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Erythrophobie: Mein Leben mit der panischen Angst, rot zu werden

Foto: Amelia Alpaugh; Artwork: Ira Bolsinger.
Hand aufs Herz: Fragt ihr euch auch häufig, warum ihr so schnell errötet? Meidet ihr deswegen Situationen, in denen ihr möglicherweise rot werden könntet? Findet ihr das auch so wahnsinnig unangenehm? Dann herzlich Willkommen im erstaunlich großen Club der Menschen mit Erythrophobie, der panischen Angst zu Erröten! Studien gehen davon aus, dass etwa fünf bis sieben Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens mit dieser Angststörung konfrontiert sind, das wären in allein Deutschland immerhin 5.698.700 Menschen.
Alles fing bei mir mit der Einschulung an. Ich war bis dahin ein ziemlich mutiges und draufgängerisches Kind ohne soziale Ängste. Aber irgendwas beunruhigte mich bei dem Gedanken, mit Schuleintritt meinen Status als Draufgängerin verlieren zu können. Vielleicht war es die Angst, den eigenen Ansprüchen nicht mehr zu genügen. Ich erinnere mich an schlimme Alpträume: Ich stehe vor der gesamten Klasse, exponiert mit meinem wursthaften Charakter. Das Mädchen, das immer alle für so mutig hielten, gebrochen durch die eigenen Ängste. Ich befürchte, hier begann meine Reise ins Land der tomatenroten Gesichter, die bis heute anhält.
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Erst durch intensives Zureden, ließ ich mich beruhigen. Es war ein Kampf von geradezu epischer Dimension.

Am Tag der Anmeldung in der neuen Schule sollte ich meine Mutter begleiten. Ich hatte bitterliche Angst und traute mich nicht, sie zu äußern. Bei anderen tat ich cool. Meine Mutter bemerkte es spätestens, als ich mich auf dem Schulparkplatz panisch an die Autotür klammerte. Erst durch intensives Zureden, ließ ich mich beruhigen – nur um mich zwei Sekunden später wieder wie eine Besessene am Auto festzuklammern. Es war ein Kampf von geradezu epischer Dimension. Nach einigen Sekunden gewann ich ihn erneut und folgte Mutter zuversichtlich ins Sekretariat. Ich war allerdings total verheult, was dazu führte, dass sich alle Anwesenden besonders lieb um mich kümmerten. Die Extrazuwendung war mir unglaublich peinlich.
Sogar der Schuldirektor kam aus seinem Büro und sagte mit tiefer Stimme, er habe die Parkplatzsituation von seinem Fenster aus beobachtet. Schock! Ich erinnere mich, wie ich feuerrot wurde. Der Direktor hatte meine Angst gesehen. Die anderen Kinder waren mutiger und das wussten jetzt alle. Danach hatte ich eine Art Blackout. Ich weiß noch, dass ich danach sehr lange geschlafen habe. Das war er also, mein erster Auftritt, genau wie ich ihn mir vorher ausgemalt hatte.
Experten glauben, dass hinter der Angst vor dem Erröten häufig die Angst steckt, negative Eigenschaften zugeschrieben zu bekommen. Dabei gehen Betroffene davon aus, dass ihnen ihr Gegenüber Schüchternheit, Nervosität, fehlende Selbstsicherheit, mangelnde Kompetenz oder gar eine Lüge unterstellt. Dabei hat man herausgefunden, dass Außenstehende es meist gar nicht mitbekommen, wenn die Menschen mit Erythrophobie glauben, dass ihr Schädel für alle Welt sichtbar glüht. In der Regel hält Rötung kaum länger als 5-10 Minuten an. Wenn man zum Beispiel einen Vortrag hält, kann man sich damit trösten, zum Ende hin nicht mehr rot zu sein. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen dazu neigen, Leute mit rotem Kopf für besonders sympathisch zu halten. Es sollte also alles kein großes Problem sein. Ist es aber.
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Die meisten Menschen neigen dazu, Leute mit rotem Kopf für besonders sympathisch zu halten. Es sollte also alles kein großes Problem sein. Ist es aber.

Das Krankheitsbild der Erythrophobie ist einfach zu beschreiben: Neben einem gefühlten oder tatsächlichen Erröten des Gesichts, kommt es zu einer spürbaren Erhöhung des Herzschlags, vermehrtem Schwitzen, Zittern, sowie Heiserkeit oder einem Kloß im Hals. Außerdem können Brustschmerzen und Unwohlsein in der Magengegend auftreten. Bei schwerwiegenden Fällen kann es zu Depersonalisierung oder Derealisation kommen. Dabei wird die eigene Person als fremd wahrgenommen und man fühlt sich wie sein eigener Beobachter.
Man geht davon aus, dass ein gewisser Charles Darwin sich als erster mit dem leidigen Thema des Errötens beschäftigt hat. Ja, das ist der Typ mit den Finken, über die ich in der Schule ironischerweise mal ein Referat halten musste, bei dem ich hochrot wurde und mir nachher Wasser über mein T-Shirt gekippt habe, damit niemand sehen konnte, das mein Achselbereich vor Angst schweißnass war. So wirkte es eher wie ein Unfall beim Trinken.
“Darwin vermutete, dass wir erröten, wenn wir glauben, wir ständen im alleinigen Fokus der anderen. Insbesondere wenn wir annehmen, dass sie uns beurteilen oder kritisieren. Darwin beobachtete außerdem, dass Erröten von den Emotionen Scham, Schuld, Bescheidenheit und Schüchternheit begleitet wird. Aber da blieb mir eine Frage: ‘Warum wird dann mein Gesicht so rot, dass es jeder sehen kann? Wäre es nicht ausreichend Scham, Schuld und Schüchternheit nur zu fühlen? Warum muss es gleich für alle Welt sichtbar sein?’”
(Richard J O'Neill)
Heute glaubt man, dass manche Menschen mit einem hypersensitiven sympathischen Nervensystem geboren werden. Bei körperlicher Anstrengung oder intensiven Gefühlen kommt es zu einem Anstieg des Blutdrucks, in dessen Folge die Körpertemperatur ansteigt. Um diesem Anstieg entgegenzuwirken, reguliert das sympathische Nervensystem unter anderem den Durchmesser der Blutgefäße, zum Beispiel im Gesicht. Ist das System aktiviert, wird das Gesicht mehr durchblutet und wirkt dadurch rot. Die Reizschwelle für die Aktivierung fällt dabei höchst individuell aus und verändert sich im Laufe des Lebens mit jeder neuen Erfahrung.
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Bei mir setzt das Erröten bereits in den kleinsten Situationen ein und ich kann mich dabei wie ein jagender Habicht äußerst detailreich beobachten – was die ganze Sache nicht unbedingt angenehmer gestaltet. Wenn mich auf der Straße jemand zu lange anguckt; wenn ich merke, dass mich jemand bei einer Sache beobachtet; wenn ich an der Kasse ein paar Sekunden zu lange brauche, um das Kleingeld parat zu haben. Und am schlimmsten sind natürlich Auftritte vor Publikum, von denen ich nur allerdings nur hypothetisch sprechen kann, weil ich diese Auftritte seit der Uni aus Angst vor dem Erröten konsequent gemieden habe.
Der Ablauf ist dabei immer gleich: Ich gerate in eine subjektive Stresssituation, die dann mein vegetatives Nervensystem an seine Grenzen treibt. In meinem Kopf habe ich diese Situation schon hunderte Male durchgespielt und habe etliche Strategien, wie ich sie zu meiden. Aber wenn ich von ihr überrascht werde, ist es jedes verdammte Mal noch schlimmer als im Vorfeld angenommen. Ich komme mir wie Hochstapler vor, inkompetent und enttarnt. Wie die kleine Wurst in der Grundschule. Boom! Dann überkommt mich die Angst, dass alle Anwesenden sich für immer von mir abwenden, denn eigentlich ist es die Angst vor dem Alleinsein, wie ich inzwischen dank dieses TED Talks weiß. In dem wird erklärt, wie Scham funktioniert. Scham ist eigentlich die Angst vor dem Ausschluss aus einer sozialen Gruppe. Es ist die Angst vor dem Disconnect. Es geht dabei immer um Kontrolle und die Furcht nicht beeinflussen zu können, wie man von anderen bewertet wird. Diese Erfahrung macht hilflos und lässt Betroffene verunsichert zurück. Je öfter und je intensiver solche Erlebnisse stattfinden und verinnerlicht werden, desto niedriger sinkt die Reizschwelle und man wird puterrot.
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Die Angst zu Erröten hat mich mein Leben lang daran gehindert, an bestimmten sozialen Situationen teilzunehmen, obwohl ich recht meinungsstark und unterhaltsam sein kann. Ich wurde zum Beispiel im Unterricht immer wieder ungewollt aufgerufen oder musste Referate halten. Mit dem Resultat, dass ich natürlich jedes Mal aufs Neue schrecklich rot wurde und mich dann nur noch auf mein Erröten konzentriert habe. Was bei den Referaten herauskam, war dann natürlich totaler Stuss. Ich hatte allerdings das Glück, nie unbeliebt gewesen zu sein, dennoch konnte ich meinen Mitschülern anmerken, dass sie mein Erröten bemerkten. Sie machten aber nie Witze, doch die Tatsache, dass ich merkte, dass sie es merkten, war schlimm genug. In der Abi-Zeitung, in der Schüler anonym Gedanken zu Mitschülern äußern konnten, tauchte es dann doch unter meinem Namen auf.
Die Tomate.
Rot-Weiß-Ada.
Wann platzt ihr Kopf?
Drei von 120 Mitschülern assoziierten das Erröten mit mir. Die 117 anderen haben offenbar positivere Eigenschaften mit mir verbunden. Ich spürte den Disconnect trotz des Versuches einer rationalen Einordnung. Angst ist eben eine fiese Sau!
Es gibt für Betroffene allerdings gute und schlechte Nachrichten. Die schlechte zuerst: Das vegetative Nervensystem lernt mit jeder Situation, in der man errötet, dass tatsächlich eine Angstsituation vorgelegen hat, in der es evolutionär von Vorteil gewesen ist, zu rot zu werden und ruft diesen Lernerfolg dann in Zukunft bei ähnlichen Situationen immer wieder ab. Scheiße! Aber das Gute bist, dass mit dieser Erkenntnis aber wunderbar arbeiten lässt, zum Beispiel im Rahmen einer Verhaltenstherapie.
Vielleicht wäre das eine Option, aber momentan habe ich meinen Alltag so arrangiert, dass ich Situationen, in denen ich vor Menschen etwas tun muss, strikt meide. Dann und wann schleichen sich zwar Situationen ein, die schon im Vorfeld nach Kontrollverlust schreien, aber die umgehe ich dann, wie mein sieben Jahre altes Ich.
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Schade, denn vielleicht würde ich sonst manchmal bei „Markus Lanz“ abhängen, hätte meinen Roman auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt oder würde im Bundestag sitzen. So hadere ich allerdings immer noch mit einer Angst, die mich ausbremst und werde schon bei dem Gedanken daran rot, dass es jetzt alle wissen.
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