Es gibt ungefähr 850.000 Studien und wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Körperwahrnehmung. Sie lauten „Mobbing und die Langzeiteffekte auf das Körperbild“ oder „Tut Wissen weh? Selbsterkanntes Übergewicht bestimmt zukünftige Gesundheit und Wohlbefinden“ oder „Der Zusammenhang zwischen einem negativen Körperbild und Depressionen, Angststörungen und Suzidgedanken“.
Die Grundgedanken sind immer dieselben:
A) Körperwahrnehmung hat eine tiefreichende und langandauernde Auswirkung auf unsere physische, mentale und emotionale Gesundheit.
B) Unsere Körperwahrnehmung wird stark durch Kommentare und Reaktionen beeinflusst, die wir von Freund*innen und der Familie erhalten.
Und C) ganz gleich, wie diese Kommentare lauten, sie scheinen nie dafür zu sorgen, dass wir uns besser in unser eigenen Haut fühlen.
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Bei einer Untersuchung wurden die Eltern und Großeltern von Vorschulkindern gefragt, wie sie selbst im Kindesalter auf ihr eigenes Körpergewicht aufmerksam gemacht wurden. Das ist mein Lieblingssatz der Arbeit (wenn nicht sogar aller Studien): „Kein*e Teilnehmer*in beschrieb das Aufkommen des Themas Körpergewicht mit positiven Begriffen“.
Oh, du schöne Wissenschaft, du bist zum Schreien komisch.
Aber mal im Ernst: Ich bin froh, dass so viele Akademiker*innen und Forscher*innen in diesem Bereich Untersuchungen durchführen. (Ich sollte hinzufügen, die meisten Studien beziehen sich speziell auf das Körperbild im Bezug auf das Gewicht und viele konzentrieren sich dabei auf Frauen. Diese Büchse der Pandora öffne ich aber an einem anderen Tag.)
Ein negatives Eigenbild ist eine individuelle Erfahrung, die systemische Folgen hat – sprich: Es betrifft uns alle gleichermaßen. Theoretisch gesehen müsste es doch eine ziemlich einfache Lösung dafür geben, oder? Auf jeden Fall einfacher, als sagen wir mal… schmelzende Polkappen. (Ganz nebenbei: Kannst du dir vorstellen, wie unsere Gesellschaft aussehen würde, wenn niemand mehr seine Zeit für Selbsthass verschwenden würde? Was würden wir mit der ganzen zusätzlichen Zeit machen? Uns vielleicht den schmelzenden Polkappen widmen?)
Was mich am meisten verblüfft, ist dass all diese unzähligen Studien um die Lösung herumzutanzen scheinen. Die Antwort ist direkt vor unserer Nase und trotzdem stellen wir wieder und wieder dieselbe Frage – auf unterschiedliche Art und Weise. Und zwar nicht nur im akademischen Bereich, sondern auch im Alltag. Wir erwischen unsere Kinder dabei, wie sie prüfend ihr Spiegelbild betrachten, bevor sie zur Schule gehen. Wie ihr Blick dabei auf die Beine fällt und die kleinen Bäuche. Wir schauen uns mit Freund*innen Fotos an und sehen, wie sie feuchte Augen bekommen. Unsere Antwort auf „Ich bin so fett“ kommt wie aus der Pistole geschossen: „Du bist doch nicht fett. Du bist wunderschön“.
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Was sollen wir auch sagen? Was können wir tun?
Meine Schwester hat in letzter Zeit viel abgenommen und ist darüber sehr glücklich und stolz auf sich. Wie kann ich zusammen mit ihr ihren neuen Körper feiern, ohne dabei zu implizieren, dass sie früher nicht schön war? erreichte mich eines Tages der Brief einer Leserin. Oder ein gegenteiliges Beispiel: Mein Freund hat diese Jahr fünf Kilo zugenommen und er macht sich ständig selbst fertig – bezeichnet sich als fett und schwabblig. Wie kann ich ihn davon überzeugen, dass er das nicht ist?
Normalerweise würde ich jetzt darauf hinweisen, dass Themen wie Gewicht und Selbstakzeptanz so komplex sind, dass es nicht die eine einzige richtige Antwort gibt, die bei allen passt – oder falls es eine gibt, kenne ich sie nicht. Aber in diesem speziellen Fall gibt es eine. Und ich kenne sie. Wie du die neue dünne Figur deiner Schwester feierst? Gar nicht. Wie du deinem Freund sagst, dass er nicht fett ist? Gar nicht. Wie du mit deinen Kindern auf positive Art über ihr Gewicht sprichst? Na ja, ich habe keine Kinder, also werde ich auch keine Erziehungstipps geben. Aber viel Glück damit!
Wenn wir über das Thema Körper und Figur sprechen, gibt es keinen einen richtigen Weg. Also lass es am besten einfach. Überall warten Fettnäpfchen auf dich. Du weißt nie, ob die Person, mit der du dich gerade unterhältst, in der Kindheit gemobbt wurde. Oder ob sie eine Essstörung hatte oder hat. Oder ob sie, wie die meisten von uns, einfach zu lange von den medial verbreiteten Idealen beeinflusst ist. Außerdem ist die Message, die du mit der falschen Antwort verbreitest, schrecklich. Du kannst niemandem ein Kompliment zur neuen dünnen Figur machen, ohne dabei anzudeuten, dass mit der alten, dickeren Figur etwas nicht stimmte. Du kannst niemanden mit „Du bist nicht fett, du bist schön“ beruhigen, ohne gleichzeitig zu sagen, „fett ist nicht schön“. Also nochmal: Lass es einfach.
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Aber was sage ich denn nun zu meiner Schwester? Starre ich sie einfach nur an und sage gar nichts, wenn sie mich zum High Five auffordert? Natürlich nicht, denke ich und verdrehe die Augen. Nur weil du nicht explizit den Körper kommentierst, heißt das nicht, du würdest gar nicht kommentieren. Die Lösung: Reagiere auf das Gefühl, nicht auf die Figur.
Das ist alles. Das ist die komplette Antwort.
Deiner Schwester sagst du: „Es ist so schön, dich so glücklich zu sehen!“ und deinem Freund begegnest du mit Mitgefühl: „Ich weiß, wie schwer es sein kann, wenn sich die Figur verändert. Es tut mir leid für dich, dass du dich nicht wohl in deinem Körper fühlst. Ich liebe dich“. Wie du dir bestimmt schon denken kannst, ist der letzte Satz essentiell – in jedem Szenario. Lass dein Gegenüber unbedingt wissen, dass du sie oder ihn jetzt liebst, früher geliebt hast und auch in Zukunft lieben wirst. Und zwar auch dann, wenn sich ihr oder sein Körper verändert.
Es ist einfacher, jemanden zu trösten, der oder die traurig ist. Jemanden zu feiern ist jedoch genauso wichtig. Verdirb deiner Schwester nicht die Stimmung, in dem du ihr erzählst, dass das Ergebnis einer bewussten Gewichtsabnahme rein statistisch gesehen nicht für immer halten kann. Aber behalte diesen Gedanken im Hinterkopf, während du ihr regelmäßig zeigst, dass deine Liebe für sie bedingungslos ist. Sollte sie eines Tages wieder ein paar Kilo zunehmen – oder sich ihr Aussehen auf andere Weise verändern – wird sie tief im Inneren wissen, du bist ein Mensch, zu dem sie gehen kann. Eine Person, der sie vertrauen kann.
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Wird deine Reaktion deine Schwester verwirren? Jupp, ziemlich wahrscheinlich. Wenn ihr euch nahesteht, wird sie vielleicht sogar beleidigt sein, weil du ihr kein Kompliment zu ihrem Gewicht gemacht hast: „Denkst du etwa nicht, dass ich super aussehe?“. Solltet ihr an diesen Punkt gelangen, sei einfach ehrlich. Erzähl ihr, dass du etwas Neues ausprobierst und versuchst, keine Kommentare mehr zur Figur von Menschen abzugeben. Das ist eine absolut plausible Antwort und die Wahrheit. Auch wenn sie vielleicht immer noch verärgert ist, versteht sie dann zumindest, warum du dich so verhältst. Erinnere sie noch mal daran, dass du sie liebst – es ist schwer auf jemanden böse zu sein, der gerade „Ich liebe dich“ zu dir gesagt hat.
Am Anfang ist diese neue Verhaltensweise für dich bestimmt eigenartig. Ich habe beispielsweiße vor Kurzem mit einer Freundin geschrieben, die für einen Job in eine andere Stadt gezogen ist. Als ich sie fragte, wie es so bei ihr läuft, antwortete sie: „Fantastisch! Ich wurde befördert, kaufe mir in zwei Wochen einen Hund UND ich habe diese neue Diät angefangen und schon sieben Kilo abgenommen!!!“. Erst war die Situation ziemlich unangenehm für mich. Sie ist meine Freundin und sie weiß, dass ich seit vier Jahren Artikel zu einem „Anti-Diät-Projekt“ schreibe. Abgesehen davon finde ich es komisch, dass sie die Gewichtsabnahme zusammen mit einer Beförderung (und einem Hund!) in einen Satz gepackt hat. Ich würde die Dinge unterschiedlich gewichten und demzufolge nicht gleichzeitig aufzählen, aber gut. (Obwohl ich natürlich schon neugierig war, welchen Hund sie sich zulegen wollte). Aber dann machte ich mir bewusst, es ging hier nicht um mich. Sie war diejenige, die Großbuchstaben benutzte, um von ihrer Gewichtsabnahme zu erzählen und nicht für die Beförderung oder das Haustier. So bizarr ich das auch fand, es wäre noch eigenartiger gewesen, wenn ich Teile ihrer Nachricht einfach ignoriert hätte und nur auf das reagiert hätte, was ich für wichtig halte. Also überlegte ich kurz und entschied mich dazu, meine Hand virtuell für ein High Five zu heben – schließlich war sie super aufgeregt und happy. Also schrieb ich: „Wow! Da ist ja so Einiges los bei dir – das ist großartig! Ich bin SO glücklich, dass bei dir da drüben alles so gut läuft. Ich vermisse dich!!!“. Und dann schickte ich ihr noch ungefähr 12 Emojis.
Es dauerte ein paar Minuten, aber dann antwortete sie mit mindestens genauso vielen Emojis wie ich. So wie ich sie kenne, hat sie die Zeit zwischendurch bestimmt gebraucht, um sich zu wundern, warum ich ihr nicht zu ihrem Gewichtsverlust gratuliert habe. Immerhin gehört es sich in unserer Gesellschaft ja so: Wenn dir auffällt, dass jemand abgenommen hat, solltest du etwas sagen wie „Du siehst übrigens super aus!“ Und wenn wir feststellen, jemand hat zugenommen, sollen wir die Klappe halten. Und dieses höfliche Schweigen spricht Bände. Letztendlich hat meine Freundin jedoch verstanden, was ich mit meiner Nachricht sagen wollte: Ich freue mich für sie. Ich freue mich, dass sie sich freut. Aber ich vermisse SIE, nicht ihren etwas schmaleren Körper.
Body Talk ist ein schwieriges Thema – und noch schwieriger ist es, nicht in alte Gewohnheiten zurückzuverfallen. Es ist ein bisschen so wie beim Autofahren: Wenn du Automatik gelernt hast, ist es am Anfang schwer, mit Kupplung zu fahren. Aber das heißt nicht, dass du direkt aufgeben und zu dem zurückgehen sollst, was du früher gemacht hast. Wenn wir alle lernen, andere Dinge als unsere Körper wertzuschätzen, zu respektieren und zu würdigen, dann würden wir in einer Gesellschaft leben, in der Menschen nicht mehr nur auf Äußerlichkeiten achten. Wir könnten uns unsere Kommentare, unsere Komplimente, unsere Zeit, unsere Energie und unsere Emojis für das aufsparen, was wirklich zählt.
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