Wenn wir die Frage stellen, was die Ursache für Drogensucht ist, würden viele Menschen wahrscheinlich antworten: “Na selbstverständlich Drogen!”
Diese tiefe Überzeugung ist der Grund für einen weltweiten und jahrzehntelangen Krieg gegen Drogen, der in vielen Ländern bis heute andauert.
Die wahre Ursache von Sucht ist jedoch nicht die Droge an sich - es ist vielmehr eine schmerzhafte Erfahrung, die ein Ungleichgewicht im Leben auslöst. Und diese schmerzhafte Erfahrung lässt sich zumeist auf Erlebnisse in der Kindheit zurückführen. Am häufigsten trifft das auf emotionalen und körperlichen Missbrauch zu, aber es gibt auch weniger offensichtliche Auslöser.
“Nicht alle Abhängigkeiten haben ihren Ursprung in Missbrauch oder Traumata, aber ich bin überzeugt, dass sie alle auf schmerzhafte Erfahrungen zurückgeführt werden können”, sagte Gabor Maté, ein kanadischer Arzt, der sich seit Jahrzehnten mit Sucht und der Bekämpfung von Abhängigkeiten beschäftigt.
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Schmerz im Zentrum der Abhängigkeit
Maté glaubt, dass Schmerz im Zentrum jeder Abhängigkeit steht - egal, ob es Drogensucht, Internet-Abhängigkeit, Spielsucht, Kaufsucht, Magersucht oder Sucht nach Arbeit ist.
“Die Wunde mag nicht sehr tief erscheinen und der Schmerz nicht unerträglich - vielleicht ist die Verletzung sogar vollkommen verborgen - aber sie ist da”, sagte Maté.
Und wer Schmerz empfindet, der wird versuchen, diesem Schmerz zu entkommen.
Sucht ist die Krebserkrankung der Seele
“Wer seelisch belastet ist, sucht nach Entlastung und findet diese unter anderem in Alkohol, Drogen oder Medikamenten”, schreibt Psychotherapeut Ralf Schneider in “Die Suchtfiebel”.
Das bedeutet aber nicht, dass jeder, der eine schmerzhafte Erfahrung in der Kindheit gemacht hat, später auch eine Abhängigkeit entwickelt. Jeder Mensch geht mit Verletzungen ein wenig anders um.
Es gibt jedoch Erlebnisse in der Kindheit, die Schmerz verursachen und dadurch Abhängigkeiten begünstigen. Sie können frühzeitig von Eltern vermieden werden, indem sie sich bewusst machen, dass bestimmte Erziehungsmethoden Schaden verursachen.
6 Erlebnisse in der Kindheit, die Schmerz auslösen:
1. Die fehlende Befriedigung von Grundbedürfnissen
Geborgenheit, Schutz und Liebe sind ebenso wichtige Grundbedürfnisse von Babys und Kleinkindern wie Hunger und Durst. Werden sie nicht befriedigt, gerät das Kind in eine Notsituation: Es ist schließlich von den Eltern abhängig und es hat nur seine Stimme und möglicherweise noch keine Sprache, um sich mitzuteilen.
Wenn Eltern ihre Kinder zum Beispiel schreien lassen - etwa, weil sie glauben, dass Babys so lernen, allein einzuschlafen (was nicht der Fall ist - die Babys haben nicht aus der Erfahrung gelernt, sie haben schlichtweg aufgegeben), können sie damit unwissentlich erheblichen Schaden anrichten.
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Das Schreienlassen hat keinerlei pädagogischen Wert
Babys und Kleinkinder sind geistig noch nicht weit genug entwickelt, um logische Schlussfolgerungen aus dem Verhalten ihrer Eltern zu ziehen. Sie weinen nicht, um ihre Eltern zu ärgern oder zu manipulieren, sondern weil sie irgendein Problem, irgendein Bedürfnis haben.
Viele Kinder fühlen sich nur in der Nähe ihrer Eltern sicher genug, um einschlafen zu können. Denn genau da, in der Nähe ihrer Eltern, sind Kinder nunmal am sichersten aufgehoben und aus Sicht der Evolution am besten geschützt.
Schreienlassen schädigt Körper und Seele
Wenn das Kind also weint, dann ruft es nach seinen Eltern. Reagieren die Eltern jedoch nicht darauf, entsteht Stress. Das Hormon Cortisol wird vermehrt ausgeschüttet. Dies kann Experten zufolge das zentrale Nervensystem sowie die Gehirnentwicklung beeinträchtigen. Und neben diesen körperlichen Auswirkungen bleiben natürlich auch die Seelischen nicht aus.
Wenn Kinder das Gefühl haben, so viel schreien zu können, wie sie wollen und doch nicht gehört zu werden, entstehen Schmerz und Unsicherheit, in besonders schlimmen Fällen sogar Traumata.
Bindungsprobleme, Schlafstörungen, Ängste und Depressionen können mögliche Folgen sein. Aber auch Abhängigkeiten und Süchte.
Schwere Versagungen in der Befriedigung von Grundbedürfnissen, die Dauerstress und Hilflosigkeit hervorbringen, können sich laut Schneider auf die Bereitschaft zum Drogenkonsum auswirken. In der “Suchtfiebel” schreibt er: “Offensichtlich erzeugt der frühe Stress eine Veränderung im Gehirn.”
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2. Die Erfahrung, dass Liebe an Bedingungen geknüpft ist
Fast alle Eltern würden voller Überzeugung behaupten, dass sie ihr Kind bedingungslos lieben. Es sind jedoch vergleichsweise wenige, denen das wirklich und in letzter Konsequenz gelingt.
“Es gibt ganz wenige Kinder auf der Welt, die das Glück hatten, um ihrer Selbst willen geliebt zu werden”, sagte der bekannte deutsche Hirnforscher Gerald Hüther der Huffington Post.
Dabei ist genau das aus seiner Sicht die Grundvoraussetzung für eine glückliche Kindheit:
“Ein Kind muss spüren, dass es so wie es ist richtig ist. Dass es um seiner Selbst willen und bedingungslos geliebt wird. Das ist die wichtigste Erfahrung, die jedes Kind braucht”, sagte Hüther der HuffPost.
Zuneigung im Tausch gegen Gehorsam
Kinder sind dann am glücklichsten, wenn sie nicht das Gefühl haben, sich anstrengen zu müssen, um von ihren Eltern geliebt zu werden.
Viele Kinder haben jedoch das Gefühl, dass ihre Eltern sie mehr lieben würden, wenn ihre Schulnoten besser wären. Oder wenn sie immer artig und hilfsbereit wären, nie widersprechen oder in Wut ausbrechen würden.
Es ist leider bis heute eine gängige Erziehungsmethode, Kinder mit Zuneigung zu belohnen, die sich so verhalten, wie ihre Eltern (oder auch Lehrer, Erzieher) das gerne hätten. Und die meisten Erwachsenen meinen das nicht einmal böse - ihnen ist schlichtweg nicht bewusst, dass dieses Verhalten extrem verletzend ist.
Ein Kind, das spürt, dass es nicht bedingungslos geliebt wird, hat ein sehr großes Problem. Denn Kinder sind von der Zuneigung ihrer Eltern abhängig - das hat die Natur so vorgesehen.
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Das empfindliche Band der Liebe
Aus diesem Grund kommen sie bereits mit einem sicheren Band des Vertrauens und der Verbundenheit zu ihren Eltern zu Welt. Weil sie ihre Eltern lieben und sie brauchen, sind Kinder bereit, alles zu tun, um ebenfalls geliebt zu werden, damit sie sich weiterhin auf den Schutz und die Fürsorge der Eltern verlassen können.
Doch diese besondere Verbindung, dieses natürliche Band des Vertrauens zwischen Eltern und Kind, ist empfindlich.
“Wenn ein Kind zum Objekt elterlicher Erwartungen, Wünsche, Ziele, Vorstellungen oder Maßnahmen gemacht wird, dann zerreißt dieses Band zu den Eltern”, sagte Hüther. “Und das geht mit einem großen Schmerz einher.”
Der Schmerz des unvollkommenen Kindes
Dieser Schmerz ist sogar messbar. In wissenschaftlichen Versuchen konnte nachgewiesen werden, dass dies derselbe Schmerz ist, den der Körper auch bei physischem Schmerz signalisiert. Es werden dieselben Bereiche im Gehirn aktiviert, die auch betroffen sind, wenn wir körperliche Schmerzen erleben.
Diesen Schmerz, der entsteht, wenn wir als Kind das Gefühl haben, nicht vollkommen zu sein, verarbeitet jeder Menschen anders.
Manche Menschen werden ihr Leben lang versuchen sich anzustrengen, um geliebt und akzeptiert zu werden. Andere werden sich möglicherweise mit schmerzlindernden Substanzen behelfen.
3. Ein überfürsorgliches Verhalten der Eltern, das zu Verunsicherung führt
“Wenn man Suchtkranke rückblickend fragt, welche seelischen Ursachen ihr Substanzkonsum gehabt hat, erhält man unzählig viele plausible Antworten. Überrepräsentiert scheinen diejenigen zu sein, die sich nicht trauen, Risiken einzugehen, die sich ‘Mut antrinken’ oder ihre Hemmungen durch Drogenkonsum herabsetzen, die also Angst verringern”, schreibt Schneider in der “Suchtfiebel”.
Die Bereitschaft, Risiken einzugehen und furchtlos auf Herausforderungen zuzugehen, wird zu großen Teilen in der Kindheit geformt.
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Kinder müssen hinfallen dürfen
Kinder müssen unbeaufsichtigt spielen, sie müssen sich sogar in gewissem Maße in Gefahr begeben, um zu erkennen, wo ihre eigenen Grenzen liegen.
“Es kann kein Kind lernen, wie man aufsteht, wenn es nie hinfällt. Es kann kein Kind laufen lernen, wenn ihm die Steine weggeräumt werden”, sagte Gerald Hüther der HuffPost.
So schwer es auch fällt - man tut einem Kind wirklich keinen Gefallen, wenn man es vor jeder Gefahr beschützt.
4. Der Mangel an freiem Spiel, der zu Fantasielosigkeit führt
Eine lebhafte Fantasie könnte ein sehr effektiver Schutz vor der Entwicklung von Suchtkrankheiten sein. Zu dieser Erkenntnis kommt Eckhard Schiffer, Autor der Bestsellers “Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde”.
Bei seiner jahrelangen Arbeit mit Suchtkranken stellte Schiffer fest, dass Öde und Langeweile Vorboten späterer Abhängigkeiten sein können. Viele Patienten würden Suchtmittel benutzen, um einer inneren Leere zu entkommen.
Und diese Öde und Langeweile entsteht aus seiner Sicht durch einen Mangel an Fantasie, die wiederum auf einen Mangel des freien Spiels in der Kindheit zurückgeht - ein Problem, von dem heute immer mehr Kinder betroffen sind.
Der Angriff auf das freie Spiel
Das freie Spiel wird durch zwei entscheidende Entwicklungen beeinträchtigt: Zum einen bleibt Kindern immer weniger Zeit zum Spielen, weil viele Eltern wollen, dass ihre Kinder neben der Schule in Sport-, Musik- oder Sprachkursen weiter gefördert werden.
Zum anderen wird heute immer mehr in das kindliche Spiel eingegriffen, sodass es seine Spontanität und Regellosigkeit verliert; Es wird weniger um des Spielens Willen gespielt und mehr, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen. Wir greifen viel zu häufig in das kindliche Spiel ein, indem wir organisieren, zeigen, “wie es besser geht”, erklären, dass Bäume grüne und nicht blaue Blätter haben.
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Kreativität schützt den Geist
Kreativität und Fantasie entstehen jedoch genau da, wo das Kind frei sein darf. Wo alles erlaubt und alles möglich ist. Ein Kind, das ausreichend spielen darf, wird sich nicht langweilen. Es wird immer neue Möglichkeiten finden, sich zu beschäftigen und dafür braucht es nicht einmal Spielzeug.
Die so gewonnene Kreativität wird ihm ein Leben lang helfen, Lösungen für die komplexesten Probleme zu finden. Um die Ecke zu denken, sein Denken nicht durch andere einschränken zu lassen. Und sie wird es vor der Öde und Leere bewahren, die Abhängigkeit und Sucht - und sei es “nur” eine Konsumsucht, Kaufsucht oder Spielsucht - begünstigt.
5. Das Leistungsprinzip unserer Gesellschaft, dem Kinder unterworfen werden
Was Kinder heute leisten müssen, ist enorm. Schule um acht Uhr morgens, Konzentration und möglichst rege Beteiligung in allen Fächern, anschließend Hausaufgaben und außerschulische Aktivitäten - schon Kinder haben einen straffen Zeitplan, arbeiten also teilweise so viel wie Erwachsene.
Und das ist alles in Ordnung, sobald man nicht aus dem Raster fällt, hinter den Erwartungen zurückbleibt oder das schnelle Tempo einfach nicht mitgehen kann.
Schon im Kindergarten wird den Kleinsten beigebracht: Nur wer hart arbeitet, kann erfolgreich sein. Und nur wer erfolgreich ist, kann glücklich sein.
Kinder sollen funktionieren und Leistung erbringen
Wir bläuen unseren Kindern ein, dass sie gute Noten brauchen, um später mithalten zu können. Kommen sie mit einer Drei nach Hause, machen wir ihnen klar, dass sie doch auch eine Zwei haben könnten, wenn sie sich nur ein bisschen mehr anstrengten. Was viele Kinder aber hören, ist: Du würdest uns besser gefallen, wenn du bessere Noten hättest. Eine Fünf auf dem Zeugnis würde uns sehr enttäuschen.
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“36 Prozent aller Eltern sind bereit, ihren zehnjährigen Kindern Arzneimittel zur Verbesserung der Konzentration zu geben”, schreibt Schneider in der “Suchtfiebel”. Dieses Leistungsstreben fordert jedoch seinen Preis: “Unter den guten Schülern ist der Anteil derjenigen, die regelmäßig Medikamente konsumieren, am höchsten.”
Über solche karriere- und kulturbeflissenen Familien schreibt Schiffer:
“Hier wird eine andauernde innere Friedlosigkeit erzeugt, denn die Leistung der eigenen Kinder steht im Vergleich zu der der jeweils anderen. Die Szene wird von Konkurrenz und Marktwert beherrscht. Was ist mein Marktwert? Wie steche ich meinen Konkurrenten aus?”
Das falsche Selbst vergiftet die Seele
So entstünde schließlich ein falsches Selbst. “Und das ist wegen der inneren Friedlosigkeit sucht- oder dopinggefährdet.”
Unsere Leistungsgesellschaft macht diejenigen zu Verlierern, die nicht mithalten können. Wer die Erwartungen nicht erfüllt, versucht häufig, sich zu verbiegen - jenes falsche Selbst zu erschaffen, um nicht ausgeschlossen zu werden.
Der daraus resultierende Stress, das andauernde Streben nach Erfolg und Glück, das doch scheinbar nie wirklich erreicht werden kann, ist Gift für die Seele. Für Kinderseelen noch viel mehr als für Erwachsene.
Das ständige Gefühl, nicht gut genug zu sein, löst einen Schmerz aus. Vielleicht einen, der zunächst unter der Oberfläche schlummert, wie Maté es ausdrückte, aber eben einen, der durchaus spürbar ist.
Es ist genau dieses Leistungsstreben, das zu den neuen Volkskrankheiten wie Depressionen und Burnout führt - und das ein Bedürfnis nach Ablenkung, Flucht und nach Betäubung auslösen kann.
6. Die Angst vor dem Versagen, die Eltern auf ihre Kinder übertragen
Es ist nicht leicht, heute ein Kind zu erziehen und viele Eltern fühlen sich stark unter Druck gesetzt. Hinzu kommt häufig die Angst, zu versagen. Was, wenn mein Kind in der Schule nicht gut genug ist? Was, wenn es in dieser globalisierten Leistungsgesellschaft nicht mithalten kann?
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Viele Eltern wollen ihre Kinder beschützen und greifen deshalb sehr stark in ihr Leben ein. Sie planen ihre Freizeit, sie greifen in ihr Spiel ein, sie erwarten, dass ihr Kind ihre Erwartungen erfüllt. Sie glauben, dass sie es aus Liebe tun. In Wahrheit jedoch steckt Angst dahinter:
Elterliche Geborgenheit könne schnell in einen Würgegriff umschlagen, schreibt Schiffer, “wenn die Eltern aus eigener Not heraus nicht mehr die Bedürfnisse und Interessen ihres Kindes im Auge haben, sondern vorwiegend ihre eigene Angst in Schach halten".
Leistung als magisches Mittel gegen die Angst
Das Heilmittel, das unsere Gesellschaft für diese Angst erfunden hat, heißt Leistung. Solange man nur hart genug arbeitet, wird man nicht untergehen.
“Leistung als magisches Mittel gegen Angst wird heute schon von Kindern eingefordert”, schreibt Schiffer. “Und ebendies bedeutet eine erhebliche Einschränkung der Autonomie und des eigenen Weges.”
Kinder, die nicht selbst bestimmen, nicht selbst ihre Umwelt entdecken und erleben, nicht ihren eigenen Interessen in ihrem eigenen Tempo folgen dürfen, verlieren ihren Eigensinn.
Dröhnungen gegen die Langeweile
Der Verlust des Eigensinns bleibt jedoch nicht ohne Folgen:
“Wenn Erwachsene die Fähigkeit, sich in tagträumerischer Weise von ihrer Umwelt ansprechen zu lassen und so stöbernd, stutzend, und staunend innerlich viel zu erleben, verloren bzw. nicht ausreichend erworben haben, dann verlieren sie einen Teil ihres Eigensinns. Un diesem Augenblick sind sie auf Mittel, Medien, ‘Dröhnungen’ angewiesen, um etwas zu erleben.”
Was Kinder also viel mehr brauchen als gute Zeugnisse und gradlinige Lebensläufe sind Freiräume. Platz für Abenteuer, Räume zur Selbstentfaltung. Und die Chance, auch mal scheitern zu dürfen.