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Der BMI sagt nichts über die Gesundheit – wieso benutzen wir ihn dann noch?

Foto: Megan Madden.
Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um Essstörungen.
Ich erinnere mich nicht so gut daran, wie mein Leben als 18-Jährige aussah, wie ich vermutlich sollte – schließlich ist es noch gar nicht so lange her. An meine frühen Teenagerjahre kann ich mich viel besser erinnern. Das liegt vermutlich daran, dass ich in meinen späten Teenie-Jahren an Magersucht litt und alles tat, um meinen dauernden Hunger zu ignorieren. Stellt sich raus, dass das dafür sorgt, dass du im Nachhinein viel vergisst.
Wenn dein Körper durchgehend im Hungermodus ist, verschwimmt alles irgendwie miteinander. Dadurch fällt es schwer, genau zu wissen, wann was passierte. Eine Erinnerung ist mir aber ganz deutlich im Kopf geblieben: der Moment, an dem ich versuchte, mir wegen meiner Magersucht medizinische Hilfe zu holen. Ich weiß noch, dass ich dazu aufgefordert wurde, mich selbst zu wiegen und zu beschreiben, wie sich meine Essgewohnheiten auf mein Leben auswirkten. Endlich zuzugeben, dass du deinem eigenen Körper Schaden zufügst, ist eine furchtbare Erfahrung. Ich weiß noch, dass ich zu schluchzen begann und um Hilfe flehte. Dennoch: Mit einer Größe von 1,77 Meter und dem kleinsten Körpergewicht, das ich als Erwachsene je gehabt hatte, war mein BMI (Body Mass Index) einfach nicht niedrig genug. In dem Moment, in dem ich endlich zugab, dass ich Hilfe mit meiner Besessenheit von meinem Gewicht brauchte, wurde mir gesagt, ich würde zu viel wiegen, um diese Hilfe in Anspruch nehmen zu können. Ironischer geht es kaum.
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Ich verstehe ja, dass eine gewisse „Grenze“ nötig ist, um denen zu helfen, die es wirklich zu brauchen scheinen. Trotzdem fühlte ich mich in dieser Situation total im Stich gelassen. Ich hatte das Glück, mir stattdessen in einer Privatpraxis Hilfe suchen zu können. Wenn ich mir diese Behandlung aber nicht hätte leisten können, weiß ich nicht, was mit mir passiert wäre.
Das war 2011. Ich habe seitdem erfahren, dass meine Situation längst kein Einzelfall war, hätte mir aber doch gewünscht, dass sich vieles seitdem geändert hätte. Der BMI ist aber auch heute noch regelmäßig der Hauptfaktor bei der Entscheidung, welche medizinische Versorgung dir „zusteht“ – und das, obwohl immer mehr Expert:innen neuere Methoden zur Gesundheitsbewertung einer Person fordern. In manchen medizinischen Bereichen ist die Verwendung des BMI sogar noch geläufiger geworden. Das beeinträchtigt vor allem Menschen mit Essstörungen oder gynäkologischen Beschwerden, sowie trans Personen. Die Ironie des Ganzen: Der Body Mass Index wurde nie dafür entwickelt, die Gesundheit eines Individuums messen zu können. Indem wir ihn aber so interpretieren, kann die Gesundheit vieler Menschen umso stärker in Gefahr geraten.
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Der Body Mass Index wurde vor fast 200 Jahren von Adolphe Quetelet entwickelt und hat, Your Fat Friend zufolge, eine „bizarre und rassistische Vergangenheit“. Er war ursprünglich ein Werkzeug dafür, die Charakteristika des (nach Quetelet) „l’homme moyen“ („der Durchschnittsmann“) zu bemessen, der für ihn das soziale Idealbild war. Also entwickelte er die Gleichung „Körpergewicht (in Kilogramm) geteilt durch Körpergröße (in Metern) zum Quadrat“. Quetelet war aber Statistiker, nicht Physiker – und demnach gilt: Seine Gleichung wurde dafür entwickelt, gesellschaftliche gesundheitliche Entwicklungen zu messen, nicht die individuelle Gesundheit. Die Gleichung berücksichtigt nicht die Muskelmasse, das Alter, das Geschlecht, die Fitness, die Abstammung oder irgendwelche anderen Aspekte, weil sie dafür eben nicht gedacht war. Noch dazu waren die Menschen, auf denen diese Formel basierte, größtenteils schottischer und französischer Abstammung – was im 19. Jahrhundert eine vorrangig weiße, angelsächsische Population bedeutete. 
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Der Quetelet-Index (wie der BMI ursprünglich hieß) geriet jahrelang in Vergessenheit. Während dieser Zeit versuchte man die Gesundheit einer Person mithilfe diverser anderer Methoden zu bestimmen. Erst 1972 wurde der Quetelet-Index zum Body Mass Index umdefiniert, in einem Paper von Ancel Keys und anderen. Der BMI (wie er damals getauft wurde) galt als „wenn schon nicht völlig zufriedenstellend, dann doch [als] mindestens so gut wie jeder andere relative Gewichts-Index als Indikator für relatives Übergewicht“. (Zuvor war das Körperfett beispielsweise mithilfe von Haut-Schiebereglern oder beim Wiegen unter Wasser (Körperdichte) gemessen worden.) Aber auch Keys nutzte für seine BMI-Analyse die Daten einer angelsächsischen Population, woraufhin viele Kritiker:innen „die Generalisierbarkeit und Anwendbarkeit des BMI und seiner Grenzen für andere Populationen“ sowie auch dessen „Eignung zur Messbarkeit überschüssigen Fetts“ hinterfragten. Die Studie betonte zwar, dass ihre BMI-Analyse durchaus einen Zusammenhang zwischen Körpergewicht und -größe bestätigte – allerdings „mit Ausnahme der kleinen Gruppe an Bantu-Männern“ (Bantu ist ein Überbegriff, der sich auf Sprecher:innen der Ntu-Sprachen bezieht, die größtenteils aus dem subsaharischen Teil Afrikas stammen). Diese Ausnahme empfanden sie jedoch nicht als Grund, den BMI anzuzweifeln. Und deswegen ist der BMI – trotz dieser Probleme, und trotz immer weiterer Beweise dafür, dass es nicht die eine Form von Gesundheit und einem gesunden Aussehen gibt – auch bis heute das einfachste, und somit das geläufigste, Mittel zur individuellen Gesundheitsmessung. Wie Dr. Sylvia R. Karasu in Psychology Today schreibt: „Trotz all der Fortschritte, die die Wissenschaft seit Quetelets Index aus dem 19. Jahrhundert gemacht hat, sind wir noch immer weit davon entfernt, unser Körperfett in einer medizinischen Praxis exakt und unkompliziert messen zu lassen.“
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Den BMI als Maß der individuellen Gesundheit zu betrachten, ist laut der Ernährungswissenschaftlerin Katherine Kimber „inkorrekt und naiv“. Sie erklärt weiter: „Ein höheres Gewicht zu haben, heißt nicht, jemand sei damit ungesund. Genauso bedeutet ein niedrigeres Gewicht nicht, eine Person sei gesund. Das kann zu Fehldiagnosen führen, Stereotypen bekräftigen, die Stigmatisierung größerer Körper verstärken, die Qualität der medizinischen Versorgung verschlechtern und somit letztlich auch die Gesundheit von Patient:innen verschlimmern.“ Das sind nicht bloß Theorien. Der BMI überschätzt bei Schwarzen Menschen zum Beispiel deren Körperfettanteil sowie das gesundheitliche Risiko, und unterschätzt wiederum gesundheitliche Risiken in asiatischen Communitys. Noch dazu konzentrieren sich viele Untersuchungen rund um den BMI ausschließlich auf Menschen, denen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde – ungeachtet der Tatsache, dass der Fettanteil des Körpers bei Menschen, die bei der Geburt als weiblich kategorisiert wurden, ganz anders aussehen kann.

Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass das Gewicht – oder der BMI – nicht bestimmen sollte, für wie krank jemand gehalten wird.

Tom Quinn, director of external affairs bei BEAT
Wenn du also vom BMI als „übergewichtig“ oder „adipös“ eingeordnet wirst, wird deine Gesundheit (oder eben mangelnde Gesundheit) daran gemessen – unabhängig davon, wie gesund du wirklich bist. Genauso giltst du innerhalb der „gesunden“ Werte von 20 bis 25 auf der BMI-Skala als „gesund“, selbst wenn du seit Tagen keine volle Mahlzeit mehr gegessen hast. Insbesondere bei der Behandlung von Essstörungen kann sich das direkt auf die Heilungschancen einer Person auswirken, wie mir Tom Quinn von der britischen Wohltätigkeitsorganisation für Betroffene von Essstörungen Beat erklärt. „Es gibt immer mehr Beweise dafür, dass das Gewicht – oder der BMI – nicht bestimmen sollte, für wie krank jemand gehalten wird. Du kannst nicht erkennen, ob es jemandem nicht gut geht, indem du dir diese Person einfach nur ansiehst. Wir müssen unbedingt das Vorurteil abschaffen, nur stark untergewichtige Menschen könnten eine Essstörung haben. Mediziner:innen erkennen eine Essstörung oft nicht, und das gilt besonders häufig für Patient:innen, die eben nicht untergewichtig sind. Das kann allerdings zu potenziell gefährlichen Verzögerungen der Behandlung führen.“ Wer demnach trotz einer Essstörung einen „zu hohen“ BMI hat, um von Mediziner:innen wirklich als „gefährdet“ betrachtet zu werden, sieht demnach häufig nur eine Option: abzunehmen, um doch noch als „untergewichtig“ zu gelten und dann hoffentlich Hilfe zu bekommen. Und auch mehrgewichtigen Menschen wird häufig nahgelegt, sie müssten abnehmen, um Zugang zu gewissen medizinischen Eingriffen zu bekommen, die für sie anhand ihres BMIs als zu gefährlich gelten.
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So ging es auch Poppy (22 Jahre alt, they/them). Poppy wurde aufgrund eines zu hohen BMI-Werts eine Laparoskopie (Bauchspiegelung) verwehrt – die einzige Option, mit der seine:ihre Endometriose offiziell hätte bestätigt werden können. Nach einer viermonatigen Wartezeit bekam Poppy endlich einen Termin mit einer Gynäkologin im Krankenhaus. „Als Allererstes wurde dort mein BMI bestimmt. Nach einer ziemlich standardmäßigen Diskussion mit meiner Gynäkologin, die, sagen wir, nicht gerade nett zu mir war, und nach einer überraschenden gynäkologischen Untersuchung (nicht ideal für Überlebende eines sexuellen Traumas!) sagte sie mir, ich hätte eigentlich nur ganz normale Periodenkrämpfe. Sie meinte, sie könne mich nicht für eine Laparoskopie freigeben, weil mein BMI zu hoch sei. In anderen Worten: Ich war zu fett. Stattdessen empfahl sie mir, drei Monate lang die Pille einzunehmen und wiederzukommen, wenn ich zehn Kilo abgenommen hatte.“

Es fühlte sich fast so an, als hätte man mich zum Abnehmen gezwungen. So nach dem Motto: Wenn ich abnehme, bekomme ich die OP, die ich brauche – selbst wenn ich eigentlich schon vorher fit und gesund war.

Dani
Für Dani (29, sie/ihr) wurde es noch schlimmer. Sie wollte sich die Brüste verkleinern lassen, um ihre Rücken- und Schulterschmerzen loszuwerden. „Ich trage rund um die Uhr einen BH. Wenn ich nämlich keinen trage, tut es weh. Beim Sport muss ich zwei Sport-BHs übereinander tragen.“ Sie sprach deswegen mit ihrer Hausärztin, die ihr sagte, sie müsse ihren BMI reduzieren (ohne dass Dani überhaupt gewogen wurde), bevor sie Dani dann doch auf die Waage stellte und ihren BMI (29) ermittelte. „Sie fragte mich, was ich am Vortag alles gegessen hatte. Als sie dann hörte, dass das nur gesunde Sachen gewesen waren, empfiehl sie mir eine Diät und meinte: ‚Zucker ist schlechter für Sie als Rauchen!‘ Dann sagte sie noch: ‚Je niedriger der BMI, desto besser erholt man sich von einer OP!‘ Und ich weiß einfach, dass das nicht stimmen kann!“ (Tatsächlich hängt das von der Art der Operation ab.) Die beiden sprachen so viel über den Gewichtsverlust, dass sich Dani nach dem Termin nicht mal sicher war, ob sie jetzt wirklich an eine:n Chirurg:in überwiesen worden war (sie musste erst im Krankenhaus anrufen, wo man ihr die Überweisung bestätigte). Dani nahm daraufhin ab, obwohl sie das eigentlich gar nicht wirklich gewollt hatte. „Es fühlte sich fast so an, als hätte man mich dazu gezwungen. So nach dem Motto: Wenn ich abnehme, bekomme ich die OP, die ich brauche – selbst wenn ich eigentlich schon vorher fit und gesund war.“ Nachdem sie also abgenommen und 18 Wochen gewartet hatte, meldete sich das Krankenhaus bei ihr. „Sie schrieben mir eine zweizeilige Nachricht, in der stand, ich ‚bräuchte derzeit keinen Termin‘, und wenn ich das anders sähe, sollte ich mir eine neue Überweisung von meiner Hausärztin holen. In dem Brief stand kein Grund dafür, und nirgendwo stand eine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme.“
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Es ist vermutlich kein Zufall, dass diese beiden Eingriffe ausgerechnet dazu hätten dienen sollen, Schmerzen zu erleichtern, unter denen so viele Frauen und Menschen, die bei der Geburt als weiblich registriert wurden, leiden – genau die Schmerzen, von denen wir schon wissen, dass sie oft nicht ernst genommen werden. Dasselbe erleben oft auch trans Menschen, die Zugang zu Formen einer medizinischen Transition suchen. Ein hoher BMI kann in solchen Fällen eine simple Ausrede dafür sein, diese Schmerzen der Betroffenen zu missachten und sie, wie in Poppys Fall, entweder als „normal“ abzustempeln, oder in Danis Fall sogar als etwas Beneidenswertes: „Irgendwann fing ich an zu weinen, und meine Ärztin sagte mir, viele Frauen wären sicher neidisch auf mich. Weil ich große Brüste habe, schätze ich – nicht, weil ich an einem Montag in der Mittagspause heulend bei meiner Hausärztin rumsitze.“

Mediziner:innen verbringen tatsächlich sogar weniger Zeit mit mehrgewichtigen Patient:innen, weil sie bei diesen Menschen davon ausgehen, sie seien faul oder würden ihre Anweisungen sowieso nicht befolgen.

Katherine Kimber, Ernährungswissenschaftlerin
Im Fall der Leute, mit denen ich für diesen Artikel gesprochen habe, wurden auch die psychologischen Auswirkungen dessen, einen Gewichtsverlust zu empfehlen oder sogar zu verschreiben, komplett missachtet. Poppy wurde zuvor überhaupt nicht gefragt, ob er:sie bereits Erfahrung mit Essstörungen hatte (ja, aber in der Vergangenheit), und Dani bekam die Frage erst am Ende ihrer Untersuchung gestellt, „nachdem sie mir mehr als zehn Minuten lang eingeredet hatte, ich sollte unbedingt abnehmen, und mir absurde Tipps dazu gegeben hatte (‚Leg dir bei der Arbeit ein einziges Stück Bitterschokolade in den Kühlschrank!‘).“
Katherine erklärt mir, dass „Mediziner:innen tatsächlich sogar weniger Zeit mit mehrgewichtigen Patient:innen verbringen, weil sie bei diesen Menschen davon ausgehen, sie seien faul oder würden ihre Anweisungen sowieso nicht befolgen“. Sowohl für Dani als auch für Poppy „war das zu spüren. Dadurch wurden die beiden von einer ordentlichen Diagnose und der damit einhergehenden Behandlung abgehalten“. In anderen Worten: Die Stigmatisierung mehrgewichtiger Menschen im medizinischen Kontext erhält genau die gesundheitlichen Probleme, die Ärzt:innen durch Ernährungs- und Diätempfehlungen ja eigentlich beheben wollen.
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Wie Katherine sagt: „Gegen die Mehrgewichtigkeit einen Krieg zu führen, wird niemandes Gesundheit verbessern. Stattdessen sollten wir uns auf positive gesundheitliche Verhaltensweisen konzentrieren und aufhören, das Körpergewicht und die Körpergröße unter dem Mikroskop zu betrachten.“ Sollten wir den BMI also komplett abschaffen? Vielleicht. Auf jeden Fall sollten wir uns aber von der Vorstellung lösen, die Gesundheit ließe sich durch eine einzige Zahl darstellen. Indem wir nämlich Menschen auf Werte auf einer Skala reduzieren, verlieren wir ihr tatsächliches Wohlbefinden aus dem Blick – und darunter leidet unser aller Gesundheit.
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Wenn du selbst an einer Essstörung leidest oder eine Person kennst, die eventuell Hilfe braucht, kannst du dich beispielsweise per Email, Chat, Video-Beratung oder Telefon an das ANAD e.V. Versorgungszentrum Essstörungen wenden.
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