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Warum der Gebärmutterhals die verkannte erogene Zone ist

Die meisten Frauen assoziieren mit dem Gebärmutterhals eher negativ behaftete Dinge wie schmerzhafte Geburten, gynäkologische Abstriche oder schlimmstenfalls Krebs. In Anbetracht der Tatsache, dass die ein oder andere Frau – mich nicht ausgenommen – schonmal eine sogenannte Konisation hinter sich hat, bei der abnormes Zellgewebe von der sogenannten Zervix operativ entfernt werden muss, vielleicht auch nicht ungewöhnlich. Ich verbinde jedenfalls seitdem mit dem Gebärmutterhals nicht viel mehr, als das vierteljährliche Bangen um positive Testergebnisse und tue mich schwer, in ihm etwas anderes zu sehen. Mit der Einstellung stoße ich neuerdings aber eher auf Widerstand, denn diesem bisher etwas stiefmütterlich behandelten Part des weiblichen Geschlechts kommt seit kurzem eine revolutionäre neue Rolle zu: die Zervix ist als erogene Zone plötzlich in aller Munde. Zugegebenermaßen erst einmal ein etwas unbehagliches Terrain, auf das ich mich für meine Recherchen begebe, denn die besagten Abstriche, denen ich mich regelmäßig unterziehe, sind alles andere als angenehm, und umso ferner der Gedanke an der selben Stelle sexuell erregbar sein zu sollen. Und doch muss ich natürlich wissen, was dran ist, an der Theorie der 1976 in Neuseeland geborenen und heute in Melbourne lebenden Sexologin Olivia Bryant. Im Februar diesen Jahres erklärte sie den Gebärmutterhals offiziell zum neuen Zentrum der Lust. Was bei mir erst einmal Misstrauen auslöst, bezeichnet Bryant, ihresgleichen Vertreterin des körperorientierten Feminismus, als kollektive Unwissenheit der Frauen. Sie ist überzeugt: die Zervix ist ein lediglich in Vergessenheit geratenes, sexuell intaktes wie erogenes Organ mit unheimlichen Kapazitäten, die sie Frauen weltweit mit Hilfe ihres Online-Programms Awaken The Cervix jetzt wieder näher bringen möchte: „Unsere Hauptintention ist es, einer Frau ihr wirkliches orgastisches Potenzial aufzuzeigen und sie von ihrem Trauma zu heilen, das unter anderem bedingt sein kann durch sexuelle Veranlagung, Scham und negative Erfahrungen aus der Vergangenheit, wie zum Beispiel Missbrauch. Wir versuchen ihnen beizubringen, ihr Nervensystem unten rum wieder auszubilden und weiterzuentwickeln, damit sie sich zukünftig sicher genug fühlen, sich zu entspannen und den Orgasmen neu zu definieren,“ erklärt Olivia Bryant.
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Wie kann es sein, dass die Zervix uns Frauen angeblich intensivere Orgasmen beschert, ohne dass wir davon bisher etwas mitbekommen haben sollen?

Immerhin liegt sie zumindest seit jeher da, wo erotische Zweisamkeit in körperlicher Synthese gipfelt. Fakt ist: der Gebärmutterhals ist ein sehr empfindsames Organ. Das einzige wohlgemerkt, das drei Hauptnerven für sich beansprucht, und selbst seine empfindsame Oberfläche ist von einem fein verzweigtem Nervengeflecht überzogen. So ein Aufwand also für einen die meiste Zeit eher ungenutzten Geburtskanal? Es scheint tatsächlich, als sei er naturgegeben zu mehr bestimmt. Soweit so gut. Beim eigenhändigen erkunden dieses bisher wenig erforschten Gebiets meines Körpers bleibt das erst einmal aber wohlwollende Theorie. Denn um ehrlich zu sein: Ich empfinde nichts. Dass ein Gebärmutterhals taub ist, sei dabei keineswegs selten, wenn auch nicht normal. Vielleicht ist das in Anbetracht der Tatsache, dass Frauen noch immer glauben, sie müssten sich sexuell anpassen, ebenfalls nicht verwunderlich? Um meine vielen Fragen zu beantworten, habe ich mich also an eine gewandt, die es wissen muss: Olivia Bryant selbst.
Vor vier Jahren begann sie als Sex-Coach zu arbeiten, davor hat sie Kunstprojekte initiiert, die meist einen sexuellen Hintergrund oder sogar ihre eigene sexuelle Unsicherheit zum Thema hatten. „Ich glaube das war meine Art, mich zu heilen. Wie die meisten von uns bin ich in einer Familie groß geworden, in der nicht über Sex gesprochen wurde. Als ich dieses Trauma mit Mitte Zwanzig durchbrechen konnte, entschied ich mich, anderen Frauen zu helfen. Angefangen wieder als Kunstprojekt, habe ich Geschichten Gleichgesinnter gesammelt, bin an der Universität damit aber nur auf Unverständnis gestoßen.“ Diese Erfahrungsberichte sollen ihr später noch hilfreich sein und waren schließlich Impuls, ihre eigene Selbstheilung weiter voranzutreiben. Dafür beschließt sie ins Ausland zu gehen und den Rat eines sogenannten Bodyworkers hinzuziehen. Der stellt fest, was viele Frauen weltweit mit ihr gemein zu haben scheinen: Ihr Gebärmutterhals ist taub und völlig verspannt. Sie bekommt den Rat, ihn für 21 Tage zu stimulieren. Um sich zu motivieren und selbst am „Ball zu bleiben“, gründet sie eine Support-Gruppe im Internet. Das 21 Days Programm war geboren. Binnen kürzester Zeit geht es viral und hat bis heute bereits mehr als 1200 Frauen erreicht. Was in der Tantralehre schon lange fester Bestandteil und als epischster aller Orgasmen bekannt ist, wurde erst nach und nach auch in der westlichen Gesellschaft wissenschaftlich belegt. Dr. Barry Komisaruk hat sich beispielsweise in seinem Buch The Science of Orgasm ausführlich damit auseinandergesetzt. Gerade medizinische Eingriffe können dazu führen, dass sich die Zervix zunehmend verhärtet und sie dadurch ihrer naturgegebenen Fähigkeiten beraubt wird. Aber was genau ist denn nun dieses naturgegebene Geheimnis? „Wenn eine Frau während des Geschlechtsverkehrs genügend Oxytocin, sogenannte Liebeshormone, im Körper produziert, ist die Zervix in der Lage DMT (ein schnell und kurz wirksames Halluzinogen mit starker psychoaktiver Wirkung) freizusetzen, einen Stoff, der auch in der schamanischen Pflanzen-Medizin, beispielsweise beim Ayahuasca, zum Einsatz kommt. Das erfordert die totale Hingabe und 100%-iges Vertrauen einer Frau zu ihrem Partner oder ihrer Partnerinn. Die Zervix lehrt uns also, unserer Weiblichkeit wieder mehr Macht einzuräumen. Aus diesem Grund sehen einige unser Projekt Self:Cervix sogar vergleichbar mit einer Bewegung des sexuellen Aktivismus. Eine Frau, die sich der Möglichkeiten ihres Gebärmutterhalses bewusst ist, weiß diese für sich einzusetzen. Sie wird ihrem Partner nicht erlauben, zu früh einzudringen und bewusster mit gynäkologischen Eingriffen, die die Zervix betreffen, umgehen. Bei meiner letzten Arztkontrolle habe ich den Arzt gebeten noch kurz zu warten bis ich soweit bin und mich entspannt habe. Ich habe mich plötzlich so mächtig gefühlt.“
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Den Gebärmutterhals zu erkunden ist wie Yoga oder Meditation. Es gibt kein konkretes Ziel, außer zu fühlen ohne zu beurteilen.

Olivia Bryant
Das klingt erst einmal alles sehr plausibel und so mache ich mich also nach dem Gespräch mit Olivia auf, meine Zervix besser kennenzulernen, ohne mich dabei aber unter Druck zu setzen. Denn ihr wichtigster und eindringlichster Rat klingt noch immer nach: Die Zervix wieder zum Leben zu erwecken, bedarf Zeit! „Der Schlüssel sind Massagen, um die Spannungen und Schmerzen ein für allemal zu lösen. Das Gewebe im und rund um den Gebärmutterhals kann negative Emotionen jedweder Art sehr lange speichern. Wenn Frau diese aber überwindet, kann sich das in einem völlig neuen Wohlbefinden in allen Lebenslagen bemerkbar machen.” Während der weibliche Orgasmus ohnehin viel komplexer ist, als der männliche, spielt sich bei uns Frauen viel im Kopf ab. Das ist natürlich kein Geheimnis. Neu ist mir allerdings, das sich negative Erfahrungen auch im Genitalbereich festsetzen sollen und erst mit viel Geduld wieder beseitigt werden müssen, um vergleichbare ekstatische und orgastische Erlebnisse zu erfahren. „Den Gebärmutterhals zu erkunden ist wie Yoga oder Meditation. Es gibt kein konkretes Ziel, außer zu fühlen ohne zu beurteilen. Und ja, zumeist löst das erst einmal Frustration und ein Gefühl der Unzulänglichkeit und Ungeduld aus. Aber das gilt es anzunehmen, sich der Frage zu stellen, wen treffen wir auf diesem Weg? Deshalb haben wir es eine Reise genannt. Die Fähigkeit zur Heilung liegt in uns selbst. Ich begann meine Zervix beispielsweise erst nach drei Durchläufen des Programms zu spüren. Sprich, ich hatte meine erste orgastische Erfahrung nach etwa acht Monaten. Aber natürlich ist das von Frau zu Frau verschieden.“ Das beruhigt mich ein wenig, denn nach zwei Wochen hat sich bei mir immer ehrlicherweise immer noch nicht viel getan.

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