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Millennial-Arbeitskultur: Selbst auf dem Klo habe ich nicht meine Ruhe!

Photographed by Ashley ARmitage.
Bist du schon mal länger in der Toilettenkabine geblieben, als du gemusst hättest? Und ich meine nicht, weil du einfach Lust hattest, noch ein wenig deinen Insta-Feed anzuschauen oder deine privaten Mails zu checken. Ich meine, weil draußen jemand stand.
„Das macht doch jeder“, war eine der Antworten, die ich bekam als ich genau diese Frage auf Twitter stellte. Und ich glaube, sie ist wahr. Ich habe es selbst schon getan und ich habe auch schon andere dabei “erwischt“, wie sie auf der anderen Seite der Tür gewartet haben, bis ich mit dem Händewaschen fertig war und das Klo verlassen hatte. Immer wenn ich die Person auf der anderen Seite bin, habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich meine Frisur noch mal kurz im Spiegel begutachte oder mein T-Shirt so in die Jeans stecke, dass es möglichst lässig aussieht – schließlich musste der arme Mensch wegen mir länger in der Kabine bleiben.
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Ich habe das Gefühl,dass dieses Versteckspiel besonders oft in Großraumbüros ein Thema ist. Wasauch logisch ist, denn dort hockt man praktisch 40 Stunden in der Wocheaufeinander. Die einzige Chance auf ein paar Minuten Privatsphäre bietet derBesuch der keramischen Abteilung. Denn selbst in der Küche oder beim Rauchen fühlensich die meisten von uns gezwungen, Smalltalk zu halten.

Beverly arbeitet als Content Sales Manager in New York. Auch sie tendiert dazu, sich zu verstecken beziehungsweise möglichst schnell die Hände zu waschen, wenn jemand anderes in der Kabine ist: „Ich will diese unangenehmen sozialen Interaktionen vermeiden. Und es soll sich auch niemand wegen mir gehetzt fühlen.“
In der Kabine herumzulungern, wenn wir längst fertig sind, gehört zu den Verhaltensweisen, die sich einige angeeignet haben, weil sie ihr kleines und großes Geschäft nur wenige Schritte von ihren Vorgesetzten, Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen machen müssen. Sollte bei dir im Büro jede Toilette in einem Extraraum sein (inklusive Waschbecken), musst du dir zumindest um Körpergeräusche keine Sorgen machen. Denn dann warten deine Kolleg*innen nicht direkt vor der dünnwandigen Kabine, sondern draußen auf dem Gang – hinter einer hoffentlich einigermaßen schalldichten Wand. Zwei Themen bleiben dir aber auch in diesem Setting nicht erspart und die lauten Aufenthaltsdauer und Geruch. Bestimmt machst du dir manchmal Gedanken, ob die anderen vielleicht denken könnten, du würdest unnormal viel Zeit auf dem Klo verbringen. Und wahrscheinlich bist du auch schon mal mit hochrotem Kopf aus der müffelnden Toilette gekommen – ob du nun selbst für den Geruch gesorgt hast oder nur kurz pinkeln warst, nachdem jemand anderes sein Geschäft getätigt hat. Richtig schlimm wird es, wenn es nur eine einzige Toilette für das komplette Büro gibt. Das kann einem schon mal die Lust auf den morgendlichen Kaffee verderben. Oder zu ungewöhnlichen Maßnahmen führen, wie das WC im Café nebenan zu benutzen, statt das im Office. Oder aber sich wie Zoon in eine andere Etage des Gebäudes zurückzuziehen: „Ich arbeite im siebten Stock, gehe aber regelmäßig hoch in den neunten, um in aller Seelenruhe kacken zu können – dort gibt es nämlich nur Konferenzräume und die sind häufig leer“.
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In modernen Büros gibt es viele Dinge, die soziale Ängste oder einfach ein ungutes Gefühl oder unangenehme Situationen auslösen können. Zum Beispiel verbringen wir so viel Zeit mit unseren Kolleg*innen, dass wie ihre kleinen und großen Macken kennenlernen. Manche haben Jelly Nails und tippen deswegen extrem laut. Andere verwenden ein eigenwilliges Parfüm oder haben Mundgeruch. Oder sie wackeln die ganze Zeit so sehr mit ihrem Bein, dass die Tischlampe pausenlos klappert. Es gibt bestimmt noch tausende solcher Beispiele, aber mit den meisten können wir uns einigermaßen arrangieren. Doch an einem bestimmten Punkt ist Schluss mit lustig. Und zwar genau dann, wenn du dir noch nicht mal auf dem Klo Luft machen kannst (buchstäblich), weil die Kollegin aus der HR in der Kabine neben dir sitzt und du nicht willst, dass sie alles hört. Also versuchst du es so lange anzuhalten, bis sie die Spülung betätigt, damit es nicht mehr so auffällig ist. Nur, um eine Minute später von ihr dieses vielsagende Lächeln zu ernten, während ihr euch beide die Hände wascht und sagt, ihr könntet nicht glauben, dass erst Mittwoch ist.
Ganz egal, ob du nun schüchtern bist oder dich für keine deiner Körperfunktionen schämst (good for you!): In einer Arbeitskultur, die sich zunehmend in 8-Stunden-Tagen im Großraumbüro manifestiert, ist das WC für viele der einzige Rückzugsort im Alltag.
Laut Dr. Leno kann sich dieser Konflikt sogar auf die Psyche auswirken: „Wir können froh sein, wenn wir täglich ein paar Minuten Privatsphäre bekommen. Ist dem nicht so, bringt das definitiv Konsequenzen mit sich. Das Bad ist der einzige Ort, an dem du keine Angst haben musst, gestört zu werden.“ Logisch also, dass es auf’s Gemüt schlagen kann, wenn dir das auch noch weggenommen wird.
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Es gibt aber auch Menschen, denen es komplett egal ist, wenn jemand mitbekommt, wie sie ihr Geschäft erledigen. Doch das sind laut der Psychotherapeutin Dr. Michele Leno nur sehr wenige. „Diese Handvoll Menschen haben oft auch kein Problem mit Klo-Smalltalk, weil das Ganze für sie keine große Sache ist. Die Geräusche und Gerüche sind ihnen Schnuppe und deswegen stört es sie auch nicht beim Händewaschen eine Runde zu quatschen – das ist ihnen weder peinlich noch unangenehm.“
Der Rest von uns sieht die Angelegenheit jedoch nicht so gelassen, denn mit dem Gang zur Toilette verbinden wir gemischte Gefühle. Auf der einen Seite birgt das stille Örtchen die Gefahr von Scham und Verlegenheit. Auf der anderen kann es aber eben auch ein stiller Zufluchtsort sein, an dem wir nicht nur Wasser, sondern manchmal auch die eine oder andere Träne lassen. An dem wir tief durchatmen (falls das die Luftqualität zulässt), unseren vom Sitzen geplagten Körper strecken und recken, uns im Spiegel Mut vor einem wichtigen Meeting zusprechen. Manchmal schauen wir uns lustige Memes an oder tragen unseren Lieblingslippenstift auf, der uns irgendwie selbstbewusster macht – oder zumindest wirken lässt. Kurz gesagt: So lustig es klingen mag, die Toilette spielt oft eine größere Rolle in unserem Berufsalltag, als uns bewusst ist. Deshalb ist die Frage, warum sich viele Unternehmen ein Scheiß um die Klosituation scheren (sorry, der hat sich gerade so schön angeboten).
Emily Strachan ist Maklerin für Geschäftsimmobilien. Sie sagt, die Toiletten würden bei ihren Kund*innen immer ganz unten auf der Liste stehen. „Niemand macht sich darüber überhaupt Gedanken.“ Dennoch rät sie immer dazu, mindestens eine Toilette pro 20 Mitarbeiter*innen einzuplanen: „Wenn sich mehr als 20 Menschen ein Klo teilen müssen, kann es heikel werden“, sagt Strachan.
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Glücklicherweise scheinen sich mittlerweile zumindest ein paar Companys der Problematik bewusst zu sein. So gibt es in den Coworking-Büros von WeWork beispielsweise geschlossene, geflieste Toilettenkabinen, statt dünner Wände und breiten Luftschlitzen über und unter der Tür. Außerdem läuft dort immer Musik, was für eine angenehmere Atmosphäre sorgt, weil gewisse Geräusche dann nicht mehr so vordergründig sind. Ein guter Anfang, aber Dr. Leno ist der Meinung, alle öffentlichen Toiletten sollten renoviert werden, damit sie ein Mindestmaß an Privatsphäre bieten. „Die meisten sind absolut nicht mehr zeitgemäß. Manche Menschen glauben, in der Öffentlichkeit brauchen wir keine Privatsphäre. Dabei ist der Gang zur Toilette etwas sehr Persönliches und wir sollten uns dabei ungestört und entspannt fühlen können.“
Beim Schreiben dieses Artikels drängt sich mir eine Frage auf, die du dir vielleicht auch schon gestellt hast: Würden wir uns so sehr nach einem stillen Örtchen sehnen, an dem wir wenigstens kurze Zeit für uns sein können, wenn es im Office noch einen anderen Rückzugsort gäbe? Besonders für introvertierte Personen – oder auch für diejenigen, die lediglich einen schlechten Tag haben – können sich Großraumbüros fast schon wie eine Bestrafung anfühlen. Dazu kommt, dass eine Studie aus dem Jahr 2018 belegt, dass Teams, die in Großraumbüros arbeiten, deutlich unproduktiver sind. Vielleicht sollten Arbeitgeber*innen also nicht nur die Toilettensituation überdenken, sondern die Raumaufteilung der Büros im Allgemeinen? Und wenn wir schon mal dabei sind, könnten sie gleich auch dem steigenden Wunsch nach gender-neutralen Toiletten nachgehen. Doch bis das passiert, wird es wahrscheinlich noch eine Weile dauern.
Bis dahin wirst du dich wohl oder übel weiter in der Kabine verstecken müssen, bis die Luft rein ist. Aber vielleicht lässt dein*e Arbeitgeber*in ja zumindest ein paar Duftstäbchen und ein Badradio springen.
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