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Berghain: Hallo Seele, komm mit ins Fegefeuer, da hast du es gut

So ist das mit der Panoramabar und dem Berghain. Der Ort bleibt in deinem System. Egal, wo du bist. Egal, wann du wo bist. Auch wenn du Jahre später am Pazifik in einem extrem teuren Sushi-Restaurant Kale-Salat in dich hinein schaufelst und deine Céline-Schuhe alle paar Minuten betrachtest – was im Übrigen nicht zu empfehlen ist, weil dir dabei Salat auf die Füße fallen könnte. Wenn dir jemand das Wort „Panoramabar“ ins Ohr flüstert, klingelt es bei dir. Und diese Klingel erzeugt einen Systemzusammenbruch. Eine Erinnerung an deine Zeit im Fegefeuer. An einen Ausflug in eine Parallelwelt, mit der du nicht auf Anhieb klargekommen bist. Das Berghain ist eine Kirche, eine neuzeitliche Religion. So wie Ayahuasca – nur ohne Schamane. So wie Yoga – aber ohne Dehnungsschmerzen. Das Berghain ist eine Möglichkeit, sich selbst außen vor zu lassen. Und das mit anderen zusammen. Das ist es, was eine religiöse Erfahrung ausmacht.
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Das geht schon los mit dem Thema Zeit. Wenn du einmal dort warst, hat dir das Berghain gezeigt, dass Zeit eine Illusion ist. Und das hat mit Drogen nichts zu tun. Es hat mit dem Eingriff in deine Seele zu tun, denn während du im Berghain stehst, wird an deinem Gemüt operiert. Danach ist es nicht mehr dasselbe. Das Berghain zeigt dir eine Utopie (etwas Schönes) und eine Dystopie (der Schrecken, auf den das Schöne zusteuert), und zwar gleichzeitig, in einem Atemzug. Damit musst du zurechtkommen. Es ist der Ort, der dir deine Fantasien zeigt, und wenn du diese Fantasien betrachtet oder gar ausgelebt hast, musst du für immer mit ihnen klarkommen. Dazu musst du bereit sein. Um dich vor diesem Moment ein bisschen zu schützen, gibt es im Berghain keine Spiegel. Nirgends. Denn das Berghain will nicht, dass du dir in so einem Moment ins Gesicht schaust.
Foto: Alex Mader, Model: Amanda Seidenstucker by IZIAO
Das Berghain am Wriezener Bahnhof gibt es seit 2004, sein Vorgänger war der Club „Ostgut“, den Michael Teufele und Norbert Thorman 1999 als einen vornehmlich schwulen Technoclub gründeten. Aus dieser Zeit stammt auch das Konzept des Berghains: Oben in der Panoramabar feiert man zu House, unten wird zu Techno getanzt. Der Sound ist härter, schneller, eindeutiger, das Publikum in der Regel auch.
Das Berghain ist daher ein Ort mit enormer Strahlkraft, die ganze Welt hat davon gehört – von diesem egalitären Zwergstaat geordneter Ausschweifung, von dieser Burning-Man-Situation in Ost-Berlin. Von diesem Ort, an dem es so physisch zugeht, was aber nicht bedeutet, dass alle ständig Sex haben, auch wenn die Möglichkeit besteht. Tanzen geht auch. Sich verlieren sowieso. Das Berghain passt wunderbar in eine Zeit, in der man exotisches Gemüse wie Grünkohl verehrt (ich nehme mich da nicht aus), der erste Blick am Morgen dem iPhone gilt, in der man bereit ist, zwecks Selbstanalyse psychedelische Getränke zu schlucken, statt jahrelang beim Therapeuten zu sitzen. Da braucht der moderne Mensch zum Ausgleich etwas Konkretes. Vielleicht auch etwas Spirituelles. Ist das Berghain möglicherweise unsere Ersatzkirche am Sonntag?
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Foto: Alex Mader, Model: Amanda Seidenstucker by IZIAO
Für den Gottesdienst ist es heute eigentlich schon zu spät, aber für das Berghain liege ich noch gut in der Zeit. Es ist Sonntagnachmittag, 14.20 Uhr, Primetime sozusagen. Viele, die nicht mehr die Nächte durchmachen wollen oder können, stehen am Sonntagmorgen gegen zehn Uhr auf, frühstücken etwas Ordentliches und gehen dann gestärkt ins Berghain tanzen. Ich habe mich vorbereitet, mit Müsli, Saft und Cappuccino. Aber was soll ich bloß anziehen?
Früher, am katholischen Sonntag, ging es darum, sich schick zu machen. Meine Mutter trug zum Beispiel immer High Heels in der Kirche, denn Gott und Jesus sahen es gern, wenn man geschminkt und zurechtgemacht in die Messe kam. Für das Berghain ginge das nicht.
Foto: Alex Mader, Model: Amanda Seidenstucker by IZIAO
Also ziehe ich ein schwarzes, enges Baumwollkleid an, immerhin in Mykonos gekauft. Dazu eine alte, teure Bomberjacke. Ich hatte ein paar Blogs studiert, in denen steht, was man tragen sollte und halte mich daran: nicht zu glamourös, nicht zu queer, nicht zu hetero – was auch immer das bedeuten mag. Man rät mir, ich solle allein hingehen, kein Englisch sprechen und viel schwarz tragen. Ich erinnere mich an die lustigen Raver-Mädchen aus Estland, die vor Jahren mit mir in der Schlange vor dem Berghain standen. Sie hatten eine Art Glitzer-Arschgeweih auf ihrer Jeans, was Sven Marquardt, dem Türsteher mit den Piercings im Gesicht, immerhin so sehr gefiel, dass er sie freundlich hineinbat. Das hatte mir gefallen.
Foto: Alex Mader, Model: Amanda Seidenstucker by IZIAO
Foto: Alex Mader, Model: Amanda Seidenstucker by IZIAO
Die Schlange am Eingang hält sich heute in Grenzen. Es wird kaum gesprochen, je näher man den Türstehern kommt, desto stiller wird es. Der Kerl mit der großen Brille auf dem Barhocker gibt mir mit einem Nicken zu verstehen, dass er mir den Einlass gewährt, sofort saust mein Adrenalinpegel nach oben. Ich lasse mir meine Telefonkamera mit dem Punkt bekleben und passiere den Sicherheitscheck. Die Durchsuchung ist gründlicher als am Flughafen. Die Frau filzt meinen BH; drückt an meinem Hintern herum, wer weiß, was ich alles dabei haben könnte.
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Langsam gehe ich die Treppe zum Berghain-Floor hoch, es wummert, meine Schienbeine wackeln, der Bass vom Dancefloor durchbricht den Schutz meines Körpers. Augenblicklich bekomme ich ein Höllengefühl. Ich habe das Gefühl natürlich nur, weil ich katholisch bin. Schon nach drei Minuten fühle ich mich dreckig und schuldig. Dabei ist noch gar nichts passiert. Ich bin nur langsam eine Eisentreppe hochgegangen.
Foto: Alex Mader, Model: Amanda Seidenstucker by IZIAO
Kurze Erinnerung an eine Nacht vor vielen Jahren. Ich war mit einer Gruppe von Leuten im Berghain und unterhielt mich mit einem Bekannten. Wir verstanden uns nicht. Es war zu laut, die Ablenkung war zu groß. Ich glaube, das Thema war Angela Merkel. Ich kann nicht mehr sagen, wie viele Stunden wir uns gegenseitig ins Ohr geschrien hatten. Vielleicht waren es auch Tage, wer weiß.
Jetzt bin ich in der Panoramabar und schaue den Leuten auf der Tanzfläche beim Wackeln zu. Dann gehe ich zur Bar, setze mich auf einen Hocker, die Beine über Kreuz und bestelle Espresso. Ganz nette Leute um mich herum, denke ich. Niemand hier ist unter dreißig, überhaupt ist hier niemand sonderlich jung. Nach etwa einer Stunde bemerke ich, dass ich genau an der Stelle sitze, an der ich damals eine Horrornacht hatte. Mein damaliger Freund hatte mit meiner besten Freundin wild geknutscht und so getan, als ob ich nicht direkt neben ihm stehen würde. Das war einer dieser Panoramabar-Momente: Die schöne Utopie (wir verlieren uns in Raum und Zeit) verwandelt sich innerhalb von wenigen Minuten eine Dystopie (wir verlieren uns selbst). Und nein, ich war nicht cool damit. Es fühlte sich wie eine Strafe an. Selbstverständlich hatte ich Jahre zuvor exakt das Gleiche getan. Damals war ich mir keiner Schuld bewusst, der gerechte Schmerz kam dann erst später. Das Berghain hält offenbar karmische Momente für seine Besucher bereit.
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Foto: Alex Mader, Model: Amanda Seidenstucker by IZIAO
Wie halten es die anderen mit dem Berghain und der Religion? Mein Freund Thomas sagt: „Bei uns heißt es immer: Gehst du am Wochenende in die Church?”
Der Gang ins Berghain ist sein Gottesdienst. Der Ablauf ist ritualisiert. Erst wartet man in der Schlange, dann vor dem Klo. Die Hostie wird hinter verschlossener Tür eingenommen. Thomas sagt, die meisten bevorzugen derzeit GHB/GBL, also K.-o.-Tropfen. Wie man sich denken kann, gehen manche davon k.o. „Die werden rausgeworfen“, sagt Thomas. Wenn du im Berghain umfällst, bist du selbst dafür verantwortlich. Du kannst dir die Stufen der Selbstverantwortung auswählen: Du kannst hingehen, Musik hören und tanzen. Du kannst Drogen nehmen, du kannst dabei umfallen, du kannst Drogen nehmen und Sex haben und umfallen. Niemand wird es sehen, und wer es doch sieht, den wird es nicht interessieren. Die Berghain-Religion ist privat. Sie ist die große Ausnahme im Social-Media-Zeitalter: keine Bilder, keine Postings, keine Selfies. Alles streng verboten.
Foto: Alex Mader, Model: Amanda Seidenstucker by IZIAO
Die Betreiber schützen ihre Parallelwelt, weil sie in Zeiten, in denen nichts mehr geheim ist, ein Geheimnis bleiben soll. Das Berghain operiert nach dem Motto „What happens in Vegas, stays in Vegas“, oder wie eine kluge Frau es neulich ausdrückte: „Das Berghain ist wie ein Gentleman. It doesn’t kiss and tell.“ Später kann man immer noch beichten, zumindest, wenn man katholisch ist.
Das Berghain ist ein Ort, an dem deine Geheimnisse gut aufgehoben sind, ein Ort, der dir deine Grenzen zeigt, wenn du sie finden willst, ein dunkler Elfenbeinturm der Freiheit, wie es ihn sonst nur selten gibt. Oder wie ein Besucher in dem großen Berghain-Artikel im New Yorker nach größtmöglicher Präzision formuliert: „Berghain, it’s a fucking unicorn!“
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