beziehung zu einer oder einem Vorgesetzten zu eng sein?
2018 führte die Olivet Nazarene University eine Studie mit 3000 Personen durch, um die neuen Normen der Beziehungen zwischen Chef*in und Angestellten zu identifizieren. Das Ergebnis: Eine von drei Angestellten hat ihren oder seinen Boss schon mal um einen persönlichen Rat gebeten und einer von vier aller Befragten hat mit ihrem oder seinem Manager schon mal privat Zeit verbracht. Auch, wenn die Untersuchung zeigte, dass sich ein bestimmtes Level an Intimität (dazu zählt beispielsweise, dass man die Partnerin oder den Partner und die Kinder des anderen kennenlernt) positiv auf die Zufriedenheit der Mitarbeiterin oder des Mitarbeiters auswirken kann, ist das nicht immer der Fall.
Auch die 29-jährige Juliane* freundete sich schnell mit ihrer Chefin bei einer Tech-Firma in Austin, Texas, an. „Sie ludt mich und den Rest des Teams oft in ihr Haus ein für gemeinsame Abendessen oder Partys“, erinnert sie sich. Außerdem trafen sich die beiden manchmal auch nur zu zweit. Bei diesen One-on-Ones begann ihre Chefin irgendwann, von queeren Beziehungen zu erzählen, die sie in der Vergangenheit hatte. Juliane, die sich selbst als queer identifiziert, war es allerdings unangenehm, mit ihrer neuen Vorgesetzten darüber zu sprechen. „Es war, als würde sie hoffen, eine enge freundschaftliche Beziehung aufbauen zu können, in dem sie unsere Queerness thematisiert.“ Und das war nicht das einzige Mal, dass Juliane sich wegen des Verhaltens ihrer Chefin unwohl fühlte: „Manchmal arbeitete sie von zuhause und führte Video-Konferenzen mit uns, bei denen sie auf ihrem Bett saß – und neben ihr lag ihr schlafender, oberkörperfreier Partner“.
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Auch wenn Tinas und Julianes Erfahrungen mit ihren Vorgesetzten zum Teil alles andere als positiv waren, gibt es aber auch Beziehungen, die anders aussehen. Senior Account Executive Abby, 29, freundete sich beispielsweise auch mit ihrer Chefin an, was sicher nicht zuletzt an den flachen Hierarchien in der PR-Agentur lag. Die beiden brunchten am Wochenende und machten sogar zusammen Urlaub! Sowohl bei beruflichen als auch bei privaten Herausforderungen halfen sie einander. Aber die beiden setzten auch von Anfang an Grenzen fest: „Wir waren beide der Meinung, unsere Freundschaft darf keinen Einfluss auf unsere Karriere haben“.
Laut Abby half die Freundschaft mit ihrer Chefin ihr dabei, produktiver und effektiver zu arbeiten. „Auch, wenn es für manche Menschen so etwas wie eine „zu enge“ Beziehung gibt, war das bei mir nicht der Fall“, erzählt sie und ergänzt, dass die beiden super ehrlich, offen und respektvoll miteinander umgingen. So, wie es gute Freund*innen eben machen sollten. „Unsere Freundschaft sorgte dafür, dass wir besser zusammenarbeiten konnten. In den Projekten, die wir gemeinsam betreuten, konnten wir dadurch am Ende bessere Ergebnisse erzielen.“
Welche Art von Beziehung zur Chefin oder zum Chef als angemessen empfunden wird und welche nicht, variiert von Person zu Person. „Solange sich beide wohl mit der Beziehung fühlen, ist es okay“, sagt Ariel Schur, CEO und Gründerin von ABS Staffing Solutions. Ariel begann ihrer Karriere als Beraterin für ein Employee Assistance Program und auch sie war schon mal mit einer Chefin befreundet. Auch wenn es sich bei ihr um eine gesunde Freundschaft handelte, sagt sie, es kann natürlich auch anders laufen. „Manche haben vielleicht das Gefühl, ihr*e Vorgesetzte*r würde sie zu oft kontaktieren und empfinden das als störend, wenn sie nach Feierabend einfach nur abschalten wollen. Außerdem kann es auch schwierig sein, mit der Chefin oder dem Chef in den sozialen Medien befreundet zu sein – nicht jede*r möchte, dass der Boss weiß, was man nach der Arbeit oder am Wochenende unternimmt“, so Ariel. Und genau deswegen rät sie, sich genau zu überlegen, welche Art von Beziehung für dich richtig anfühlt und das von Anfang an auch klar zu kommunizieren. „Wenn ihr keine klaren Grenzen setzt oder euch nicht wirklich an sie haltet, kann es schnell dazu kommen, dass ihr sie überschreitet“, warnt Ariel. Allerdings ist das aber manchmal leichter gesagt als getan – besonders bei Jobs, die sehr viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen. „Wir verbringen 40 Stunden oder sogar mehr am Schreibtisch. Da ist es ganz natürlich, dass wir uns nach einem Gefühl der Verbundenheit mit unserer Chefin oder unserem Chef sehnen.“
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Abgesehen vom Grenzen setzen empfiehlt Ariel, auf das eigene Bauchgefühl zu hören. „Wenn sich etwas komisch anfühlt, solltest du das nicht ignorieren“, sagt sie. „Hab keine Angst davor, den Mund aufzumachen und rede dir nicht selbst ein, du “verdienst“ es aus irgendeinem Grund.“ Oder anders gesagt: Es ist nicht automatisch deine Schuld, wenn sich die anfänglich freundschaftliche Beziehung in eine eigenartige oder gefährliche Richtung entwickelt. Also halte die Augen offen, um nicht versehentlich in einer ungleichen oder gar toxischen Beziehung zu landen.
Tina ist übrigens erst aus der Situation rausgekommen, als ihre Chefin umzog, nachdem mehrere Angestellte sie wegen unangebrachtem Verhalten gemeldet hatten. Ganz abschließen kann sie aber trotzdem immer noch nicht mit der Geschichte: „Es ist naiv, anzunehmen, dass dein*e Chef*in unterstützend und professionell ist und ein*e gute*r Mentor*in – nur weil sie oder er “cool“ ist oder die gleiche Hautfarbe hat wie du. Ich habe gelernt, dass es nicht das Ziel ist, zum Liebling der Chefin oder des Chefs zu werden, sondern einen guten Job zu machen und sich den Respekt der anderen Teammitglieder zu verdienen.“
Was Juliane angeht: Sie wurde überraschend entlassen, weil es eine große Entlassungswelle in ihrem Unternehmen gab. Im Moment ist sie arbeitslos, aber die Erfahrungen mit ihrer alten Chefin helfen ihr bei der Jobsuche: „Ich achte bei Bewerbungsgesprächen auf bestimmte Zeichen“, erzählt sie. „Ich lerne, wie wichtig es ist, meinem Bauchgefühl zu vertrauen – und wenn sich etwas komisch anfühlt, dann gibt es meistens einen guten Grund dafür.“
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