In seinem früheren Leben war Zehnkampf-Olympiasieger Bruce Jenner der Inbegriff von Männlichkeit und Stärke: Ein muskulöser Frauentyp, der mit jeder Faser dem Klischee des fleischgewordenen amerikanischen Traums entsprach. Was niemand wissen durfte: Schon seit seiner Kindheit fühlte sich der Stiefvater von Kim und Khloé Kardashian als Frau. Nach einer operativen Geschlechtsangleichung und dem Coming-Out vor zwei Jahren blickt die 67-Jährige nun als Caitlyn Jenner in der Autobiographie „Mein großes Geheimnis – Gefangen im eigenen Körper“ (Hannibal Verlag) auf ihre beschwerliche Transgender-Entwicklung zurück. Refinery29 Germany hat mit ihr gesprochen.
Caitlyn, im Grunde geht es in deinem Buch ums Überleben: Ums Überleben in einer verständnislosen, teils feindlichen Umwelt und nicht zuletzt in einem „fremden“ Körper. Fühlst du dich auch als Überlebende?
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Ja und nein. Die Selbstmordrate in unserer Community ist schwindelerregend hoch, ebenso die Mordrate bei Transgender-Opfern. So gesehen habe ich tatsächlich meine Jugend überlebt. Ich habe mich mein ganzes Leben bemüht, so gut es geht mit mir selbst klar zu kommen. Die so genannte Gender Identity Disorder ist eine sehr ernste Sache. Wenn man davon betroffen ist, wacht man nicht eines Morgens auf, und alles ist plötzlich erledigt. Man hat sein ganzes Leben lang damit zu tun. Jeder von uns muss seinen eigenen Weg gehen. In meinem Buch erzähle ich von meiner ganz persönlichen Reise.
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Die Selbstmordrate in unserer Community ist schwindelerregend hoch, ebenso die Mordrate bei Transgender-Opfern.
Caitlyn Jenner
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Du hattest vor gut zwei Jahren dein öffentliches Coming-Out als Genderfrau. Wie fühlst du dich heute?
Ich bin einfach glücklich. Mein Leben ist im Vergleich zu vorher wahnsinnig unkompliziert. Ich stehe morgens auf und kann einfach nur ich selbst sein! Den ganzen Tag lang, in jeder einzelnen Sekunde! Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass man keine Geheimnisse haben sollte. Es ist ein tolles Gefühl, sich nicht mehr verstecken zu müssen oder in Angst zu leben, jemand könnte aufdecken, wer ich wirklich bin. Ich bin unbeschreiblich froh, diesen Schritt gemacht zu haben. Viele denken, heute wäre alles unglaublich mühsam. Doch tatsächlich brauche ich morgens nur etwas länger vorm Spiegel, das ist alles!
Du sprichst in der Autobiographie auch von deinem starken Glauben an Gott. Ist nicht gerade die Doppelmoral von Kirche und Religion ein wichtiger Grund für die Unterdrückung der LGBT-Community?
Ich gebe zu: Ich bin ein gläubiger Mensch. Mein Glaube spielt in meiner Entwicklung eine wichtige Rolle. Jeder, der in seinem Leben mit Krankheiten oder anderen großen Problemen fertig werden muss, fragt sich irgendwann nach dem tieferen Sinn. Ich habe mir den Kopf zermartert, warum meine Identitätsfindung so eine schwierige Sache ist. Ich habe darüber mit meinen Kindern und allen Menschen gesprochen, die mir wichtig sind. Als letztes blieb nur noch ein klärendes Gespräch mit meinem Pastor. Danach wurde mir einiges klar. Vielleicht hat mir Gott aus einem ganz bestimmten Grund das Leben geschenkt. Zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, an diesem ganz bestimmten Ort. Ich möchte meine Bekanntheit dazu nutzen, mehr Akzeptanz für meine Community zu schaffen und es der nächsten Generation etwas leichter machen. Vielleicht ist das eine Art Lebensaufgabe, die mir verliehen wurde.
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Du beschreibst im Buch deinen Kampf mit Depressionen, Paranoia und den weiteren Folgen deiner inneren Zerrissenheit. Was gab dir in dieser Zeit Halt?
Neben meiner Identitätskrise litt ich als Kind zusätzlich auch noch an Lese- und Rechtschreibschwäche. In der 5. Klasse habe ich dann den Sport für mich entdeckt. Ich fand heraus, dass ich besser war, als alle anderen. Sport war etwas typisch Männliches, das meine weibliche Seite ausbalancierte. Das setzte sich in meiner späteren Sportlerkarriere fort. Ich habe mich oft gefragt, warum ich im Leistungssport so einen starken Durchhaltewillen und eine so immense Leidensfähigkeit besitze. Die Antwort: Ich wollte mir ständig beweisen, dass ich im Grunde doch nicht der leseschwache Junge bin, der am liebsten ein Mädchen sein will. Doch am Morgen der Olympischen Spiele in Montreal im Jahr 1976 änderte sich das grundlegend: Am Tag davor hatte ich die Goldmedaille im Zehnkampf gewonnen und einen Weltrekord aufgestellt. Ich hatte alles gewonnen, was es zu gewinnen gab. Ich stand vorm Spiegel und habe mich gefragt, womit ich mich nun noch von der Frage ablenken könnte, wer ich wirklich bin.
Du hast eine Familie gegründet...
Der nächste Schritt, mich von meinem wahren Ich abzulenken: Mein gut bezahlter Job und meine große Familie.
Im Buch erinnerst du dich an einen Vorfall, bei dem du von deinen Töchtern in Frauenklamotten vor dem Spiegel im Kinderzimmer erwischt wurdest. Warum hast du dir für dein Coming-Out so lange Zeit gelassen?
Kylie hatte in ihrem Zimmer ohne mein Wissen eine Computercam installiert, weil sie sicher war, Kendall würde insgeheim ihre Sachen tragen. Damit, mich eines Tages in den Klamotten ihrer Mutter auf Tape zu sehen, hätte sie sicher nicht gerechnet. Ich hatte einfach Angst. Ich hatte mir jahrzehntelang das Superhero-Image von Bruce Jenner aufgebaut: Weltmeister, Olympiasieger, einer der besten Sportler seiner Zeit. Ich wollte mir das nicht kaputtmachen. Ich bin bis heute stolz auf das, was ich erreicht habe. Außerdem leben wir in einer Männer-dominierten Gesellschaft, in der Frauen bis heute als das „schwächere Geschlecht“ angesehen werden. Heute habe ich die Stärke, das als kompletten Quatsch abzutun. Damals hat mir diese Weitsicht gefehlt.
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Während du damals der amerikanische Traum aus rein männlicher Sicht warst, verkörperst du heute eine andere, moderne Sichtweise des amerikanischen Traums! Oder?
Ich würde sagen, ich bin das ultimative Zwischending: Damals war ich Weltmeister im Männer-Zehnkampf, heute trage ich den Titel „Woman Of The Year“ vom Glamour-Magazin. Das soll mir erstmal jemand nachmachen!
Seit deinem Coming-Out wirst du von einigen als das „schwarze Schaf“ der Kardashian-Family betrachtet...
Ich weiß. Die Serie Keeping Up With The Kardashians läuft mittlerweile seit Ewigkeiten. Mir ist am wichtigsten, die Beziehung zu meinen Kindern so gut wie möglich zu gestalten.
Wie gehst du mit homophoben Tendenzen um? Hast du diese menschenfeindlichen Tendenzen auch schon einmal am eigenen Leib zu spüren bekommen?
Sehr selten. In den meisten Fällen sind die Leute nur verwirrt und kommen nicht mit der Vorstellung zurecht, dass es neben Mann und Frau noch andere Daseins- und Gefühlsformen gibt. Es gab einmal einen Vorfall mit einem Typen, der mich auf der Straße anschrie, ich wäre einmal sein Vorbild gewesen und heute könnte er nicht einmal genau sagen, „was“ ich wäre. Ich habe ihm dann freundlich meinen Führerschein gezeigt, in dem ganz offiziell mein Name Caitlyn Jenner samt meiner anderen Informationen eingetragen ist. Er hat es aber nicht kapiert.
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In den meisten Fällen sind die Leute nur verwirrt und kommen nicht mit der Vorstellung zurecht, dass es neben Mann und Frau noch andere Daseins- und Gefühlsformen gibt.
Caitlyn Jenner
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Du selbst bist allerdings innerhalb der Transgender-Gemeinschaft ebenfalls umstritten!
Ich sehe mich nicht als Sprecher oder gar Aushängeschild der Trans-Community. Der einzige Mensch, für den ich spreche, bin ich selbst. Meine Popularität bietet mir eine öffentliche Plattform, die sich teilweise sehr von den üblichen Plattformen unterscheidet. Ich betrachte das Leben aufgrund meiner Erfahrungen von einem anderen Standpunkt, als viele junge Leute.
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Welchen guten Tipp würdest du deinem jüngeren Ich geben, wenn du dich heute als 16-Jährigen auf der Straße treffen würdest?
Ich wüßte nicht, was ich anders machen sollte. Ich bereue nichts. Ich glaube, alles im Leben passiert genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich hatte genug damit zu tun, eine Familie aufzubauen. Heute habe ich zehn Kinder und elf Enkelkinder. Es war ein harter Weg; es hat sehr lange gedauert, in das Leben zu finden, das ich leben möchte. Aber es hat sich gelohnt.
Was war eigentlich die Inspiration zu deinem neuen Vornamen Caitlyn?
Das Schwerste im Leben ist wohl, Namen auszusuchen. Für seine Kinder und natürlich erst Recht, für sich selbst. Ich habe schon seit dem Alter von zehn Jahren über einen passenden Vornamen nachgedacht. Ich habe mir immer die „Miss America“-Wahlen angeschaut und schöne Namen notiert. Meine Assistentin schlug irgendwann den Namen Caitlyn vor, der auch schon auf meiner Liste war. Meine Tochter Kim war eine der Ersten, mit der ich damals über eine Geschlechtsangleichung sprach. Sie fragte mich, wie ich mich danach nennen würde. Ich erzählte ihr dann von meiner Wahl. Sie freute sich und meinte, es wäre großartig, dass ich bei einem Namen mit K bleiben und die Serie von Kim, Khloé, Kendall, Kourtney und Kylie nicht unterbrochen werden würde. Ich musste ihr dann vorsichtig beibringen, dass ich mich für Caitlyn mit C entschieden hatte.
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Meine Tochter Kim war eine der Ersten, mit der ich damals über eine Geschlechtsangleichung sprach. Sie fragte mich, wie ich mich danach nennen würde.
Caitlyn Jenner
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