Fakt: Für den Großteil meiner Zwanziger war ich verschuldet. Wer sich aber durch meinen Instagram-Account scrollte, hätte das sicher niemals vermutet. Nach außen hin war mein Leben fantastisch: Ich galt als unzähmbare Feministin. Ich ignorierte jede Norm, jede Erwartung, die sich mir in den Weg stellte. Ich reiste als junge Frau alleine quer durch Ägypten, startete als Freelancerin durch, lebte mal hier, mal dort auf dem Globus. Mein Leben platzte voller Erfahrungen und Erlebnisse quasi aus allen Nähten und ließ mich nachts zufrieden einschlafen, immer in der Gewissheit, mein Leben so ausgiebig auszukosten, wie es nur möglich war. Das dachte ich zumindest.
WerbungWERBUNG
Dabei waren all diese Dinge, die mich inspirierten – Reisen, Musik, Partys, Freundschaften, Bildung, Karriere – nichts als eine Maske. Sie verbargen ein Geheimnis in mir, das ich mir selbst nicht eingestehen wollte: Ich war lesbisch, bin lesbisch. Erst mit 29 Jahren traute ich mich aber, mich zu outen, und konnte meine Sucht nach der Anerkennung anderer Leute dann endlich hinter mir lassen – zusammen mit meiner selbstsabotierenden Beziehung zu Geld.
Im Nachhinein weiß ich genau, dass ich versuchte, mir mit Geld zu ermöglichen, was ich mir selbst innerlich nicht gab oder geben konnte: Wahrheit. Immer wieder erdrückte ich jeden Zweifel an meiner Heterosexualität, indem ich dafür sorgte, dass ich keine Zeit hatte, um darüber nachzudenken – vor allem mit meiner ersten großen Liebe: dem Reisen. Meinen Kalender stopfte ich außerdem voller Festivals, Konzerte, Partys, Verabredungen. Ich gönnte mir ein brandneues Auto, ein edles Apartment, studierte nochmal, arbeitete die Wochenenden durch. Und reiste, reiste, reiste: Das Jahrzehnt vor meinem Coming-out war die Ära des Reisens. Ich ließ mir in über 50 Ländern einen neuen Reisepass-Stempel verpassen, verlagerte meinen Wohnsitz zweimal ins Ausland, und gab dabei insgesamt über 65.000 Euro aus. Das ist mehr als ein Viertel von dem, was ich in diesem Jahrzehnt insgesamt verdiente.
Ich war süchtig nach dem Unbekannten, nach dem Unerwarteten. Wenn ich ganz ehrlich bin, hoffte ich wohl insgeheim, dass mich eines dieser Abenteuer in die Arme einer neuen Liebe führen würde – einer Liebe, die ich so noch nie erlebt hatte. Einer, die so tief ging, dass sie mir keine andere Wahl ließe, als mich stolz zu outen.
WerbungWERBUNG
Also suchte ich weiter, ohne es mir selbst einzugestehen… indem ich immer mehr Geld ausgab.
Ich erinnere mich noch gut an den panischen Abend vor einer weiteren großen Reise. Auf meinem Konto hatte ich insgesamt circa 95 Euro, und ich konnte meinen Blick nicht von der Summe meiner Schulden – etwa 12.500 Euro – reißen. Für die Bezahlung meiner Reise verließ ich mich einzig und allein auf meine Kund:innen und die noch offenen Rechnungen, die während meines Trips bezahlt werden sollten.
Unterbewusst spielte ich dieses riskante Spiel wohl absichtlich und flirtete gezielt mit dem Abgrund. Ich hätte diese Reise gar nicht antreten sollen; ich konnte sie mir nicht leisten, aber das Adrenalin verhinderte, dass sich meine Gedanken Themen zuwandten, die ich nicht sehen wollte. Die meisten Dinge, die ich mir mit geborgtem Geld ermöglichte, folgten nur einem Ziel: meine sorgsam aufgebaute Fassade aufrechtzuerhalten.
Natürlich hatte ich währenddessen in meinen Zwanzigern auch jede Menge Spaß. Während sich dieses Jahrzehnt meines Lebens aber langsam dem Ende neigte, verlor dieser Luxus immer mehr von seinem schönen Glanz. Und irgendwann war es soweit – ich konnte nicht mehr flüchten, die Stimme in meinem Kopf wurde lauter und lauter, und ich begriff, dass ich mir endlich anhören musste, was sie mir in all den Jahren hatte sagen wollen: Mir drohte ein Leben der Reue, wenn ich nicht langsam ehrlich zu mir und anderen war.
Ich sah ein, dass mir kein äußeres Glück dabei helfen würde, das Bedürfnis zu befriedigen, das ich immer unterdrückt hatte. Also nahm ich allen Mut zusammen, lud mir Tinder runter – und siehe da: Nach ein paar Monaten fand ich dort die Liebe meines Lebens. Das kapierte ich sehr schnell, aber hatte es vorher ja auch 29 Jahre gedauert, bis ich an diesem Punkt war. Mich in sie zu verlieben, half mir dann nicht nur dabei, mich vor meinen Freund:innen und Verwandten zu outen, sondern rettete auch meine ungesunde Beziehung zu Geld.
WerbungWERBUNG
Endlich war es weg, das Bedürfnis, auf den coolsten Festivals und in den edelsten Bars aufzutauchen, mir neue Outfits zu kaufen und Trips zu planen, die mich an meine Grenzen brachten. Ich hörte auf, jedes Wochenende zu arbeiten, und legte langsam, aber sicher diese perfekte Maske ab, hinter der ich mich jahrelang versteckt hatte. Anstatt bis drei Uhr nachts feiern zu gehen, stand ich um 6 Uhr morgens auf. Anstatt 24 Stunden im Flieger zu sitzen, setzte ich mich lieber für zwei Stunden ins Auto.
Dabei musste ich ja niemandem etwas beweisen; ich wollte einfach ein schönes Leben führen, mich um meine Freundin und die anderen Menschen kümmern, die mir wichtig sind. Und diese Einsicht brachte mich zu einer weiteren: Ich brauchte keinen detaillierten Finanzplan, musste nicht Ich zeige dir, wie du reich wirst lesen oder jedes Wochenende arbeiten, um mehr Geld zu verdienen. Ich musste mir bloß endlich selbst vertrauen. Ich musste akzeptieren, wer ich bin, um denen, die mich lieben, dieselbe Chance zu geben.
Dabei ist meine Erfahrung bei Weitem nicht einzigartig, und vor allem nicht in der LGBTQ-Community: In einer Umfrage des Podcast-Verlags WNYC gab jede vierte queere Person an, ihre Sexualität oder Gender-Identität habe sich auf ihre Finanzen ausgewirkt. Erst nach dem Coming-out habe sich ihre finanzielle Abhängigkeit von anderen allmählich gelegt – und dieses Ergebnis zeigt: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Outing und finanzieller Stabilität.
Brooke Tomasetti ist Finanzberaterin und hilft jungen Berufstätigen dabei, ihren Finanzhaushalt zu organisieren. Sie sagt, viele von ihnen betrachten das Geldausgeben als eine Form der Selbstfürsorge. „Kurzfristig sorgt das für einen netten Glückshormon-Boost, langfristig ist das aber Selbstsabotage. Dir etwas zu kaufen, das du nicht brauchst, fühlt sich aber eben in dem Moment toll an, lenkt dich ab, steigert sogar dein Selbstbewusstsein. Deswegen neigen wir dazu, zu viel Geld auszugeben, wenn wir unglücklich sind“, erklärt sie. „Dabei ist Geld auch so oft und schnell mit Scham verbunden. Das sorgt dafür, dass sich viele dagegen sträuben, den verantwortungsvollen Umgang mit den persönlichen Finanzen zu erlernen. Man ignoriert dann eben einfach die Symptome der eventuellen Geldsorgen und sorgt dadurch dafür, dass der Kreislauf aus Unruhe und Geldausgeben weiter seinen Lauf nimmt.“ Und bis man selbst den Zusammenhang zwischen dem emotionalen Weg zum Coming-out und den damit verbundenen Bewältigungsversuchen – zum Beispiel dem exzessiven Geldausgeben – erkennt, kann wie bei mir viel Zeit vergehen.
WerbungWERBUNG
Drei Jahre später sind seitdem vergangen, und ich bin immer noch Queer-Anfängerin. Manchmal fühlte ich mich deswegen in meine Teenagerjahre zurückversetzt, weil das Dating eines anderen Genders für mich eben noch ziemlich neu ist. In meinem Leben bin ich aber im Großen und Ganzen genau dort, wo ich sein möchte: Ich bin 33 Jahre alt, möchte meine Freundin heiraten, ein Haus kaufen und vielleicht auch irgendwann Kinder bekommen. Mein „queeres“ Leben unterscheidet sich dabei kaum von meinen früheren Zukunftsvorstellungen. Ich wünschte mir, das hätte ich früher gewusst – das hätte mir vieles erspart.
Natürlich haben sich auch meine Finanzen langsam reguliert, während sich meine Prioritäten änderten. Mein Wunsch, meine Freundin und mich zu versorgen, war stärker als jedes vorübergehende High; ich brauchte dieses Adrenalin von früher einfach nicht mehr. Die großen Reisen, die Partys, die Outfits, die Anerkennung: Dieses Gerüst meines alten Lebens löste sich immer weiter auf. Stattdessen wurde all das nach meinem Coming-out zu tollen Extras, und ich erfreute mich umso mehr an den kleinen Dingen im Leben – der Natur, selbstgekochtem Essen, ehrlichen Gesprächen, meiner Beziehung zu mir selbst. Geld wurde zu einem Werkzeug, das ich respektierte, anstatt es zu verschlingen. Dabei erfordert es viel Mut, die eigenen Finanzen kritisch zu betrachten, meint Brooke. Aber an Mut mangelt es der LGBTQ-Community zum Glück nicht.
„Finde heraus, wer und was deine Einstellung zu Geld vielleicht beeinflusst haben könnte“, rät sie. „Und sieh dir genau an, wieso du jetzt alles vielleicht anders empfindest. Irgendwann verstehst du dann, dass deine Einstellung nicht fix ist, sondern meist nur von deinen Annahmen und Vermutungen zurückgehalten wird.“ Und das gilt übrigens auch für die meisten anderen Aspekte des Lebens.
WerbungWERBUNG
Heute bin ich der Schuldenfreiheit so nah wie nie zuvor. Das habe ich der Tatsache zu verdanken, dass ich mir selbst erlaubt habe, mich zu verändern und mich davon zu befreien, für wen ich mich selbst hielt und wer ich glaubte, sein zu müssen.
Denn letztlich weiß es dein Herz immer am besten. Dein Kopf und dein Ego entführen dich vielleicht auf das eine oder andere Abenteuer – aber am Ende muss nur dein Herz wirklich glücklich sein.
Wenn du selbst einmal finanziell nicht weiter weißt oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe brauchen könnte, kannst du die Hotline der TelefonSeelsorge unter 0800 111 0 111 oder 0800 111 0 222 anrufen oder den Chat der TelefonSeelsorge nutzen.