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Warum ich mir zum 1. Mal nach 5 Jahren die Beine rasierte

Vor über fünf Jahren warf ich meinen Rasierer weg. Diese Entscheidung entsprang einem impulsiven Wunsch, meinem Gender-Selbstausdruck einfach mal völlig freien Lauf zu lassen. Ich war damals Anfang 20 und gerade erst dabei herauszufinden, wie sich meine Queerness in meinem Aussehen widerspiegeln könnte. Damals fühlte sich das Ganze sehr rebellisch und stark an – wie ein Statement. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, es sei einfach nötig, sowohl körperlich als auch mental. Es fiel mir damals schwer, meinen äußerlichen Gender-Ausdruck und meine innerliche Androgynie miteinander zu vereinbaren. Meine Beinbehaarung wachsen zu lassen, kam mir daher wie eine sichere Option vor, um meinem feminin geformten Körper ein bisschen Maskulinität einzuhauchen. Daraufhin wuchsen die Haare wie verrückt – und überlebten die Badesaison, gemeine Kommentare, sogar meine Trichotillomanie (das Ausreißen der Haare), die mit meinen Augenbrauen kurzen Prozess machte. Während meine Körperbehaarung fröhlich vor sich hinspross, freute sich mein queeres Ich über diese Befreiung – zumindest, bis sich an einem Tag alles änderte.
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Es war ein Tag wie jeder andere, und ich war gerade in der Stadt, um mir ein Brautjungfernkleid für eine Hochzeit zu besorgen. Ich hatte schon seit Jahren kein Kleid mehr getragen, fand dieses aber sehr schön. Als ich es anprobierte, fühlte sich aber irgendwas falsch an. Es lag nicht an der Form oder Farbe des Kleids – vielleicht war’s die Tatsache, dass ich keine High Heels anhatte? Ich schob es auf die unvorteilhafte Beleuchtung in der Umkleidekabine und nahm das Kleid mit nach Hause. Dort schlüpfte ich erneut hinein, diesmal zusammen mit Absatzsandalen, und starrte lange in den Spiegel. Das Kleid hing mir bis zur Wadenmitte, und als ich es hin- und herschwenkte, wurde mir klar, was mich störte: meine haarigen Beine.
Nachdem ich mich jahrelang gegen die Feminität gesträubt und verzweifelt nach der perfekten Version von Androgynie gesucht hatte, war ich jetzt erstmal von mir selbst schockiert. Gleichzeitig versuchte ich aber, nachsichtig mit mir selbst zu sein. Ich weiß ja, dass Gender ein fluides, kein statisches Konzept ist; es macht also durchaus Sinn, dass dasselbe auch für den Gender-Ausdruck gilt. Ich beschloss, es zumindest mal zu probieren, mir die Beine zu rasieren. Also legte ich mich auf ein Datum fest.
Als der Tag dann gekommen war, ging ich in die Drogerie und sammelte das nötige Equipment zusammen. (Ich war ein bisschen erschrocken davon, wie teuer mein alter Rasierer inzwischen war.) Danach fuhr ich wieder nach Hause, zog mir ein paar Shorts an, stellte mein Handy mit Stativ bereit, um eine vermeintlich lebensverändernde Erfahrung zu dokumentieren, und machte mich an die Arbeit.
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Als ich mit der Klinge über meine Wade fuhr, rechnete ich damit, ein starkes, vielleicht sogar furchtbares Gefühl zu empfinden. Stattdessen empfand ich zu meiner großen Überraschung… überhaupt nichts. Als mir die Haare von den Beinen fielen, fühlte ich mich dabei ungefähr genauso, als würde ich Geschirr abwaschen oder mir die Haare föhnen: ruhig, wenn nicht sogar ein bisschen gelangweilt. Wieder war ich schockiert. Ich hatte geglaubt, dieser Moment würde mir die Tränen in die Augen steigen lassen. Stattdessen war die Rasur für mich völlig belanglos. Ich kicherte ein bisschen über mich selbst und rasierte einfach weiter. Als ich fertig war, spülte und trocknete ich mir die Beine ab, und legte mich dann gut gelaunt ins Bett – mit dem Gefühl delfinglatter Beine, das ich im Laufe der Jahre völlig vergessen hatte.
Während ich meine frisch geglätteten Beine aneinanderrieb, zermarterte ich mir das Gehirn, auf der Suche nach Antworten dafür, warum meine Reaktion so anders ausgefallen war, als ich erwartet hatte. Wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich mich in letzter Zeit ohnehin häufig an vielen traditionell femininen Dingen ausprobiert; während des Lockdowns hatte ich eine Liebe für starkes Make-up und kunstvollen Eyeliner entdeckt und lief jetzt fast täglich bunt geschminkt durch die Welt. Vor Kurzem hatte ich auch wieder damit angefangen, mir die Nägel machen zu lassen – wovon ich mich eigentlich in meinen frühen Zwanzigern verabschiedet hatte. Hey, ich hatte mir sogar ein Kleid gekauft und mich total darüber gefreut! Und dann wurde es mir klar: Ich konnte mich meiner femininen Seite wieder mehr hingeben, weil ich mich in meiner Queerness wohler fühlte denn je. Ich musste nicht irgendeinem androgynen Ideal entsprechen, um mich als lesbische, queere Frau fühlen zu können. Ich war einfach eine. Vielleicht hatte ich die Erkundung meines Gender-Selbstausdrucks inzwischen einfach abgeschlossen – und fühlte mich wohl in meiner Haut, ob nun mit oder ohne Körperbehaarung.
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Am Ende dieser Woche stand schließlich die Hochzeit an. In einem blauen Kleid, mit Schmucksteinen im Gesicht und glattrasierten Beinen lief ich mit meiner Frau Hand in Hand den Gang zum Altar entlang, und fühlte mich dabei selbstbewusst und schön. Das stärkste Gefühl in diesem Moment war jedoch die Freude für meine heiratenden Freund:innen – nicht irgendeine Unsicherheit rund um mein Aussehen. Ich musste meinen Gender-Selbstausdruck niemandem beweisen, sondern konnte einfach da sein, im Hier und Jetzt. Und nach einem Jahrzehnt des queeren Herumexperimentierens, der Verwirrung und Nervosität war das ein unfassbar schönes Gefühl.
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